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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1437–1439

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wild, Gerhard

Titel/Untertitel:

Teildienst im Pfarrberuf. Seine Auswirkungen auf das pastorale Berufsbild am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 243 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03037-8.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bölts, Stefan, u. Wolfgang Nethöfel [Hrsg.]: Pfarrberuf heute. Befragungen und Studien zum Pfarrberuf. Berlin: EB-Verlag 2010. 374 S. m. zahlr. Abb. u. Tab. = Netzwerk Kirche, 5. EUR 26,80. ISBN 978-3-86893-029-0.


Der Pfarrberuf ist ein Reformthema (Überblick in: N. Schneider, V. A. Lehnert, Berufen wozu? Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. 2011). In der Befragung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers kommen nun die Pfarrpersonen selbst zu Wort.
Der erste Teil des von Stefan Bölts und Wolfgang Nethöfel herausgegebenen Bandes bietet eine Grundlegung des Pfarrberufes als Reformthema. Konstatiert wird eine »Entmythologisierung des Pfarrberufes«, dessen besondere Rolle im »darstellenden Handeln« (9) bestehe. Eine »vorneuzeitliche, letztlich archaische Resakralisierung« ist zu vermeiden. Dem müsse ein »Mündigwerden der Ehrenamtlichen im Kirchenvorstand entsprechen« (12). Im Rahmen des Reformprozesses behalte der Pfarrberuf aber seine Sonderrolle. Begriffe wie »Schlüsselberuf« befördern dies.
Der zweite Teil stellt die Befragung sowie das zugrundeliegende Arbeitsbuch dar, das 2005 in den Pfarrkonventen diskutiert wurde. Die Auswertung der Rückmeldungen durch das SWI bildete die Grundlage für eine Tagung in Loccum, auf der vier Thesen entstanden: 1. Die Zuweisung von Dienstwohnungen muss flexibler werden. 2. Die Arbeitszeit muss transparenter werden. 3. Regionalisierung und Zielvereinbarungen für den Dienst müssen entwi-ckelt werden. 4. Individuelle Potenziale sollen besser eingesetzt werden. Im Hauptteil (45–118) stellt M. Kronast Befragung und Ergebnisse dar: Bezüglich ihres Selbstbildes geben 61 % der Befragten »Seelsorger/in« an. Als Missionar/in verstehen sich 6,5 %. Orientierung finden 68,1 % am eigenen Glauben und 63 % am eigenen Berufsverständnis sowie (!) am Evangelium. Leistungsdruck ist demnach auch subjektiv bedingt. Übergemeindlicher Pfarrdienst wird als weniger stressvoll erlebt als gemeindlicher. Daraus folgt die Notwendigkeit, den Gemeindedienst in eine überschaubarere Arbeitsstruktur zu überführen. Mit großer Einmütigkeit be­schreibt die Pfarrerschaft den Menschen zugewandte Tätigkeiten wie Gottesdienst, Seelsorge und Kasualien als Kernaufgaben, nicht aber Institutionelles wie Verwaltung und Leitung. Die durchschnittliche Arbeitszeit beträgt 55,7 Stunden. 54,8 % wünschen sich eine Arbeitszeitregelung, 29 % einen Überstundenausgleich. Unter positiver Leitung verstehen die meisten »Wertschätzung und Unterstützung« (90). Die Frage der Regionalisierung polarisiert. Wer sich eher als Hirte versteht, plädiert für die Stärkung der Ge­meinden, wer sich mehr als Kommunikator versteht, möchte Re­gionalisierung fördern. Offensichtlich symbolisiert Regionalisierung die »Bedrohung der Interaktion durch die Organisation« (115). Mission und Evangelisation sind lediglich für 9,1 % der Pfarrerschaft wichtig. Steht hier »Mitgliederpflege« vor »Mitgliedergewinnung«? (107) 41,5 % wünschen sich künftig eine »theologisch be­gründete Prioritätensetzung«.
Im dritten Teil präsentiert P.-A. Ahrens eine Auswertung. Die breiteste Diskussion löste die Frage nach dem Pfarrhaus aus. Die Mehrheit fordert eine »Lockerung« oder die »gänzliche Abschaffung der Dienstwohnungspflicht« (180).
Im vierten Teil fragen Bölts und andere in einem hochinteressanten Beitrag nach dienstrechtlich relevanten Motivationsfaktoren und empfehlen ein strukturiertes System von Rückmeldung und Wertschätzung, das den gesamten Bereich von Personalentwicklung inklusive Prämien, Besoldungsanhebung, vorgezogene Durchstufung und Ähnliches umfasst.
Der fünfte Teil bietet weitere Aspekte. J. Hermelink markiert in »Von der Kirche des Wortes zur Kirche der Selbstbefragung« (295–311) die Grenzen der Befragung. Diakone und Prädikanten sind nicht im Blick, wodurch sich der Pfarrberuf »binnenorientiert« auslegt (299). Bedenklicher ist, dass sich Kirche durch die Beschränkung der Befragung auf eine empirisch-sozialwissenschaftliche Perspektive selbst entlarvt, verzichtet sie doch hier auf »wissenschaftlich-theologische Stützung […] ist in hochkomplexen Selbstdeutungsprozessen befangen […] kommt faktisch ohne das Gegenüber des Wortes, der theologischen Lehre, auch der theologischen Reflexion aus« (300). Beiträge zu Mitarbeiterbefragungen, Pfarrbildern und Reformstress runden den Band ab.
Das Buch hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Es informiert hervorragend über die Befragung und zeichnet ein Selbstbild der Pfarrerschaft. Gleichzeitig belegt es eine theologische Verarmung der Diskussion: Ist Verkündigung wirklich nur ›darstellendes Handeln‹? Ist die Frage nach dem Pfarrhaus lediglich unter dem Aspekt ›Dienstwohnungspflicht‹ abzuhandeln? Und darf »Evangelisieren« als zentraler neutestamentlicher Auftrag (Apg 8,35; Röm 8,14 ff.) wirklich nur 9,1 % der Pfarrerschaft wichtig sein?
Ist der Pfarrberuf teilbar oder nicht? Dieser Frage widmet sich Gerhard Wild in seiner Neuendettelsauer Dissertation. Nach einer Einführung in die Methodik skizziert er die Geschichte des Teildienstes in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: 1986 wurde ohne theologische Grundlagendiskussion ein Erprobungsgesetz eingeführt, das Theologenehepaare zum Teildienst verpflichtete. Den Hintergrund bildete allein die hohe Bewerberzahl. Das Problem: Der Dienst ist teilbar, die Ordination aber nicht. Dies korrespondiert mit dem Phänomen der »Aura der Überarbeitung als Markenzeichen des Pfarrdienstes« (48). Wenn aber Nichtabgrenzung dem ganzen Berufsbild schadet, steckt dann in der Abgrenzung eine Chance? 2009 hat der Verwaltungsgerichtshof der VELKD die Zwangsstellenteilung für Ehepaare für unrechtmäßig erklärt. Die pastoraltheologische Reflexion bleibt weiterhin Aufgabe. Zwei Leitmotive begleiten die Arbeit: das Modell ›Paulus, der Zeltmacher‹, sowie 2Kor 1,24: »Wir sind Gehilfen eurer Freude«. Den Kern der Untersuchung bilden sieben Porträts von Pfarrpersonen in unterschiedlichen Teildienstkonstellationen sowie ein Selbstporträt des Vf.s. Sie werden als »Bilder einer Ausstellung« abgeschritten:
1. Ein stellenteilendes Ehepaar im offenen Pfarrhaus im Dorf. Die Pfarrfrau ist selbst Pfarrerin. Hier ist Rollenklärung die höchste Herausforderung.
2. Teildienst in einer wohlorganisierten Stadtgemeinde. Der Ehepartner geht einem anderen Beruf nach. Hier befreit der Teildienst von Allmachtsphantasien. Das abwechselnde Stimmrecht der Teildienstpartner ist problematisch. Der Teildienst funktioniert hier, weil eine freie Entscheidung dahintersteht.
3. Glück im Teildienst. Ein Ehepaar kommt in die Krise, als der Mann auf eine ganze Stelle wechselte, die zweite Hälfte der ehemaligen gemeinsamen Stelle aber nicht vertreten wird, wodurch die Balance in Unwucht gerät.
4. Herausforderung zweier Berufe. Eine Pfarrerin ist zur Hälfte freiberufliche Heilpraktikerin. Das kommt dem Zeltmachermodell näher. Sie kann mehrere Facetten ihrer Persönlichkeit realisieren. Teildienst ist kein Defizitmodell mehr.
5. Senior und Junior. Ein älterer Pfarrer reduziert seine Stelle. Der Dienst gewinnt an Struktur und Qualität. Arbeitszeit und Privatzeit werden zueinander abgrenzbar. Plötzlich hat er Zeit. Er gewinnt spirituelle und kreative Energie. Sein Dienst wird unerwartet zur qualitativen Anfrage an den Volldienst.
6. Teildienst im Leitungsamt. Zwei Ehepaare teilen sich ein Dekan- bzw. Bischofsamt. Geteilte Leitung ist möglich.
7. Gemeinsame Entwicklung. Ein Ehepaar realisiert ein Wochenmodell. Zeitstruktur ist alles. Arbeit und Privatleben stehen in einem ausgewogenen Verhältnis. Amt und Ordination werden geteilt und doch ganz gelebt: »Zeit als pastorale Qualität ist dauerhaft vorhanden, Zeit als linear messbare Kategorie, also Uhrzeit, bedarf der Struktur und der Begrenzung« (170).
8. Selbstporträt. Halbe Pfarrstelle und Dissertation.
Der Vf. verteidigt die berufliche Freiheit und die »Eigenverantwortung der Amtsinhaber« (194) und folgt darin Isolde Karles These, das Pfarramt entziehe sich der »organisatorischen Bemächtigung« (ebd.). Aber wie soll die Fülle seiner Erträge relevant werden, wenn die Realisierung alleine der Eigenverantwortlichkeit der Pfarrperson obliegt? Dies bleibt eine offene Frage, zu der die Untersuchung wichtige Sachaspekte, aber keine wirklichen Lösungsvorschläge beisteuert. Im Gegenteil, die Diskussion »um Stundenzahlen im Volldienst« wird ausdrücklich verweigert.
Der letzte Teil bündelt Erträge. Positive: z. B. Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Verzicht auf Macht, vielfältige Persönlichkeitsentfaltung, gemeinsame Arbeit von Paaren, mehrere berufliche Standbeine, biographische Flexibilität. Belastende: z. B. Konkurrenz, Rechtfertigungsdruck, Einsamkeit im Zweitberuf, übermäßige Belastung, Gefährdung der Ehen. Der Vf. schließt mit einer Verortung des Pfarramtes im Priestertum aller Gläubigen und der damit verbundenen Reduktion eines überhöhten Verständnisses des Pfarrberufes: »Teildienst oder Volldienst beschreiben nicht ein Mehr oder Weniger an Präsenz des Evangeliums« (219). Es ist daher möglich, »auf einer halben Stelle ganzer Pfarrer zu sein, ohne sich ganz aufreiben zu lassen« (208). Dies ist der Hauptertrag der Arbeit. Die offene Frage aber bleibt: Reicht der Appell an die Eigenverantwortung der Pfarrperson oder müssten die wertvollen Beobachtungen dieser Dissertation nicht doch auf ihre Relevanz für die künftige Gestaltung des Pfarrdienstrechts hin ausgewertet werden?