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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1411–1413

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kern, Udo

Titel/Untertitel:

Dialektik der Vernunft bei Martin Luther.

Verlag:

Müns­ter u. a.: LIT Verlag 2014. 415 S. = Rostocker Theologische Studien, 27. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-12707-5.

Rezensent:

Christian Danz

Martin Luthers Aussagen zur Vernunft des Menschen sind be­kanntlich höchst ambivalent. Auf der einen Seite nennt er sie eine Hure, die sich für alles in Anspruch nehmen lässt, und auf der anderen kann er die Vernunft als herrliche Gabe preisen, die im Reich der Welt die Herrschaft hat. Der emeritierte Rostocker systematische Theologe Udo Kern, lange Zeit Leiter der Luther-Akademie Sondershausen, unternimmt in dem hier anzuzeigenden Buch Dialektik der Vernunft bei Martin Luther den Versuch, den Vernunftbegriff des Reformators in werk-, problem- und wirkungsgeschichtlicher Perspektive auszuloten. In den Fokus rückt die Studie vor allem das Kritikpotential, welches mit dem lutherischen Verständnis der Vernunft verbunden ist. »Die protestantische Rationalität steht von ihren theologischen Fundamenten (theologia crucis und Rechtfertigungslehre) her für einen kritisch-aedifikatorischen Umgang mit Gott, Welt und Mensch. Diese aedifikatorische Kritikkultur des Protestantismus eröffnet perennierend Lebens- und Wirklichkeitshorizonte.« (394) Die kritische Rationalität des Protestantismus, ihre Konsequenzen für das Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis werden in den einzelnen Kapiteln des Buches in Auseinandersetzung mit der Theologie des Reformators in unterschiedlichen Facetten entfaltet.
Gegliedert ist die Studie in zehn Kapitel. Nach einem langen Vorwort (13–62), in dem grundlegende Gedanken der Untersuchung allerdings schon präsentiert werden, folgt ein prägnanter Überblick über Luthers Leben (63–105). K. konzentriert sich hierbei auf die Zeit vor dem Ablassstreit, das mittelalterliche Verständnis des Ablasses, die 95 Thesen sowie den Streit um die sogenannte reformatorische Entdeckung und referiert knapp die weitere Entwicklung des Denkens des Reformators. Das zweite Kapitel ist der Luther-Kritik Thomas Müntzers gewidmet: »Jungfrau Martin« – Müntzers polemische Lutherrezeption (107–120). Vorgestellt wird vor allem die Polemik Müntzers gegen den Wittenberger Theologen. Sein Glaube sei ein erdichteter, eingebildeter. »Der geistlose Glaube Luthers ist leerer, volltönender Pharisäerglaube.« (109) Dies ist vor allem darin begründet, dass bei dem Reformator das Gesetz für den Glaubenden keine Rolle mehr spielen soll (vgl. 111). Darin dokumentiert sich für Müntzer eine falsche Christologie (112–116). »Christus recht verstehen heißt, im Kampf des Herren zu stehen. Teilnahme am Kampf des Herrn wird ermöglicht durch das ganzheitliche Erkennen Christi.« (115)
Sakramente in trinitarischer Perspektive (121–156) ist das Thema des dritten Kapitels. Skizziert wird Luthers Verständnis des Sakraments als Tat des Glaubens. Den Versuchen des Reformators, seine neue Deutung des Christentums zu elementarisieren, geht das vierte Kapitel Luther als protestantischer Katechet (157–195) nach. Die Elementarunterrichtung des christlichen Glaubens, die der Katechismus leisten soll, wird von K. im Horizont der Katechis-mus­traditionen seit der Alten Kirche diskutiert. Für Luther schärft der Katechismus dem Einzelnen »den Christusglauben als persönlichen«, ihn »betreffenden und rettenden ein« (194). Darin liegt seine Bedeutung als Elementarbuch des Glaubens. Das fünfte Kapitel wendet sich dem reformatorischen Freiheitsverständnis zu (Freiheit als Vermächtnis der Reformation, 197–236). Luthers Entde-ckung der Innerlichkeit des Glaubens korrespondiert die Freiheit von den Werken des Gesetzes und der Sünde. Der Glaube ist die rechte libertas christiana. Diese ist »als Freiheit des Evangeliums Jesu Christi nicht politische Freiheit, nicht libertas civilis, nicht libertas carnalis, sie ist geistliche Gewissensfreiheit« (36.235). Erst die Aufklärung hat dem lutherischen Freiheitsgedanken vor dem Hintergrund einer gegenüber dem Reformator veränderten soziokulturellen Lage eine andere Wendung gegeben. Dem Kritikpotential des Protestantismus ist das sechste Kapitel des Buches gewidmet (237–267). Grundlegend für den Protestantismus sei, wie K. herausarbeitet, ein kritischer Erkenntnisbegriff, der in der theologia crucis des Reformators verankert ist. »Theologia crucis ist als Kritische Theorie, kurz gesagt, ein spezifisch theologisches Fundamentaltheorem.« (39) Dieses wird anhand der Religionskritik (251–254), des endlichen Ich (254–257), der kritischen Vernunft (257–260), der kritischen Freiheit (260–263) bis hin zur Kritik der Gesellschaft (264–266) sowie der Kirchen- und protestantischen Selbstkritik (266 f.) durchbuchstabiert.
Ludwig Feuerbach und dessen Rezeption von Motiven des Reformators wenden sich die Kapitel sieben (Ludwig Feuerbachs Lutherverständnis, 269–286) und acht (Leiblichkeit bei Feuerbach, 287–314) zu. K. arbeitet die Bedeutung Luthers für das reife Denken des von der Theologie zur Philosophie gewechselten Religionskritikers prägnant heraus. Die Christologie des Reformators, seine Betonung des Menschseins Jesu Christi, stehen im Fokus des Interesses von Feuerbach. Die Menschwerdung Gottes faszinierte ihn. Bekanntlich ist die Anthropologie das Geheimnis der Theologie. Damit ist der Bogen zur Sinnlichkeit und Leiblichkeit, den Grundthemen des Denkens von Feuerbach, geschlagen. Der Durch Barmen definierte[n] Zweireichelehre (315–334) gilt das Interesse des neunten Kapitels, und das umfangreiche zehnte thematisiert Martin Luthers Dialektik der Vernunft (335–408). K. deutet vor dem Hintergrund der politischen Verstrickungen des Luthertums und seiner Obrigkeitshörigkeit die theologische Erklärung von Barmen als einen Schlüssel zur Zweireichelehre. Das letzte Kapitel entfaltet schließlich Grundzüge eines protestantischen Vernunftverständnisses. Ausgehend von Überlegungen zum Charisma der Rationalität (337–364) wird sodann das reformatorische Fundament eines Vernunftbegriffs (365–394) und schließlich die ratio bei Luther erörtert (394–408). Dabei ist es das Anliegen von K., eine »unproduktive« Abgrenzung »zwischen Glauben und Denken« (337) zu überwinden. Hierzu dienen nicht nur 14 Thesen zum neutestamentlichen Charismabegriff (338–340), sondern auch die Explikation eines Be­griffs des Denkens aus der Perspektive des Charismas der Rationalität (343–353). Vernunft und Rationalität werden von K. in einem weiten Horizont in den Blick genommen. Die Grenzen der Vernunft hat nicht nur der Königsberger Meisterdenker geltend ge­macht, schon der Wittenberger Reformator hat sie eingeschärft. Freilich ist es bei Letzterem die Negativität im Selbstverhältnis, welche die Reichweite der Vernunft begrenzt. Der Mensch ist Sünder, und von der Sünde ist auch die ratio nicht ausgenommen. Erst der Glaube führt folglich zum rechten Gebrauch der Vernunft als eine kritische Instanz. Deren theologische Aufbauelemente werden von K. in Auseinandersetzung mit Luther sowie der Philosophie der Moderne facettenreich diskutiert.
Insgesamt entfaltet die vorliegende Studie das kritische Vernunftpotential des Protestantismus im Anschluss an Luther auf eine engagierte Weise. K. lässt den Wittenberger Theologen ausführlich selbst zu Wort kommen. Zugleich werden die Linien ausgezogen zur Philosophie des Deutschen Idealismus und den Problemen von Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft. Auf diese Weise soll die Bedeutung von Kirche und Theologie für die Probleme der Gegenwart ausgelotet werden. »Kirche und Gesellschaft benötigen in ihrem je Eigenen den anderen.« (50.331)