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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1440–1441

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag des Zentrums für Mission in der Region hrsg. v. Ch. Ebert u. H.-H. Pompe in Zusammenarbeit m. M. Alex, J. Kleemann, H. Hempelmann, D. Hörsch u. Th. Schlegel.

Titel/Untertitel:

Handbuch Kirche und Regionalentwicklung. Region – Kooperation – Mission.

Verlag:

Evangelische Verlagsanstalt 2014. 528 S. m. Abb. = Kirche im Aufbruch, 11. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-374-03888-6.

Rezensent:

Jan Hermelink

Unter den drei Arbeitszentren, die die EKD im Zuge ihres »Reformprozesses« 2009 gegründet hat, war und ist das »Zentrum für Mission in der Region« (ZMiR) gewiss am stärksten umstritten – schon sein Titel markiert eine zunächst ungewohnte Erweiterung des Missions- und eine ebenso ungewohnte Aufwertung des Regionsbegriffs. Dazu hat das Zentrum zwei, ja eigentlich drei Standorte (Stuttgart, Dortmund, dazu auch Mitarbeiter in Greifswald) und überdies sehr unterschiedliche Frömmigkeits- und Interessengruppen zu verbinden. Auf diese Anforderungen hat das ZMiR zum einen mit der Initiierung und Auswertung zahlreicher »regionaler Pilotprojekte« (5 u. ö.) reagiert und zum anderen mit einer ganzen Fülle von Veröffentlichungen, die teils ganz praktisch, teils auch programmatisch ausgerichtet sind – vgl. die Übersicht unter http://www.zmir.de/material-angebote/.
Das vorliegende Handbuch, das die Mitarbeitenden des ZMiR gemeinsam verfasst haben, soll nun »die Ergebnisse und Erkenntnisse zum Arbeitsgebiet ›Region‹« zusammenfassen und damit auch »der Auftraggeberin EKD Rechenschaft geben über einen Schlüsselbegriff unserer Arbeit« (17). Es richtet sich an alle, »denen statt Kirchturmdenken der Zusammenhang und die gemeinsamen Wirkungen der lokalen, funktionalen und regionalen Ebenen un­sere Kirchen am Herzen liegen«, und will ihnen »eine komprimierte Grundlage sowie ein[en] Werkzeugkasten für regionales Denken im kirchlichen Kontext an die Hand« geben (ebd.). Das Handbuch, bestehend aus über 90 oft sehr knappen Beiträgen in 13 Kapiteln, verfolgt demnach ein sehr klares, auch kritisches Programm, das einerseits durch diverse Grundlagenbeiträge und andererseits durch Praxisartikel konkretisiert wird.
Das Programm, besonders klar erkennbar in den Artikeln »Konsequenzen für eine Kirche in der Region« (101–103) und »Kirche in der Region aus lebensweltlicher Perspektive« (165–172), beide von dem systematischen Theologen H. Hempelmann verfasst, zielt auf eine inhaltliche wie strukturelle Aufwertung »regionaler« Handlungsfelder und Kooperationen, die die »parochiale Selbstgenügsamkeit« (431 ff.) überwinden, die »Milieuverengung« der orts- wie vereinsgemeindlichen Strukturen aufbrechen und damit die missionarische Ausrichtung der Kirche in der modernen, vielfach pluralisierten Gesellschaft allererst realistisch, nämlich vielgestaltig und zugleich »biblisch-theologisch« begründet realisieren soll.
Die theoretischen Grundlagen dieses Programms der Regionalentwicklung werden vor allem in den ersten fünf Kapiteln des Handbuchs skizziert, die die »Gestalten von Kirche in Bibel und geschichtlicher Entwicklung« (21 ff.), »Gesellschaft, Kirche und Region« (47 ff.), »Region und Parochie« (117 ff.), »Ekklesiologie für die Region« (141 ff.) und das »regionale Netz des Evangeliums« (175 ff., hier geht es vor allem um die sogenannten »fresh expressions of church«) thematisieren. In immer neuen Anläufen wird nachzuweisen versucht, dass Sozial- und Organisationsgestalten der Kirche von Anfang an höchst vielfältig waren und daher die gegenwärtige Hochschätzung der »Parochie« (das Wort »Ortsgemeinde« fällt selten) historisch wie auch sachlich ganz unangemessen ist. Anders orientierte Positionen wie etwa die von Isolde Karle werden denn auch an keiner Stelle erwähnt. – Ein zweiter Schwerpunkt der Argumentation kreist um die bekannten SINUS-Milieus, von denen die »traditionelle Kirche« nurmehr wenige erreiche. Nur eine Vielfalt kirchlicher Gestalten, eine Verbindung von »alten« und »neuen« Sozialformen könne Anschluss an die pluralen Lebens- und Erfahrungswelten der Gegenwart, auch an »Megatrends« wie Individualisierung, Digitalisierung, Mobilisierung u. a. ermöglichen (65 ff.).
Als »missionarische Volkskirche« kann »Landeskirche«, so lautet eine Spitzenformulierung, dann nicht allein traditionell-parochial oder »evangelikal/neupietistisch/charismatisch« profiliert sein, sondern muss damit rechnen, »dass sich für viele Menschen der Prozess der Annäherung an Gott, Glaube, Gemeinde in Sprüngen und Brüchen, […] in Phasen der Näherung, aber auch solchen der Distanzierung, […] im Regelfall auf Zeit und nicht auf Dauer vollzieht« (203 f.). Die Vielfalt kirchlicher »Beziehungen« dies- und jenseits formaler Mitgliedschaft (342 ff.), auch die Vielfalt »ekklesialer Formate« (203 ff.) kann weder »vor Ort« noch in der Gruppe, sondern am ehesten im Zuge eines regionalen Entwicklungsprozesses verwirklicht werden. In dieser doppelten Frontstellung gegen die Dominanz des »parochialen Denkens« einerseits und die evangelikale Verabsolutierung dichter Gemeinschaften andererseits liegt wohl die eigentliche Intention der Grundlagenteile.
Im zweiten Teil des Handbuchs findet sich dann eine Art praktisches Kompendium, das in zahlreichen, oft sehr knappen Artikeln das »Gestalten«, das »Beteiligen«, das »Leiten« und »Motivieren« in der Regionalentwicklung thematisiert, dazu den Umgang mit »Belas­tungen«, »Widerständen« und »Konkurrieren«. Hierzu werden je­weils alle nur denkbaren Themen, oft schlagwortartig oder in Form kommentierter Listen, angesprochen, wenn auch selten vertieft. Im Ganzen zielen die Beiträge darauf, das seit Jahrzehnten gewachsene Methodenwissen der Gemeindeberatung/Organisationsentwicklung und des Change Management durch die häufige Nennung von Schlagwörtern wie »missionarisch«, »geistlich«, oder »Charismen« mit dem evangelikalen Spektrum des innerkirchlichen Reformdiskurses zu vermitteln und damit – nunmehr auf der Ebene der »Region« – zur Integration differenter Frömmigkeitswelten beizutragen.
Liest man das Handbuch in dieser Weise als ein vor allem kirchenpolitisch ausgerichtetes Werk, dann erklärt sich die oft nur geringe theologische Durcharbeitung, dazu vielleicht auch der Verzicht auf die Klärung der zentralen Begriffe »Mission« und »Region«. Letztere wird wiederholt als »mehrdimensionaler Handlungs-, Gestaltungs-, Beziehungs- und Identitätsraum« bezeichnet (40 u. ö.) und damit programmatisch für ganz verschiedene, auch divergente Interpretationen anschlussfähig gehalten.
Bedauerlicher als diese theoretische Zurückhaltung – »von Praktikern für Praktiker«, so wirbt und beschwichtigt Thies Gundlach in einem Geleitwort (14) – ist der gänzliche Verzicht darauf, das kybernetische Programm nun auch an einzelnen kirchlichen Handlungsfeldern durchzubuchstabieren. Was »Regionalentwicklung« etwa für das gottesdienstliche Handeln, die Bildungsarbeit, die Seelsorge oder die Diakonie heißen könnte, das wird – obwohl es dazu ja viele Ansätze gibt – kaum oder gar nicht zum Thema gemacht. Auch die wichtige Frage nach den Akteuren jenes regionalen Handelns wird nur sehr knapp (267 ff. zum Ehrenamt; 282–287 zu »kirchlichen Berufsbildern«) und – angesichts der heftigen kirchlichen und praktisch-theologischen Debatten – doch recht unbedarft bearbeitet.
Am erstaunlichsten aber wirkt es, dass die zahlreichen »regionalen Pilotprojekte«, in denen das ZMiR seine Einsichten gewonnen, entwickelt und bewährt hat, an kaum einer Stelle konkrete Erwähnung oder gar anschauliche Entfaltung finden. Ist die kirchliche Praxis, ist auch die Praxis der Regionalentwicklung vielleicht doch komplexer und widersprüchlicher, als es dieses Kompendium der »Kirche im Aufbruch« zu erkennen geben kann?