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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1414–1416

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann

Titel/Untertitel:

Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 176 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-153309-9.

Rezensent:

Dirk Evers

In diesem anregenden und lesenswerten Bändchen des am Erfurter Max Weber-Kolleg forschenden Theologen und Religionsphilosophen Hermann Deuser sind sieben religionsphilosophische Beiträge zu Fragen von Kosmologie und Religion zusammengestellt, die alle schon verstreut an anderer Stelle erschienen sind. Ihr gesammelter Abdruck ist aber nicht nur deshalb begrüßenswert, weil nun die verstreuten Beiträge leichter zugänglich sind, sondern weil diese Zusammenstellung auch eine durchgängige Kohärenz bei gleichzeitiger thematischer Vielfalt offenbart.
Die Essays beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Religion und Kosmologie, wobei der Bezugspunkt Kosmologie im Sinne einer umfassenden, neuzeitlichen und grundlegend von den Na­turwissenschaften informierten Gesamtsicht der Wirklichkeit zu verstehen ist. In seinem Vorwort ordnet D. seine Beiträge selbst in die Debatten um den neueren Atheismus ein, den er als rein naturwissenschaftlich orientierten Naturalismus für defizitär hält. Mit Thomas Nagel stimmt er darin überein, dass die Kategorien von Bewusstsein, Kognition und Werthaltigkeit in einer solchen naturalistischen Sicht ausgeblendet werden und diese als schlicht un­zulängliche Beschreibung zu gelten hat, die sich u. a. in dem »Zirkelproblem« (X) verfängt, das wegzuerklären, was zu ihren eigenen Voraussetzungen gehört. D. möchte in seinen Beiträgen Beispiele für eine geänderte, offenere Gesprächssituation geben, die die Be­deutung von Religion und Religiosität auch in kosmologischer, naturbeschreibender Perspektive zur Geltung zu bringen vermögen. Als naturphilosophisch tragfähiges Bindeglied zwischen Kosmologie und Religion dient ihm im Grunde in allen Beiträgen die pragmatisch orientierte Prozessphilosophie von Charles Sanders Peirce.
Das Bändchen setzt ein mit Erwägungen zur Entstehung von Religion in evolutionsbiologischer Perspektive und stellt die Frage, warum eigentlich nur Menschen Religion haben, wenn doch die Evolutionstheorie einen fließenden Übergang zwischen Tierreich und Menschheit voraussetzt. Aus dem Begriff einer evolutions-biologisch und systemtheoretisch plausibilisierten Emergenz entwickelt D. die Einsicht, dass subjektives Bewusstsein aus seinen empirisch bestimmbaren Bedingungen allein nicht ableitbar ist, sondern komplexere Erfahrungszusammenhänge in Anschlag ge­bracht werden müssen. Menschliches Bewusstsein begründet sich über reale Zeichenprozesse, in denen kognitive, ästhetische und religiöse Dimensionen zusammenkommen. Tiere sind nicht in der Lage, die dem Menschen eigentümliche Doppelstruktur des Selbstverhältnisses von Nähe und Distanz zu realisieren, auch wenn Vorformen eines ästhetisch-meditativen Ruhe-Selbst nicht ausgeschlossen werden sollen. Der zweite Beitrag entwickelt eine Zeittheorie mit philosophisch-theologischen Mitteln und geht von der Beobachtung aus, dass kosmologische Theoriebildung immer auch Tendenzen zur Großerzählung und damit zur zeitlichen Entfaltung der Frage des Menschen nach sich selbst zeigt. Die Kosmologie des 20. Jh.s (Stichwort: Relativitätstheorie) hat dazu geführt, dass mit dem Zeitproblem eine neue Verbindung empirischer und religiöser Wirklichkeitsauffassung möglich erscheint: Die erlebte Ereignishaftigkeit des kosmischen Geschehens verweist auf die »existentielle[.] Spannkraft zwischen Müssen und Können, Vergangenheit und Zukunftsmöglichkeiten, Notwendigkeit und Freiheit« (36). Inspiriert von Kierkegaard und im Anschluss an Robert C. Neville schließt D. vom Zusammenstimmen der verschiedenen Dimensionen ereignishafter Zeitlichkeit (Abschluss der Vergangenheit, Bildung der Gegenwart, Form der Zukunft) auf die Ewigkeit als deren Ermöglichungsgrund. Abschließend wird wieder auf Peirce verwiesen, der durch die Konzepte eines Kontinuums als kreativer Potenz, von infinitesimaler Dauer als Vergegenwärtigung und durch die Entwicklung einer evolutionären Metaphysik die religionsphilosophische Stimme in der Kosmologie wieder hat laut werden lassen. Mit eben einer solchen »neuen« Metaphysik be­schäftigt sich der anregende dritte Beitrag. D. identifiziert fünf Problemlagen der »alten« Metaphysik mit ihrer Frage nach dem Seienden als Seiendem, die es gilt, unter geänderten Denkbedingungen neu anzugehen und damit auch neu für die Theologie fruchtbar zu machen. Die entscheidende Signatur der Epochenwende stellen die Naturwissenschaften dar, die bei entsprechender Interpretation für die klassischen Problemstellungen neue Denkmöglichkeiten eröffnen: aus substanzialem wird relationales Sein; Idee und Ideal werden in phänomenale Beschreibungen überführt; die Zeichenvermitteltheit aller Wirklichkeitsorientierung (wieder Peirce!) überwindet die Dichotomie von idealistisch versus materialistisch; Natur und Kosmos werden als prozessuales Werden verstanden; eine Ethik des höchsten Guts wird in eine Ethik wechselseitiger Anerkennung überführt.
Bearbeiteten die ersten drei Beiträge grundsätzliche religionsphilosophische Fragen einer evolutionär verfassten Kosmologie, so nehmen die vier weiteren Kapitel aus einer solchen Perspektive eher Einzelfragen in den Blick. So will der vierte Beitrag Wunder zeichentheoretisch rehabilitieren und – wieder unter Verweis auf die Peircesche Semiotik – als ästhetische Phänomene verstehen, die auf eine Öffnung der Wahrnehmung aus sind, die dann für eine religiöse Interpretation anschlussfähig ist. Wenn sensible religiöse und ästhetische Wahrnehmung und Darstellung gelingen, erscheint das Wunder des Universums, mit Peirce’ Worten, als »Symbol für Gottes Absicht« und zugleich als »ein großes Kunstwerk« (99). Ein weiteres Kapitel evolutionärer Metaphysik wird dann im fünften Beitrag unter der Überschrift »Objektiver Idealismus« vorgelegt. D. verbindet hier die Schellingsche Naturphilosophie, aus der die Formulierung des Titels stammt, wiederum mit Peirce’ Kosmologie. Heraus kommt eine evolutionäre Perspektive, die das Werden der Natur radikal und damit gewissermaßen »im und mit dem Prozess selbst zu denken« (120) sucht. Dazu gehören der Aufweis einer Bewegung vom Ursprünglichen zum immer mehr Bestimmten, aber auch der schon bei Schelling zu findende Gedanke, dass ein vollkommenes Verständnis der Wirklichkeit eigentlich vom antizipierten Ende her rückwärts zu entwickeln wäre. Von Schelling ist es nur ein Schritt zur Geist-Theologie Tillichs, der der sechste Beitrag gewidmet ist. In D.s Interpretation hatte Tillich bereits einen nicht-reduktionistischen Naturalismus vor Augen, der die Natur einerseits als das Widerständige und Fremde, andererseits auch als das Potente, Mächtige vor Augen hat. Hier taucht noch einmal der Emergenzbegriff auf, insofern die Natur im Organischen nicht bloß Dinge, sondern auch neue Qualitäten hervorbringt. Aus solchen Andeutungen, so D., müssten neue Bemühungen um »eine wissenschaftlich fundierte Schöpfungslehre« (147) hervorgehen, die die Religionsfähigkeit heutiger Kosmologie in prozessphilosophischer Interpretation zur Geltung bringen. Schließlich ist der letzte Beitrag dann noch einmal ausdrücklich Peirce gewidmet und seiner pragmatizistischen Variante des Pragmatismus. D. beleuchtet das Übergangsfeld zwischen Philosophie, Kunst und Religion aus der Perspektive der Peirceschen Semiotik und Kosmologie, die naturalistisch argumentiert, ohne reduktionistisch zu verengen, und damit Lebensinteresse und Gefühl mit pragmatisch fundierter Metaphysik zu verbinden versteht. Und darin liegt, so verstehe ich D.s Anliegen, eine große Chance für die Theologie heute, die es nur zu ihrem Schaden versäumen könnte, eine wissenschaftlich wie lebensweltlich tragfähige Sicht von Kosmos, Natur und Menschsein zu entwickeln.