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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1433–1436

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911. Hrsg. v. W. Schluchter in Zusammenarbeit m. U. Bube.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIX, 994 S. = Max Weber-Gesamtausgabe, I/9. Lw. EUR 389,00. ISBN 978-3-16-153133-0.

Rezensent:

Hartmann Tyrell

Max Webers Protestantische Ethik – die »Weber-These« vom genealogischen Zusammenhang zwischen »asketischem Protestantismus« und modernem Kapitalismus – ist umstellt von Gebirgen der kritischen und antikritischen Sekundärliteratur. Seit mehr als 100 Jahren türmen sich diese Gebirge von Jahrzehnt zu Jahrzehnt höher auf, und ein Ende des Höhenwachstums will sich den wiederholten Schlusswortversuchen zum Trotz nicht abzeichnen. In dieser Situation will es etwas heißen, wenn der Ursprungstext, erweitert um den frühesten Schlagabtausch von »Kritiken und Antikritiken«, neu und in einem Gewande erscheint, das er fürderhin wohl nicht mehr ablegen wird. Es ist das blaue Gewand der Max Weber-Gesamtausgabe, das den Text ummantelt mit einer Einleitung und einer üppigen Reihe von Verzeichnissen, vor allem dem der von Weber benutzten Literatur.
Der (wie es bei Weber immer heißt) Aufsatz »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus« (im Weiteren: PE) erschien in seiner ersten Fassung zweigeteilt im Herbst 1904 sowie im Sommer 1905; der Erscheinungsort: das seit 1904 erscheinende und von Weber selbst mit herausgegebene Archiv für Sozialwissenschaft- und Sozialpolitik. Der editorischen Berichterstattung ist nun zu entnehmen, dass der Weg des Manuskripts in den Druck – mit beständigen Korrekturen der Korrekturen – nicht nur dem Autor selbst eine Qual war; man bedenke die Unzahl der Fußnoten und Webers schwer leserliche Handschrift, zudem seine Neigung zu ständigem Nachbessern und Ändern, auch zum Nachschieben von Fußnoten. So möchte man fast vermuten, dass (auch) die zweimalige qualvolle Erfahrung der Drucklegung damit zu tun hat, dass Weber in den Folgejahren den energischen Schritt dahin nicht mehr tat, sein Werk zum Abschluss zu bringen, nämlich die im Teil II. allenthalben angekündigte »noch fehlende größere Hälfte« des Aufsatzes niederzuschreiben (229). Jedenfalls findet sich in Webers Œuvre kein späterer Text, der ähnlich quellennah und fußnotenintensiv – »an fremde (theologische und historische) Arbeiten angelehnt« (425, Anm. 86) – gearbeitet ist wie die PE; dies mit der Ausnahme der im letzten Lebensjahr überarbeiteten Fassung des Aufsatzes: er­schienen im Band I. von Gesammelte Aufsätze zur Religionssozio-l-ogie (1920). Im Rahmen der Max Weber-Gesamtausgabe ist uns diese Fassung der PE als Band I/18 angekündigt.
Was enthält der nun endlich publizierte Band I/9? Er enthält die Weberschen Protestantismusarbeiten der Jahre von 1904 bis 1911 (88 f.). Den Anfang machen die PE I. und II., wobei beiden Teilen (wie auch allen folgenden Texten) ein gesonderter ›Editorischer Bericht‹ vorangestellt ist. Eingeschoben ist zwischen beide das von Weber selbst verfasste Protokoll eines Vortrags, den er am 05.02.1905 im eigenen Hause bei einer Zusammenkunft des Heidelberger »Eranos«-Kreises hielt. Der Vortrag mit dem Titel »Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben« skizzierte das Vorhaben des zweiten Teils des Aufsatzes, und das Protokoll präsentiert es in kondensierter Form. Der PE folgt in MWG I/9 der Sektenaufsatz von 1906, ein zweiteiliger Text, der beides bieten will: Eindrü-cke und Beobachtungen von der Amerikareise des Jahres 1904 und systematisch-vergleichende Überlegungen zu Fragen der Kirchenverfassung; der Titel: »›Kirchen‹ und ›Sekten‹ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze«, erschienen zunächst in der Frankfurter Zeitung, dann etwas erweitert in Die Christliche Welt.
Die Aufgabe der Herausgeber war es sodann, jene (frühesten) Streitigkeiten um die PE zu dokumentieren, die 1907 einsetzten und mit Webers »Antikritischem Schlußwort« von 1910 erst einmal endeten. Es geht um Webers vier ›Antikritiken‹, also seine durchweg schroffe Auseinandersetzung mit den Kritikern H. Karl Fischer und Felix Rachfahl. Da Weber jeweils antwortet, war es unvermeidlich, die Kritik, auf die er jeweils reagiert, mit abzudrucken; die Herausgeber tun das, indem sie die je zwei Kritiken Fischers und Rachfahls den Weberschen Antikritiken in Petit voranstellen. Das ergibt indes, wie auch der Herausgeber betont, kein komplettes Bild der Streitigkeiten, weil Rachfahl sehr zum Verdruss Webers auch Ernst Troeltsch in die Debatte hineingezogen hatte und er sich als Streiter gegen ein Heidelberger Kollektiv verstand. Was aber die Weberschen Schroffheiten angeht, so haben sie auch mit dem Handicap der Unabgeschlossenheit des Aufsatzes zu tun; ausdrücklich räumt Weber etwa ein: »Mein Herr Kritiker hatte das volle Recht, zu sagen: die Gegenprobe und nähere Interpretation, die versprochen ist, fehlt bisher.« (506, Anm. 3) Den Abschluss des Bandes bilden zwei Diskussionsbeiträge Webers, die den Debatten des Ersten Deutschen Soziologentages (Frankfurt a. M. 1910) zugehören. Sie schließen an Troeltschs dortigen Naturrechtsvortrag an und dokumentieren eine enorme Ausweitung des religionssoziologischen Horizonts Max Webers, eine Ausweitung über die Protes­tantismusstudien hinaus.
Es kann hier nun nicht um die neuerliche Würdigung der We­ber-These selbst gehen; nur von den editorischen Anstrengungen soll die Rede sein, das Webersche Textgut in neuer Hülle zu präsentieren. Das macht zunächst ein kurzes Wort nötig zu der von Wolfgang Schluchter verfassten ›Einleitung‹. Dass es ein schwieriges Geschäft ist, in das hundertfach repetierte (und kritisierte) We­bersche Textgut (an wen adressiert?) ›einzuführen‹, versteht sich. Auch ist dem Werkgeschichtlichen bei Schluchter durchaus genüge getan. Darüber hinaus aber wirkt das Ganze blass und lustlos abgefasst. Nicht einmal die Leitunterscheidungen, anhand derer Weber seine These entfaltet, kommen angemessen zur Sprache; so bleibt die Unterscheidung von ›außer- und innerweltlicher Askese‹ unerwähnt. Und was die einleitenden Bemerkungen zum Sektenaufsatz angeht (68 ff.), so grenzen sie teilweise an Desinformation. Bei Schluchter ist nicht begriffen, dass der Sektenaufsatz Webers früheste systematisch-religionssoziologische (nicht: ›kulturgeschichtliche‹) Arbeit darstellt, nah an Fragen, wie sie seinerzeit auch Georg Simmel und Ferdinand Tönnies stellten. Was angesichts des enormen MWG-üblichen editorischen Aufwands besonders irritiert, ist dies: Webers weltberühmter Aufsatz ist, wie schon gesagt, Stückwerk geblieben; von erheblich mehr war, wobei Weber sich zierte, über Jahre hin zumal im Kontakt mit dem Verleger die Rede. Trotzdem macht nun auch Schluchters »Einleitung« keinerlei Anstrengung, wenigstens ansatzweise zu rekonstruieren, was Weber in der Sache über die Teile I. und II. der PE hinaus im Sinn hatte. Immerhin aber: Der Einleitung ist (ohne Vollständigkeitsanspruch) ein Anhang angefügt, der »Hinweise auf die geplante Fortführung« zusammenstellt (90 ff.).
Das entscheidend Neue aber und zugleich der bleibende Zugewinn, den MWG I/9 beschert, ist, dass der fußnotenreiche alte Text von 1904/5 jetzt ›Zuwachs bekommen hat‹, nämlich ›unterschichtet‹ ist mit ›Sacherläuterungen‹, die, wie es ganz bescheiden heißt, »der philologischen Aufschlüsselung des Werks« sowie als »Hilfe zur inhaltlichen Erschließung des Textes« dienen (121). Man darf aber angesichts dessen, dass hier jeder Stein umgedreht worden ist, sagen: Der Webersche Text war dieses Kontrollgangs bedürftig, der Forschung ist bleibend gedient und dem Leser im Aufschlüsse-lungssinne vielfältig geholfen. Jedenfalls übertreffen der Reichtum und die Gründlichkeit dieser Sacherläuterungen, die genaue Re­cherche und ihre präzise Ausformulierung alles, was hier an We­berphilologie und -exegese bislang zu haben war. Die Kommentierung ist dabei streckenweise eine von Satz zu Satz, ja teils dichter noch. Die Quellen des 16. und 17. Jh.s sind ebenso ins Licht gerückt wie die von Weber vielfältig zugezogene theologische Literatur des 19. Jh.s. Zu danken ist dies alles der theologisch-historischen Mitarbeit von Ursula Bube, deren Spurensuche bis hin zu den von Weber bleistiftfreudig benutzten Büchern in den Beständen der Heidelberger Universitätsbibliothek führte. Schluchter als Herausgeber von MWG I/9 dankt ihr zu Recht.
Es fehlt hier an Raum, Bubes Großtat genauer zu illustrieren. Ganz kurz berührt seien stattdessen nur drei Dinge, dies in der Hoffnung, dass die unerhörte Arbeit, die hier geleistet worden ist, sich an dieser und jener Stelle vielleicht noch weiterführen lässt. Zunächst: Ohne von Bube darauf gestoßen zu werden, würde man wohl kaum bemerken, dass die gerade beim späten Weber so häufige Rede vom (zumal urchristlich-brüderlichen) »Akosmismus der Liebe« bei ihm erstmals in einem Zitat aufgegriffen ist, das der Zinzendorfliteratur (H. Plitt 1869) entnommen ist (334). Dem Stichwort »Akosmismus« im Glossar (821) sieht man das allerdings nicht an. Sodann zu einer unaufgeklärt gebliebenen Stelle: Sie betrifft John Miltons »Urteil über die Lehre« vom ›doppelten Dekret‹. Bei Weber heißt es, Miltons Reaktion sei »bekanntlich« gewesen: »Mag ich zur Hölle fahren, aber solch ein Gott wird niemals meine Achtung erzwingen« (253). Dem »bekanntlich« zum Trotz: Einen Nachweis dafür fand selbst Bube nicht. Vielleicht findet sich ein theologischer Leser, der weiterhelfen kann. Schließlich: Übersehen hat die Kommentierung den kontrastiven Weberschen Sprachgebrauch vom ›Pessimismus‹ der Puritaner (261.465 f.) und vom ›Optimismus‹ der Aufklärung (262.422.698); auch das so exzessive Sachre-gister lässt das aus. Von hier her aber ergibt sich eine eigentümliche Brücke zu Jacob Burckhardt; dessen postum publizierte Weltgeschichtliche Betrachtungen, im November 1905 (also nach PE II.) erschienen, arbeiten religionsbezogen deutlich mit der Pessimismus/Optimismus-Unterscheidung. Aber mehr noch: Man stößt dort u. a. auf den auf die PE hin bemerkenswerten Satz: »Die kalvinistischen Länder, die schon von der Reformation an wesentlich die erwerbenden sind, sind zu dem angloamerikanischen Kompromiß zwischen kalvinistischem Pessimismus in der Theorie und rastlosem Erwerb in der Praxis gekommen.«