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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1416–1419

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Höfner, Markus

Titel/Untertitel:

Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 406 S. = Religion in Philosophy and Theology, 36. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-149754-4.

Rezensent:

Cornelia Richter

Die aktuelle Debatte um Heideggers »Schwarze Hefte« und um seinen ehemaligen Freiburger Lehrstuhl lässt einen zu einer Dissertation greifen, die längst schon hätte rezensiert werden müssen – die Verzögerung liegt bei der Rezensentin, die sich ausdrücklich dafür entschuldigt. Markus Höfner nimmt mit der Gegenüberstellung von Cassirer und Heidegger nicht nur eine im Augenblick wieder neu geführte Debatte um die Phänomenologie auf, sondern auch eine historische Debatte zwischen den beiden Protagonisten, die zuletzt prominent von Enno Rudolph bearbeitet wurde (Ernst Cassirer im Kontext, 2003). Rudolph hatte damals die zeitgenössische Rezeption der berühmten Begegnung Cassirers und Heideggers in Davos analysiert und kam zu dem Schluss, dass Cassirer zwar der inhaltlich konzisere und auch mit wenig fachlichen Einwänden tangiertere Vortragende gewesen sei, Heidegger aber bereits die durchsetzungsstärkere diskursive »Hausmacht« gehabt habe, weshalb er als vermeintlicher Sieger aus der Debatte habe hervorgehen können (Rudolph 2003, 7 f.157 f., so auch Höfner, 3).
H. positioniert sich an dieser Stelle insofern klug, als er mithilfe der Publikation der frühen Freiburger Vorlesungen auf jene Materialbasis zurückgreifen kann, in der sich »Heideggers Ringen mit seiner eigenen philosophischen Herkunft aus dem Neukantianismus und mit dessen Fragestellungen« (5) finden lasse. Dabei zeige sich zum einen Heideggers Auseinandersetzung mit einer »Theorie der Erfahrung« im Sinne einer »Bedeutungstheorie«, mit der er sich nicht nur als existenzialistischer Denker, sondern auch als kulturphilosophischer Denker erweise (5 f.); zum anderen zeige sich eine insgesamt sehr viel stärkere Parallelität zu Cassirers Denkfiguren als bisher angenommen, ungeachtet der Tatsache, dass diese »bereits in Davos von anderen Motiven überlagert« worden seien (6). Die Parallelität liegt vor allem »in einer gemeinsamen Problemstellung«, nämlich in der »Frage nach der Anwendbarkeit ideeller Sinngehalte auf Sinnlichkeit«, weil sich beide sowohl gegen jegliche positivistische Vorstellung einer unmittelbaren Gegebenheit der Dinge aussprächen, als auch gegen jede traditionelle Ontologie (6). Die Divergenz liege hingegen in der exakten Durchführung jener Bedeutungstheorie: Cassirer setze den Akzent auf die » Repräsentation ideeller Sinngehalte« und auf die »sinnstiftenden Leistungen des menschlichen ›Geistes‹, der Symbole und durch Symbole Wirklichkeit konstituie[re]«; Heidegger hingegen setze den Akzent auf die »Intentionalität« und auf das »In-der-Welt-sein als pragmatischem Kontext intentionalen Verhaltens, der immer schon durch (sprachliche) Zeichen artikuliert« sei (7). In besonderer Weise lasse sich diese Differenz schließlich am Phänomen der Religion zeigen, das Cassirer unter Berücksichtigung religionsgeschichtlicher, vor allem auf Mythos und nach-mythische Religion bezogener Materialien bearbeite und von seiner »am Paradigma der Sprache und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis entwickelten Symbol- und Kulturtheorie« her betrachte, während Heidegger »das Phänomen Religion selbst als Paradigma aller Erfahrung in den Blick« nehme (8). In beiden Fällen geht es H. letztlich darum, mit Cassirer und Heidegger einen »Beitrag zu einer Religionsphilosophie« zu leisten, »die sich selbst als ›kritische Hermeneutik‹ faktischer Religion begreif[e] und als solche auch für die theologische Selbstbeschreibung der Religion Relevanz beanspruchen« könne (8 f.; thetisch gebündelt: 9).
In der Durchführung bietet H. in Kapitel A/II eine knappe und klare Übersicht zur theoretischen Verortung der Arbeit, in dem er auf (1.) Religion als kulturelles Phänomen, (2.) die Hermeneutik der Religion als Frage nach ihrer internen Rationalität, (3.) auf die Bedeutung der Pragmatik, (4.) auf die Differenz von Teilnehmer- und Zuschauerperspektiven, (5.) auf Transzendenz und Alterität und (6.) auf die Differenz von religionsphilosophischer Rekonstruktion und theologischer Selbstbeschreibung verweist. Mit dieser begrifflich-methodischen Vorklärung wird bereits deutlich, inwiefern H. den bisher (auch von der Rezensentin selbst) geführten kulturtheoretischen Diskurs im Cassirer-Umfeld über religions- und symboltheoretische Distinktionen hinaus in gewinnbringender Weise durch Theoreme der Heideggerschen Phänomenologie und weiterer Diskurse, vor allem der Pragmatik, bereichert; das gilt, auch wenn man H.s Differenzierung zwischen Religionsphilosophie als eine der Religion externen Rekonstruktion einerseits und Theologie als reflektierte Selbstbeschreibung der Religion andererseits (vgl. 21) nicht teilen muss, weil man den Akzent auch auf die methodische Differenzierung statt auf die intentionale Positionierung legen kann; Religionsphilosophie wäre dann die jeder selbstreflexiven Theologie inhärente explizite Reflexion der jeweiligen Begriffe, Prämissen etc.; ohne diesen Aspekt könnte man nämlich den Eindruck erwecken, als ob eine gute Systematische Theologie jemals ohne Religionsphilosophie auskommen könnte – das kann sie jedoch nicht.
Nach einem abschließenden Hinweis zum Aufbau der Arbeit in Kapitel A/III wird in Kapitel B zunächst Cassirer, in Kapitel D sodann Heidegger in vier jeweils sehr schön parallel gehaltenen Abschnitten analysiert. Im Zwischenabschnitt C wird deren Begegnung sozusagen einen Moment vor Ort stillgestellt, nämlich im Blick auf die Debatte in Davos. In beiden rekonstruierenden Kapiteln arbeitet H. auf breiter Textbasis überaus textgenau, in ausführlichem Gespräch mit der Literatur und in sorgfältiger Abwägung der Argumente.
Eine entscheidende Passage findet sich in Kapitel B.II.3.d, in dem es um Cassirers (aus der symbolisierenden Geistestätigkeit resultierendes) Freiheitsverständnis geht, das eine problematische ethische Konsequenz habe: Weil Cassirer mit Kant die Geistestätigkeit als Spontaneität und Autonomie verstehe und zugleich von der teleologischen These eines »faktischen Fortschritt[s] der Freiheit« ausgehe, deshalb könne er am Ende »Momente der Alterität« nicht mehr zulassen; zumindest nicht solche, »die nicht im Fortschritt der Freiheit überwunden werden müssen.« (104 f.) H. sieht darin das Argument, dass Cassirer wegen der vertretenen Hochschätzung der »ursprünglichen Selbstbestimmung der Vernunft« (106, mit FF 167) »die Ethik nicht als eigenständige symbolische Form konzipieren kann, sondern jede Kulturgestaltung ethisch imprägniert sein lässt« (106), wobei der Rezensentin nicht ganz einleuchtet, weshalb Letzteres nicht sogar die stärkere ethische Position sein könnte. H. sieht den Grund in Cassirers »strikter Alternativsetzung von ›Ontologie‹ (die Wirklichkeit bestimmt das Denken) und Idealismus (das Denken bestimmt die Wirklichkeit)« und dem darin »implizierte[n] Dual von Aktivität und Passivität« (106, sic [!] in dieser Kontrastierung) – auch hier wäre freilich zu fragen, ob der Akt des Symbolisierens nicht ein stärkeres Zusammenfallen von Aktivität und Passivität darstellt, als bei H. veranschlagt. Gleichwohl, die Passage ist insofern von Bedeutung, als H. mit ihr auf die Frage des Verhältnisses von Mythos und Moderne überleitet, das Cassirer rückbli-ckend und selbstkritisch in seinen späten Werken »Essay on Man« und vor allem »Der Mythus des Staates« behandelt hat. Cassirer habe das »Phänomen politischer Mythen nämlich […] als Rückfall in den Mythos« verstanden, nicht aber als einen falschen »Umgang« mit Mythen oder gar als Indiz für die »Ambivalenz der ›geistigen‹ Kräfte« (107) – in diesem Punkt ist H. sicherlich zuzustimmen, ebenso an der von ihm darüber auf den Weg gebrachten Weichenstellung in das Gespräch mit Heidegger hinein: Es hat eine wichtige Wegmarke in Heideggers Kommentar zu Cassirers Verständnis des Mythos, in dem Cassirer seine Chancen vergebe, weil er – so Heidegger – den Mythos zu wenig als »Lebensform« ernstnehme, obgleich er dieses Konzept doch durchaus vertreten habe (vgl. 137 f.). Im Einklang mit der argumentativen Tendenz dieser Kritik be­schließt auch H. seine Ausführungen zu Cassirer, weil er dessen (weitgehend geteilte) Konzeption der Religion bereichern möchte durch eine alternative Deutung des Realitätsbezugs der Religion, weil »das religiöse Bewusstsein sich auf eine Realität bezogen weiß, über die menschliches Denken nicht verfügen kann, so dass ihre aktive Bestimmung durch Leistungen des Denkens ein Sich-be­stimmen-Lassen durch diese Wirklichkeit voraussetzt. Um den Eigensinn der Symbolform Religion zu erfassen, ist diese darum nicht als Zuschauer-, sondern als Teilnehmerperspektive zu rekonstruieren« (174).
Aus der textanalytisch ebenso exakten Rekonstruktion der Position Heideggers folgt für H. dessen kritische Würdigung. Kritisch sei vor allem ein methodischer Selbstwiderspruch Heideggers, dass er nämlich die lebensförmige Verortung von Phänomenen, die nur als bestimmte Phänomene (im Blick auf die Religion: die urchristliche Lebensform) zu analysieren seien, zugleich für die Erhellung der »Struktur faktischen Lebens überhaupt« heranzuziehen beanspruche (315 f.). Gleichwohl habe Heidegger zu Recht gezeigt, dass die Religion eine pragmatische Lebensform eigener Güte sei, die nicht »von vornherein den Rationalitätsstandards von Philosophie und Wissenschaften zu unterwerfen« sei (316). Ebenso lasse sich mit ihm die »Erfahrung von Alterität und Widerständigkeit« formulieren (318), die sich im christlichen Glauben durch die »Angewiesenheit auf Offenbarung und ihre mediale Vermittlung« (319) bestätige. Dies freilich um den Preis der Vernachlässigung der »spezifischen Gehalte christlichen Lebens«, die in dem Bemühen um eine allgemeine Strukturlogik zwangsläufig ihrer Konkretion verlustig gehen müssten (317; vgl. 319). Interessanterweise habe Heidegger mit der Suche nach einer Einzeichnung christlicher Grundfiguren in die faktische Existenz überhaupt zwar nicht, wie McGrath meint, eine »hidden theological agenda« verfolgt (320), aber die urchristliche Lebenserfahrung sei ihm de facto zugleich zur »Darstellung einer philosophischen Existenz« geronnen (320), und zwar »in einer säkularisierten Aufnahme religiöser Motive noch in das Selbstverständnis des Philosophierens« (321). Im Schlussteil E werden die Ergebnisse nochmals in gebündelter Form luzide präsentiert und mit einem (allerdings vorwiegend an Cassirers Diktion formulierten) Ausblick versehen: Die Stärke der religionsphilosophischen Argumentation Cassirers bestehe darin, »die Grundlage für eine […] kulturelle Verortung von Religion bereitzustellen«, und zwar im Bewusstsein einer pluralistischen, aber nicht inkommensurablen Verfasstheit von Kultur (357). Ebenso werde der »Blick für die Dynamik und die möglichen Selbstgefährdungen religiöser Symbolprozesse« geschärft, vor allem die »Einsicht […], nur in Symbolen auf Gott verweisen und in der Differenzierung von Symbol und Symbolisiertem nicht über die Andersheit Gottes verfügen zu können« (357). Dass Heidegger in den letzten Zeilen nicht mehr eigens und explizit gewürdigt wird, erstaunt ein wenig, denn gerade für die an Vollzug und Teilnehmerperspektive gebundene systematisch-theologische Ausführung der klassischen theologischen Loci hätte ihm ein Schlusswort gebühren dürfen.
Insgesamt ist H.s Arbeit damit eine wichtige Bereicherung der religionsphilosophischen Diskussion um Kultur, Symbolizität und Phänomenalität religiöser Sinngebung. Die darin enthaltene me­thodische Kritik an Heideggers Bemühen um eine Struktur der Faktizität des Lebens lässt sich zudem hervorragend auf den aktuellen, stärker politisch ausgerichteten Diskurs um die »Schwarzen Hefte« beziehen. Trotz mannigfach möglicher Kritik im Detail kann eine stärkere Empfehlung der Arbeit damit kaum gegeben werden.