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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1405–1407

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Henz, Günter Johannes

Titel/Untertitel:

Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung. 2 Bde. Bd. I: Persönlichkeit, Werkentstehung, Wirkungsgeschichte. Bd. II: Grundlagen und Wege der Forschung

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2014. Bd. 1: 679 S. Bd. 2: 800 S. m. 5 Abb. Geb. EUR 169,90. ISBN 978-3-428-14372-6.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Leopold Ranke, ab 1865 von Ranke (1795–1886), gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten deutschen Historikern. Allerdings hat Ranke bekanntlich sehr bewusst an seinem Bild für die Nachwelt gearbeitet. Sie sollte ihn so in Erinnerung bewahren, wie er selber es plante. Mit dieser Absicht hatte er über weite Strecken Erfolg. So wird er vielfach als »Begründer«, »Goethe« und »Papst« der Ge­schichtswissenschaft bezeichnet. Die zahlreichen kritischen, ja zum Teil vernichtenden Anmerkungen zu seinem Werk und seiner Wirkungsgeschichte sind dagegen weit weniger in der aktuellen historiographiegeschichtlichen Forschung präsent. Rankes Bild als Historiker und die Beurteilung seines Werkes leiden also an einem ungenügenden Wissen einerseits über das Werk selber und andererseits über Lebenszeugnisse und die Kritik der Zeitgenossen. Auch die Literatur über Ranke gilt mittlerweile als unüberschaubar. Günter Johannes Henz hat nun mit einem Opus magnum den Versuch unternommen, das bekannte Rankebild einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Auf der Grundlage von ca. 4000 Titeln und von Beständen aus ca. 70 Archiven bietet sein Werk eine deutliche Korrektur und Erweiterung des bekannten Rankebildes. Der Forscher und Autor Ranke erscheint in einem neuen Licht.
H. ist ein ausgewiesener Fachmann für Rankes Leben und Werk. Bereits in seiner Dissertation (Köln 1968) hatte er sich eingehend mit Ranke beschäftigt (Leopold Ranke: Leben, Denken, Wort; 1795–1814. Darstellende Untersuchungen und Edition. Mit allgemeinen archivalischen und bibliographischen Beiträgen). Im Jahr 2007/8 veranlasste ein Hinweis von H. auf zahlreiche Fehler in Band 1 der Gesamtausgabe des Briefwechsels von Leopold von Ranke die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften dazu, die Auslieferung dieses Bandes zu stoppen. Diese lebenslange Beschäftigung von H. mit Ranke dokumentieren die zu besprechenden Bände sehr deutlich. Sie enthalten eine ungeheure Fülle an zum Teil neuem Material zu dem Berliner Historiker.
Die beiden Bände gliedern sich in zwölf Teile (zwei und zehn). In den ersten neun Kapiteln, die zum ersten Teil gehören, beschäftigt sich H. unter der Fragestellung, ob Ranke ein Wissenschaftler oder ein Literat war, mit der Persönlichkeit und dem Werk des Berliner Historikers. Bereits in diesen einleitenden Ausführungen kann H. überzeugend darlegen, dass das herkömmliche Bild Rankes korrigiert werden muss. Interessant ist H.s Blick auf die Persönlichkeit Rankes, die von »Ungeduld und Hektik« (31) bestimmt war, die sich auch in seinen frühen historiographischen Schriften feststellen lässt. Diese Ungeduld und Hektik führt er u. a. auf die erst nach dem 40. Lebensjahr erfolgte Berufung zum ordentlichen Professor zurück. Bekanntlich ist auch von dem bis zum Jahr 1833 verfassten Schrifttum das »Allermeiste unvollendet« geblieben bzw. das »Er­scheinen wurde eingestellt« (32). Insbesondere weist H. in diesem Zusammenhang auch auf das Scheitern des ambitionierten Pro-jektes der seit 1832 von Ranke im preußischen Regierungsauftrag herausgegebenen Historisch-politischen Zeitschrift hin. »Von den 41 Beiträge[n] der HPZ verfaßte er selbst 24« (37), d. h. von den gut 1600 Seiten stammen zwei Drittel von ihm. »Freilich verdient dies keine Bewunderung, wie heute gelegentlich anklingt, sondern ist Ausdruck des Scheiterns« (37).
Ein Schwerpunkt dieses Abschnitts ist die historische Arbeit Rankes. Zu Recht macht H. an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass zu Ranke bei aller Genialität und fachlichen Professionalität auch tiefgreifende Schwächen gehören. Zu diesen Schwächen zählt H. eine »System-, Regel- und Konsequenzlosigkeit« (55), ein »geringes fachliches Theorie-Vermögen oder -Bedürfnis« (ebd.), ein mangelndes systematisches »Denken und Handeln« (56), eine Ordnungsschwäche und die Schwäche, anregende und geordnete Vorträge zu halten. Auch in der Geschichtsschreibung verweist H. auf Defizite bei Ranke. Dazu zählt er u. a. fachliche Mängel, wie die Quellen- und die Literaturbenutzung, das Verschweigen von Vorgängen oder eine gewisse Widersprüchlichkeit in den Aussagen auf, die sich beispielsweise darin äußerte, dass Ranke eine »Zurückstellung des Bekannten« zugunsten des von ihm »Selbstgefundenen« vornahm. Trotz dieser auch von vielen Zeitgenossen deutlich erkannten Defizite fühlte sich Ranke mit dem Verwissenschaftlichungsprozess der Geschichtsdisziplin in besonderer Weise verbunden. »In der Tat verstand er sich kaum als mitwirkend empfangenden und geprägten, vielmehr als führend gestaltenden und schöpferisch gebenden Teil ihres Entwicklungsprozesses« (81).
Bekanntlich sah Ranke in seinen frühen Schaffensjahren die Er­kenntnis Gottes als Aufgabe der Geschichtswissenschaft an. Durch seine historische Arbeit glaubte er, Gott zu dienen. Bekannt ist seine Vorstellung von einem »priesterlichen« (105) Historiker, hinter der bei ihm das Bewusstsein seines Erwähltseins steht. Wie bei Droysen verschwindet dieser religiöse Aspekt seines Geschichtsdenkens (bedingt durch den Einfluss des Neukantianismus) allmählich aus seiner Historiographie. Allerdings bleibt der »jenseitig geglaubte Gott« (85) weiterhin maßgeblich für sein Denken.
Sicherlich mit Recht betont H., dass bei Ranke das wissenschaftliche Suchen im »Dienst darstellenden Zeigens« (89) stehen. Dabei steht seine Ästhetik im Dienst des Publikums. Er will seinen Lesern keine fachwissenschaftlichen, sondern sprachlich anspruchsvolle Werke präsentieren.
Für Ranke war zeitlebens die Nähe zu Fürsten und einflussreichen Persönlichkeiten von zentraler Bedeutung. Daher ließ er keine Gelegenheit aus, sich bei den »Mächtigen brieflich bemerkbar zu machen« (98). Dem entspricht, dass er vor allem solche politischen Meinungen vertrat, die politisch opportun waren.
Im zweiten Teil seines Werkes beleuchtet H. die historiographische Arbeit Rankes im Kontext des Geschichtsdenkens seiner Zeit und ihrer späteren Wirkung. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Begründung der Geschichte als Wissenschaft. Ausführlich untersucht H. daher das Frühwerk (1824–1831) von Ranke, das verbunden ist mit der Gründungssage, nach der der Berliner Historiker mit seinem Werk Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 nebst der Beilage Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber aus dem Jahre 1824 die Geschichte als Wissenschaft begründet habe – eine Aussage, die schon zu Rankes Lebzeiten zu Recht infrage gestellt wurde. Ergänzend untersucht H. vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion Rankes Verständnis von wissenschaftlicher Objektivität und die Frage, ob sein Geschichtswerk als Kunstwerk verstanden werden muss. Wiederum äußert H. scharfe Kritik, vor allem an Rankes Objektivitätsverständnis. Daran schließt sich eine äußerst kenntnisreiche Übersicht über die höchst kontrovers verlaufene Wirkungsgeschichte von Rankes Historiographie an, die weit über die Historiographiegeschichte hinaus bis in die Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft reicht. Besonders lesenswert sind die Ausführungen zum Rankebild in der Zeit des Dritten Reiches. Der gängigen These, dass Ranke im Dritten Reich »alles andere als populär« (Schleier) gewesen sei, stellt H. zahlreiche Schriften entgegen, die das genaue Gegenteil belegen.
Der zweite Band bietet eine Fülle an Informationen: zu Werk, handschriftlichem Nachlass, zum veröffentlichten und unveröffentlichten Briefwechsel mit etwa 650 Korrespondenten, wissenschaftlichen und politischen Denkschriften, Vorlesungen und Übungen, Vorträgen und Ansprachen, Begegnungen und Gesprächen. Der Band schließt mit einer Bibliographie, die einmal eine chronologische Werkübersicht (1824–1886) und zum anderen ein umfassendes Literaturverzeichnis bietet.
Die Bemerkungen mögen genügen, um den Reichtum der Ge­danken, die in den beiden Bänden enthalten sind, anzudeuten. Sie setzen zweifelsohne neue Impulse für die zukünftige Forschung. Für die Denkanstöße kann man dankbar sein.