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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1431–1433

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reutlinger, Christoph

Titel/Untertitel:

Natürlicher Tod und Ethik. Erkundungen im Anschluss an Jankélévitch, Kierkegaard und Scheler.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2014. 168 S. = Edition Ethik, 14. Geb. EUR 32,90. ISBN 978-3-8469-0178-6.

Rezensent:

Georg Neugebauer

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es um eine leicht überarbeitete Dissertationsschrift von Christoph Reutlinger. Sie wurde 2012 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich eingereicht und von Johannes Fischer betreut. Der Vf. versucht mit seiner Studie, einen phänomengerechten, ethischen Zugang zum »natürlichen Tod« im klinischen Kontext zu gewinnen. Er vertritt die These, dass dies nur mittels einer »existenziellen Auseinandersetzung« (10) gelingt, die auf das »Verstehen« (9) der je individuellen Bedeutung von Sterbeprozessen zielt.
Um sich dem Gegenstand seiner Abhandlung anzunähern, bietet der Vf. zunächst einen instruktiven Überblick über die disparate Forschungslage seit den 60er Jahren (Kapitel 2). Um seinen eigenen Ansatz zu konturieren, rekurriert er jedoch weniger auf diese Debatten. Vielmehr bezieht er sich auf Max Schelers Aufsatz Tod und Fortleben (1911–1914), in welchem der Tod als eine Größe »des individuellen Erlebens und Bewusstseins« (64) ausgewiesen wird. Tod und Sterben müssen dieser Auffassung zufolge in das Erleben der je eigenen Lebensgeschichte in ihren zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingebettet werden.
Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelt der Vf. im dritten Kapitel Leitgesichtspunkte für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Am Anfang stehen Reflexionen zu der Frage, worin die Bedeutung bzw. der Sinn des natürlichen Todes liegen kann. Eine für den Vf. gedanklich ausgesprochen anregende Antwort bietet Vladimir Jankélévitch. Der französische Philosoph ist der Überzeugung, dass die Bedeutung des natürlichen Todes mit dessen »quoddité« (85) bzw. »Quodditas« (86) zusammenfällt. Insofern nur das Dass, nicht aber das Was bzw. das Wesen des Todes für das Verständnis desselben entscheidend ist, zeichnet sich dieser durch eine »unbestimmte Bestimmtheit« (120) aus. Daran anschließend setzt sich der Vf. mit lebensphilosophischen Implikationen dieses Todesbildes auseinander und versucht, die bei Jankélévitch anklingenden religiösen Aspekte theologisch weiterzudenken und zu vertiefen. Der Kierkegaardbezug dient sodann der Entwicklung eines Modells für den Umgang mit dem individuellen Tod und Sterben. Seine kurzen Ausführungen zum dänischen Philosophen werden vom Vf. durch einen Interpretationsvorschlag David Possens ergänzt. Letzterer begreift die auch vom Vf. namhaft gemachten Unklarheiten und Leerstellen in Kierkegaards Todesverständnis als ein argumentatives Instrument, aus dem ein »ethisches Reflexionsmuster« für den Umgang mit dem eigenen Tod abgeleitet werden kann: »concerned ignorance« (115).
Im Schlussteil (Kapitel 4) wird das »Lebensende als Gestaltungsaufgabe« (124) diskutiert. Dass sich Sterbende in unseren Tagen einem faktischen »Gestaltungsimperativ« (138) ausgesetzt sehen, ist vor allem durch die technisch-medizinischen Rahmenbedingungen sowie durch den zentralen Stellenwert der Patientenautonomie bedingt. Um ethische Kriterien für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben am Lebensende zu gewinnen, greift der Vf. seine Überlegungen zu den drei genannten Philosophen auf und verschränkt sie mit neueren Studien zu Verhaltensmustern am Lebensende. Er plädiert dafür, dass sich alle am Prozess des Sterbens beteiligten Personen darüber verständigen müssen, was als natürlicher Tod in der je individuellen Situation angesehen werden kann. Der natürliche Tod wird vom Vf. daher mit Jane Seymour nicht allein als medizinisch-technisch hergestellt, sondern auch als »ausgehandelt« (127) betrachtet. Die aus der Beschäftigung mit Scheler, Jankélévitch und Kierkegaard abgeleiteten Sichtweisen auf Tod und Sterben werden von ihm als Hilfsinstrumente einer »subjektiv-bedeutungssensiblen Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod« (153) ausgewiesen.
Mit seiner Untersuchung zum natürlichen Tod gelingt es dem Vf., wertvolle Einblicke in die Komplexität von Sterbeprozessen in der heutigen Zeit sowie die damit verbundenen Gestaltungsanforderungen zu geben. Zugleich eröffnet er an diesem Prozess beteiligten Personen Perspektiven für den Umgang mit der letzten Lebensphase eines Menschen innerhalb des klinischen Kontextes. So aufschlussreich und erhellend die vom Vf. vorgelegte Studie für das Verständnis des natürlichen Todes an vielen Stellen ist, anzumerken bleibt aber auch, dass sie verschiedentlich begriffliche Präzision vermissen lässt. Ebenso wäre es wünschenswert gewesen, wenn er seiner Auseinandersetzung mit den drei Referenzautoren mehr Tiefenschärfe verliehen hätte, was vor allem für Scheler und Kierkegaard gilt. Schließlich ist auf das grundsätzliche Anliegen des Vf.s hinzuweisen, der Durchsetzung eines spezifischen Modells angewandter Ethik Vorschub zu leisten. Letzteres bestimmt er als ein »Sensibilisierungsprojekt« (101), das auf die Befähigung zur Urteilsbildung gegenüber Problemen zielt, die lebenspraktisch relevant und von gesamtgesellschaftlichem Interesse sind. Die an­gewandte Ethik wird damit gleichsam in die Kontingenz des Lebens eingeschmolzen. Das führt am Ende jedoch einerseits zu einer weitgehenden Formalisierung der angewandten Ethik in Verfahrensregeln der Urteilsbildung angesichts in der Öffentlichkeit diskutierter Probleme der Lebensführung. Andererseits ist mit diesem Ansatz die Auffassung verbunden, die Prinzipienethik aus dem Feld der angewandten Ethik weitgehend auslagern zu müssen. Doch wird diese Position nicht begründet, sondern mit Verweis auf den allgemein-abstrakten Charakter jenes Ethiktyps lediglich konstatiert. In einer allgemeineren Perspektive betrachtet indiziert die vorliegende Untersuchung damit eine schon seit Längerem zu beobachtende Krise der Prinzipienethik. Die stetig fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft sowie die damit einhergehende Herausbildung immer neuer Bereichsethiken scheint den Plausibilisierungsschwund der Prinzipienethik zu im­plizieren. Diese Einschätzung versteht sich aber keineswegs von selbst und ist ih­rerseits nicht unproblematisch. Denn einerseits provoziert die angewandte Ethik damit den Relativismus- und den Dezisionismusvorwurf. Andererseits steht sie in der Gefahr, unvermittelte ethische Wissensbestände zu akkumulieren. Es herrscht also nicht nur gegenüber den konkreten, gesellschaftlich relevanten Fragen des alltäglichen Lebens Reflexionsbedarf. Selbiges gilt auch für das Verhältnis von Prinzipienethik und angewandter Ethik.