Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1423–1427

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Salatowsky, Sascha

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2015. VIII, 519 S. = Quaestiones, 18. Lw. EUR 148,00. ISBN 978-3-7728-2675-7.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Ausgehend von dem Erforschungsdefizit des Sozinianismus im deutschen Sprachraum entwickelt Sascha Salatowsky in der Einleitung (1–58) seine Fragestellung. Es geht darum, »die Philosophie und Theologie der Sozinianer als Transformationsriemen zwischen Renaissance und Frühaufklärung in den Blick zu nehmen« (54), um zu zeigen, wie die Sozinianer aufgrund ihrer theologischen Prämissen die aristotelische Renaissancephilosophie verändert haben. Damit ist die antitrinitarische Bewegung der Sozinianer nicht nur als eine rein religiös relevante Gruppierung eingestuft, sondern als eine für das intellektuelle Leben im Europa des 17. und 18. Jh.s höchst bedeutsame Richtung gesehen.
Im folgenden Kapitel (59–90) arbeitet S. heraus, dass »die Sozinianer insgesamt dem aristotelischen Wissenschaftssystem verpflichtet blieben« (65). Da aber mit der Reformation eine »Abkehr von der mittelalterlichen [aristotelisch geprägten] Scholastik« (76) einherging, haben konfessionelle Vorannahmen zu unterschiedlichen Aristoteles-Rezeptionen geführt, wie S. beispielhaft mit je einer katholischen, sozinianischen, lutherischen und reformierten Interpretation belegt. Mit diesem Nachweis des Sozinianismus als einer der verschiedenen Formen des Aristotelismus hat S. den Grund für das nächste Kapitel (91–234) gelegt, um »die aristotelisch geprägte ratio philosophandi Sociniana am formalen Verhältnis von Vernunft und Glauben aufzuzeigen« (90).
Bedingt durch Paulus’ Zurückweisung der Philosophie (Kol 2,8 u. 2Kor 10,5) wurde bis in die frühe Neuzeit die Vernunft gegenüber dem Glauben herabgestuft. Dies änderte sich infolge der Diskussionen des 17. und 18. Jh.s. In diesem Prozess der Neubestimmung der Vernunft kommt dem Sozinianismus eine bislang nicht herausgearbeitete Bedeutung zu, indem er die »Natürlichkeit der Vernunft« (91) zum Prinzip erhebt, also Philosophie und Theologie nicht mehr gegeneinander stellt, wie prominent bei Luther und im orthodoxen Luthertum sich theologische Wahrheiten nicht mit Hilfe der Vernunft erklären lassen; während bei den Reformierten theologische Sachverhalte mittels Vernunft beurteilt werden, ist im Katholizismus die Kirche der von Gott beglaubigte Richter im Fall theologischer Kontroversen (92–130).
Mit diesen Ausführungen skizziert S. den Ausgangspunkt des sozinianischen Neuansatzes der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glauben, die er an den Positionen von Fauso Sozzini, Johann Crell und Joachim Stegmann darstellt (130–163). Bei Sozzini muss »ein Christ das von Gott glauben, was ihm dieser tatsächlich und in deutlicher Weise in der Bibel offenbart« (131) hat. Die Vernunft ist die Entscheidungsinstanz, ob etwas geglaubt werden muss oder nicht. Hier differenziert Sozzini zwischen dem, was mit Vernunft nicht zu begreifen ist (supra rationem) und dem, was nicht sein kann (contra rationem). Zu Letzterem zählen für ihn Dogmen wie die der Trinität, der Zwei-Naturen Christi oder der Satisfaktion. Sozzini macht auf ein lange mit einem Denkverbot belegtes Problem aufmerksam: wie man Gottes Wort verstehen soll, »wenn wir es an den entscheidenden Stellen […], wo es um den Gottesbegriff und das Seelenheil geht, gerade nicht begreifen, weil es von Mysterien umhüllt ist, die oberhalb der Vernunft liegen« (133). Crell knüpft an Sozzini an: Vernunft und Glauben können seiner Auffassung nach nicht im Widerspruch stehen. Deshalb können die Mysterien nur mit Hilfe der Vernunft begriffen werden. Er lehnt zudem die gebräuchliche Unterscheidung einer prä- und postlapsarischen Vernunft ab. Die Einwände gegen die Mysterien beruhen auf ihrer fehlenden intellektuellen Nachvollziehbarkeit, die allein durch »die Rationalisierung der Religion« (140) gesichert werden soll und von Stegmann in seiner 1633 erschienenen Schrift Brevis disquisitio und in De iudice von 1644 entwickelt worden ist. Stegmann hält die katholische bzw. protestantische Ansicht, die Kirche bzw. der Heilige Geist interpretiere die Bibel wahrhaft, für zirkulär und bezeichnet stattdessen die gesunde, d. h. die nicht beeinträchtigte oder missbräuchlich angewendete Vernunft »als das einzige Instrument des Erkennens und Urteilens« (146) des Menschen. Damit weist er die Trennung von philosophischer und theologischer Erkenntnis zurück. Allein die Vernunft bestimmt, was würdig zu glauben ist.
Gleichwohl hat die Offenbarung bei Stegmann eine wichtige Bedeutung, da sie ein bis zu ihrem Geschehen nicht gekanntes Wissen vermittelt, das dann mittels Vernunft verstanden werden kann. Diese Vorstellung wird auf die Wunder angewendet: die Jungfrauengeburt oder das Weinwunder von Kana sind nicht auf natürliche, »sondern auf übernatürliche Weise« (152) geschehen. Die Vernunft erkennt an dieser Stelle die besondere göttliche Wirkkraft – und ist damit zur Richterin in theologischen Kontroversen erhoben. Stegmann lehnt folgerichtig die orthodoxe Erbsündenlehre mit der Verderbtheit der Vernunft ab: Er hält die Annahme der Schädigung aller Menschen infolge der ersten Sünde Adams für eine Blasphemie, da sie zum Bild eines ungerechten und unklugen Gottes führt, der alle Nachkommen Adams unterschiedslos be­straft und die Befolgung der Zehn Gebote verlangt, wissend, dass dies dem verderbten Menschen unmöglich sei.
Anschließend arbeitet S. Stegmanns Rezeption auf und beginnt mit der Kritik durch Theologen, nämlich den Lutheraner Paul Felwinger, den Katholiken Valerianus Magni, den Reformierten Jo­hannes Hoornbeeck und den Presbyterianer George Ashwell (164–186), die allesamt Stegmanns Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glauben rückgängig machen wollten. S. verfolgt die weitere Rezeption des sozinianischen Ansatzes bis in die Frühaufklärung hinein, und zwar bei John Locke, John Toland und Gottfried Wilhelm Leibniz (186–234). Nachweislich hat Locke sozinianische Schriften besessen. S. kommt zu dem Ergebnis, dass im 18. Kapitel des 4. Buches von Lockes Versuch über den menschlichen Verstand die Vernunft »ganz im Sinne der sozinianischen Hermeneutik die Richterin aller theologischen Kontroversen« (193) ist und entscheidet, was man glauben darf. Toland radikalisiert diese Position mit seinem Verständnis des Christentums als Religion ohne Wunder in seiner Schrift Christian-ity not Mysterious (1695/96). Bei ihm zeigt S. die Möglichkeit eines sozinianischen Einflusses durch einen Vergleich der Argumente auf. Beide Mal »erleuchtet, führt und beurteilt [die Vernunft] alle Dinge, seien diese nun natürlich oder übernatürlich, irdisch oder himmlisch« (201). Was über die Vernunft hinausgeht, kann nicht verstanden werden, so dass auch die göttliche Offenbarung nichts Außergewöhnliches mitteilt, sondern nur in Übereinstimmung mit den gewöhnlichen Auffassungen verstehbar ist. Die Vernunft entscheidet somit, »was als Offenbarung an­zuerkennen ist« (206). Entsprechend lehnt Toland, wie Stegmann, die Erbsündenlehre zu­gunsten einer rationalen Religion ab. Mit diese Analogien lässt sich die These seiner sozinianischen Beeinflussung erhärten.
Toland überreichte Leibniz 1701 sein Buch, dessen Rationalisierungstendenz der Religion dieser positiv einschätzte. Das Gleiche gilt für die Religio rationalis des Sozinianers Andreas Wissowatius. Allerdings zeigt S. eine gewichtige Differenz von Leibniz zu beiden Autoren auf: »Ein Christentum ohne Mysterien ist aus theologischer Sicht für Leibniz eine Unmöglichkeit. Die Gnade erfordert Wunder, weil sie selbst ein Wunder ist« (229). Die Glaubwürdigkeit der Bibel bleibt damit den Prinzipien der Vernunft übergeordnet. So bleibt Leibniz der lutherischen Tradition verpflichtet. Jedoch hat sich das sozinianische Programm der rationalen Religion, wie es von Stegmann ausgebildet wurde, im Gegensatz zu Leibniz’ Auffassung im weiteren Verlauf der Aufklärung durchgesetzt und maßgebend, wie S. in seinen beiden letzten Kapiteln zeigt, auf die Bereiche der Physik (235–345) und der Anthropologie (347–458) gewirkt.
Mit den folgenden Ausführungen soll die konfessionell geprägte Philosophie der Sozinianer herausgearbeitet werden. Diffizile Untersuchungen zum Materiebegriff führen S. zu dem Ergebnis, dass der Sozinianismus infolge der Metaphysica repurgata von Christoph Stegmann, dem jüngeren Bruder Joachim Stegmanns, in einen philosophisch-theologischen Materialismus mündet. Diese Schrift, die sich immer noch unediert im Nachlass Leibniz’ befindet, hat Leibniz als Manuskript eingesehen und in der Theodizee sowie den Nouveaux Essais erwähnt, da er sie offensichtlich für einen wichtigen Umbruch der Philosophie seiner Zeit einstufte.
Stegmann verwendet den Wahrheitsbegriff in der Philosophie und Theologie univok. Der radikale Neuansatz seiner Metaphysik zeigt sich daran, dass er Form und Materie zusammen »als Konstitutionsprinzipien alles Seienden« (315) beschreibt. Folglich gibt es kein Seiendes ohne Materie und damit keine immateriellen Substanzen. Auch Gott spricht er einen materiellen Körper zu. Diesen metaphysischen Materialismus, bei dem alles auf das Materielle ausgerichtet und die unsterbliche Natur der menschlichen Seele negiert wird, akzeptierte Leibniz nicht, zumal er Gott als vollkommen immateriell bestimmte. Zudem sah Leibniz »einen direkten Zusammenhang zwischen der sozinianischen Verneinung der Immaterialität der menschlichen Seele und der Lockeschen An­sicht, dass die Materie denken könne« (335 f.), denn diese Ansicht führt zur Negation einer immateriellen geistigen, also unsterblichen Substanz. S.s Überprüfung von Leibniz’ These ergibt allerdings, dass wegen Lockes Akzeptanz der Lehre der creatio ex nihilo sein Materiebegriff nicht materialistisch sein kann. – Die Sozinianer haben also mit der Herausbildung eines metaphysischen Materialismus einen entscheidenden Umbruch des Denkens eingeleitet, der die materielle Wirklichkeit von transzendenten Einflüssen befreite.
Die philosophisch-theologische Anthropologie der Sozinianer sieht S. durch ihre Auffassung von der Sterblichkeit des Menschen und von der Auferstehung geprägt. Der Mensch als natürliches Wesen ist, wie alle anderen Lebewesen, der Vergänglichkeit unterworfen, denn Gott schuf den Menschen aus Erde, also der Natur nach sterblich. Damit ist die Vergänglichkeit keine Folge von Adams Sündenfall, sondern der Schöpfung immanent. Die Sonderstellung des Menschen beruht nicht mehr auf einer Gottebenbildlichkeit und seiner unsterblichen Seele, sondern auf seiner Ausstattung mit Vernunft. Der Sozinianer Johann Völkel hat 1630 in seinem Hauptwerk De vera religione eine stringente biblische Anthropologie vorgelegt, in deren Konsequenz er den Geist gegenüber der Seele höher bewertet. Denn die Seele ist, wie der Körper, sterblich. Nach dem Tod bewahrt Gott den Geist, der am Jüngsten Tag mit einem geistig-himmlischen Körper bekleidet wird. Der Geist bildet also »die anthropologische Konstante im Leben vor und nach der Auferstehung« (410). Christoph Stegmann führt diese Ansichten weiter: »Die Seele ist als Form ein bloßes Akzidenz des Körpers, während der Geist als Materie die Substanz ist« (425) und als materieller Teil in der Auferstehung die persönliche Identität sichert. Leibniz, obgleich er wie Stegmann »eine körperlose Exis­tenz der Seele nach dem Tod ablehnte, war weit davon entfernt, sie deswegen für sterblich zu halten« (433), denn der Tod bedeutete für ihn keine totale Auslöschung von Körper und Seele, sondern den Übergang in eine neue Form. So bestimmt die Seelenlehre die Debatten zwischen Philosophie und Theologie, wie S. abschließend an Locke aufzeigt. Da »die Identität der Person durch den Tod hindurch [sozinianisch] an der Identität des Geistes oder, in Lockes Worten, an der Identität des Bewusstseins festgemacht« (452) wird, zeigt sich die untergründige sozinianische Beeinflussung von Lo­-ckes Anthropologie.
Ausgehend von Leibniz’ Diktum einer eigenständigen Philosophie der Sozinianer hat S. mit seiner Untersuchung belegt, »dass die Sozinianer ihre radikalen Gedanken vom heterodoxen Aristotelismus bezogen haben« (460), wobei die Loslösung von philosophischen und theologischen Autoritäten zugunsten des aufklärerischen Postulats sapere aude ein wichtiges Motiv für ihre Wirkung in der Frühaufklärung ist – mit Nachwirkungen, die S. bei Locke und Leibniz konkretisiert hat. S. hat mit seiner beeindruckenden Untersuchung den Sozinianismus als wesentliche Gestalt der frühen Neuzeit herausgearbeitet. Die künftige theologie- und philosophiegeschichtliche Forschung wird an dieser belegreichen und eigenständigen Studie nicht vorbeikommen.