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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1398–1402

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Küttler, Thomas

Titel/Untertitel:

Umstrittene Judenmission. Der Leipziger Zentralverein für Mission unter Israel von Franz Delitzsch bis Otto von Harling.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 308 S. m. Abb. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-374-02710-1.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Das Buch stellt das Wirken von Otto von Harling (1866–1954) dar, der von 1903 bis 1935 mehr als 30 Jahre lang Leiter des Leipziger Zentralvereins für Mission unter Israel und Direktor des Institutum Judaicum war, das heute unter dem Namen Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster weiterlebt. In dieser Doppelfunk-tion war Harling Repräsentant der deutschen Judenmission in Deutschland und auf europäischer Ebene in der verhängnisvolls­ten Zeit der Beziehungen zwischen der evangelischen Kirche und dem Judentum.
Thomas Küttlers Buch ist keine wissenschaftliche Biographie. Die einzelnen Kapitel sind zum Teil zuvor in der Zeitschrift Begegnungen erschienen. Sie folgen nicht streng der zeitlichen Ordnung, sondern greifen häufig zurück und voraus, enthalten viele Wie-derholungen, werden durch selbstkritische Bemerkungen unterbrochen. K. stützt seine Darstellung auf die Zeitschriften Saat auf Hoffnung, die von 1863 bis 1933 erschien und dann verboten wurde, und Friede für Israel, die mit Harlings Anstellung am Leipziger Zentralverein 1903 begann und mit seiner Emeritierung 1935 endete. Außerdem greift er auf die 1950 erschienenen Lebenserinnerungen v. Harlings, auf die Protokolle der Direktorialsitzungen und auf landeskirchliche Akten zurück. Schließlich stand ihm der Nachlass v. Harlings zur Verfügung. Beigegeben ist eine Reihe von Bildern. Ein Verzeichnis der Literatur und ein Register der behandelten Personen fehlen.
Entgegen der durch den Buchtitel geweckten Vermutung, es würde eine Geschichte der Leipziger Judenmission von den Anfängen bis zu ihrem Ende gegeben, wird im Anfangskapitel Franz Delitzsch (1802–1890), der den Zentralverein und das Institut für missionarische Judentumskunde gründete, nur kurz gewürdigt. Dass dem 1871 gegründeten Leipziger Zentralverein ein Evangelisch-lutherischer Missionsverein für Israel in Sachsen und Bayern vorausging, wird merkwürdigerweise nicht erwähnt, so wenig man dies in dem Artikel Judenmission in der TRE erfährt. Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Saat auf Hoffnung, für K. die Hauptquelle neben der anderen, seit 1903 erscheinenden Zeitschrift Friede für Israel und den 1950 erschienenen Lebenserinnerungen Otto von Harlings, erschien als Organ diese Vereins seit 1864 und wird von K. nur mit den nach der Gründung des Zentralvereins erschienenen Bänden zitiert. Ob es Meinungsverschiedenheiten zwischen von Harling und Becker, dem Vorsitzenden des bayerischen Vereins gegeben hat, die zur Gründung des Leipziger Zentralvereins führten, wüsste man gern. K. lässt auch die 13-jährige Zeit, in der nach dem Tod von Delitzsch Dalman und andere den Zentralverein leiteten, aus.
Das Buch hat apologetischen Charakter. K. geht davon aus, dass »Judenmission« in der evangelischen Kirche zum Unwort geworden ist. Nach der Schoah gelte Judenmission als ein Hindernis für das christlich-jüdische Gespräch, ihr werde ein besonderer Platz in der Schuldgeschichte der evangelischen Kirche zugewiesen. Demgegenüber kämpft K. für Gerechtigkeit im Urteil über die Judenmission. An mehreren Stellen äußert er sich empört über »viele verzerrte, ungerechte und fahrlässig falsche Urteile in der Kirchengeschichtsschreibung« (255, vgl. 133, Anm. 27; 223, Anm. 18; 247, Anm. 27 u. ö.). Doch es geht ihm nicht um »eine Wiederbelebung der alten Judenmission als einer wie auch immer organisierten Aktivität der Kirche«. Vielmehr will K. das segensvolle Wirken der Judenmission vor der Vergessenheit bewahren.
K. erwähnt die Anfänge der organisierten Judenmission, die er richtig auf die London Society for Promoting Christianity amongst the Jews 1808 zurückführt. Judenmission begann in Deutschland unter englischem Einfluss in der Erweckungszeit des frühen 19. Jh.s, hat in Berlin und Köln ihre unierten, in Basel ihre pietistischen Anfänge. Konfessionell lutherische Judenmission bildet sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s heraus, nachdem die skandinavischen Länder hier vorausgegangen waren. Der Schwerpunkt der Judenmission lag bei den vielen in England, später in den USA gegründeten Judenmissionsgesellschaften.
Der aus dem Hannoverschen stammende, allem preußischen Unionismus und auch dem Nationalismus der Reichsgründung fernstehende Harling trat als Leipziger Theologiestudent 1890 ins Institutum Judaicum ein. Zusammen mit einem norwegischen Freund wurde er nach Rumänien geschickt, wo die norwegische Mission ihren Schwerpunkt hatte. 1893 heiratete Harling Ragnhild Gjessing, eine Cousine seines Freundes, und nahm sie mit nach Rumänien, wo sie in Galatz eine »Protestantisch-israelitische Mädchenschule« errichteten. Die Kinder sollten in der Schule jüdisch denken und fühlen lernen, für den Hebräisch-Unterricht wurde ein jüdischer Lehrer angestellt. Es ging nicht um Gewinnung von Proselyten, sondern um »Saat auf Hoffnung«. D. h., die Schule sollte der Annäherung von Christen und Juden dienen, denen nach dem Verständnis von Delitzsch eine gemeinsame heilsgeschichtliche Zukunft bevorstand. Die norwegische Judenmission, die be­trächtlichen Einfluss auf den Leipziger Zentralverein besaß, erreichte 1903 bei der Neubesetzung der Stelle des Leiters, dass der jeden akademischen Titel entbehrende Pastor Harling berufen wurde.
In Kapitel 1 Die Gründung im 19. Jahrhundert blickt K. auf De­litzschs Impuls zur Judenmission zurück. Delitzsch gab ihr ein doppeltes Ziel. Einmal sollte sie einzelne Juden durch den Glauben an Jesus Christus retten. Zugleich aber sollte sie der Rettung ganz Israels im Sinne von Röm 11,26 dienen. Während das erste Ziel die Aufgabe jeder Judenmission war, blieb das zweite Ziel, die Errettung Israels, Gottes Werk. Delitzsch dachte an eine nicht zu ferne Zukunft und stand einem heilsgeschichtlichen Chiliasmus nahe. Dieses zweite Ziel setzte aber den Fortbestand Israels als Volk voraus. Es war eine Besonderheit der Leipziger Judenmission, dass sie bessere Kenntnis von Israel und seiner Geschichte in der Kirche verbreiten wollte. Deshalb gründete Delitzsch 1886 das Institutum Judaicum, ein akademisches Institut zur Judentumskunde. Im Unterschied zu der rein lutherischen Leipziger Mission war das Institutum Judaicum überkonfessionell, auch international ausgerichtet. Hier wurden Berufsarbeiter nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern ausgebildet, vor allem aus Skandinavien, auch aus den Niederlanden und aus England.
Das Institutum Judaicum forschte über das Judentum in seinen beiden großen Richtungen: dem orthodoxen Judentum, das im osteuropäischen Raum dominierte, in den die Leipziger Mission ihre Missionsarbeiter entsandte, und dem Reformjudentum, das in Deutschland die Mehrheit bildete. Dem liberalen Judentum, das die Emanzipation mit der Assimilierung und dem Aufgehen im deutschen Volk verband, schenkte die Leipziger Judenmission wenig Beachtung. Gegenüber dem nicht seltenen Taufbegehren war man zurückhaltend. Verglichen mit anderen Judenmissionsgesellschaften kann man nach der Zahl der Taufen den Leipziger Zentralverein für bedeutungslos halten. Er wollte nicht Juden zum christlichen Glauben führen, die ihr Judesein aufgaben und sich der deutschen christlichen Gesellschaft assimilierten. Damit würde die aufgehende Saat keine Saat auf Hoffnung sein, nicht die Bekehrung des Volkes Israel vorbereiten. Der Begriff »Christen jüdischer Herkunft«, den wir heute auf konvertierte Juden und ihre Nachkommen anwenden, wird von K. so gut wie nie gebraucht. Getaufte Juden sollten Juden bleiben, Vorboten des Volkes Israel. Das Interesse der Leipziger Judenmission galt dem am Fortbestand des eigenen Volkes interessierten orthodoxen Judentum talmudischer und chassidischer Richtung. Die Evangelisierung der Ostjuden führte vereinzelt zu Gemeinschaften an Jesus glaubender Juden, was vielfältige Probleme brachte. Sollten diese an der Beschneidung und am Gesetz festhalten? Hier gab es unterschiedliche Antworten und manche Kontroversen. Man fühlte sich verwandt mit Joseph Rabinowitsch, dem Begründer der messianischen Juden in Bessarabien.
In Kapitel 2 Die Entfaltung vor dem Ersten Weltkrieg schildert K. die Blütezeit, in der sich der Antisemitismus noch in Grenzen hielt. Am Institutum Judaicum lehrten und lernten vor dem Ersten Weltkrieg Juden und Nichtjuden. Der aus der Moldau stammende Jechiel Lichtenstein (1851–1912), ein Schwager von Josef Rabinowitsch, der in London die Taufe empfangen hatte, verband die Ge­danken des Chassidismus mit dem Neuen Testament. Dass die Leipziger Judenmission für Spenden zugunsten der 1905 in Russland bedrängten Juden aufrief, die an das Bankhaus Cohn in Berlin »als ein Zeichen christlicher Liebe« gesandt werden sollten, schuf ihr in der kirchlichen Presse keine Freunde. Große Aufmerksamkeit schenkte sie den Anfängen des Zionismus, der als eine nichtreli-giöse, nationale Bewegung zunächst ambivalent beurteilt wurde, nach seiner Absage an das Projekt Uganda und der Zielrichtung Palästina immer stärker ins Licht trat. Als Martin Buber dem Zionismus ein religiöses Gepräge gab, wurde die Auseinandersetzung mit dem Zionismus das alles beherrschende Thema der Leipziger Judenmission und blieb es bis ans Ende.
Kapitel 3. Der Einschnitt durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen: Die vier deutschen Judenmissionen wurden durch den Krieg von den internationalen Missionskonferenzen getrennt und schlossen sich zu einer Missionskonferenz zusammen, auf der der Leipziger Mission die Hauptrolle zufiel. Von der allgemeinen Kriegsbegeisterung hielt man sich fern, weil Juden auf allen Seiten kämpften. Zum Reformationsjubiläum 1917 erinnerten die Missionen an Luthers frühe Judenschrift von 1523, doch brachte Erich Schaeffer, Leiter der vom Stoeckerschen Antisemitismus nicht unberührten preußischen Berliner Mission, für Luthers Spätschriften einiges Verständnis auf, während sie Harling eindeutig verurteilte. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der Antisemitismus zu einer breiten, auch die Kirche erfassenden Bewegung an. Eine Versammlung der Leipziger Pfarrerschaft 1920, für die man Gott um »eine geschlossene christliche Front von Stoecker bis Delitzsch« bat, formulierte Leitsätze zur Judenfrage, wobei es Harling nicht gelang, antisemitische Formeln zu verhindern. Für K. ist das der schwärzeste Tag in Harlings Leipziger Zeit.
Kapitel 4. Die Auseinandersetzungen und Aufbrüche der späteren Weimarer Zeit: Immer mehr wurde der von Delitzsch begonnene Kampf gegen den Antisemitismus zur Hauptaufgabe der Judenmission. K. bewertet als eine »vertane Chance einer gemeinsamen Front gegen den Antisemitismus«, dass man sich nicht mit dem vom liberalen Theologen Eduard Lamparter geführten »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« verbinden konnte. In der Judenmission wuchsen Überlegungen, den für die Juden anstößigen Begriff Mission aufzugeben und stattdessen von Evangelisierung zu sprechen. In Stuttgart kam es im März 1930 bei einer Tagung der vier Judenmissionen zu einer schicksalhaften Begegnung mit Martin Buber und dem Zionismus. Buber verhehlte nicht seine Gegnerschaft gegen die Judenmission, sprach aber in Tönen, die man im Gespräch zwischen Christen und Juden bisher nicht gehört hatte:
»Vormessianisch sind wir schicksalsmäßig getrennt. […] Euch und uns, jedem geziemt es, den eigenen Wahrheitsglauben, das heißt das eigene Realverhältnis zur Wahrheit, unverbrüchlich festzuhalten; euch und uns, jedem geziemt die gläubige Ehrfurcht vor dem Wahrheitsglauben des andern. Das ist nicht, was man ›Toleranz‹ nennt: es ist nicht an dem, das Irren des anderen zu dulden, sondern dessen Realverhältnis zur Wahrheit anzuerkennen.«
K. sieht in der Begegnung mit Buber den Höhepunkt von Harlings Wirken. Auf dieser Tagung sei eine lang erstrebte Auseinandersetzung von Kirche und Synagoge durch Begegnung ihrer Vertreter erreicht worden.
Kapitel 5. Das Ende der Judenmission in der Zeit der NS-Diktatur: Die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Judenmission für ein Verbrechen am deutschen Volk erklärten und Ende 1933 die Zeitschrift Friede für Israel verboten, führte zum Ende der Leipziger Judenmission. Niemand forderte 1933 die evangelische Kirche so dringend zu einem Eintreten für die Juden auf wie die Vertreter der Judenmission. Doch fühlte man sich gegenüber der vom nationalen Aufbruch erfassten Kirche isoliert. Harling trat im Jahre 1935 in den Ruhestand, ihm folgte kurzfristig Hans Kosmala. Der Zentralverein löste sich Ende 1935 selbst auf. Das Institutum Judaicum konnte nach Wien verlagert werden.
Der Schlussteil 6. Nachwirkungen handelt von der zeitweiligen Wiedergründung des Vereins und der Verlegung des Institutum Judaicum Delitzschianum nach Münster.
Ein abschließendes Urteil über dieses Buch muss den partikularen Charakter der Leipziger Judenmission, die nicht mit der gesamten kirchlichen Judenmission gleichzusetzen ist, berücksichtigen. Dass die Berliner Judenmission bis 1941 weiterexistieren konnte, wo sie in der Messiaskapelle in der Kastanienallee noch eine große Zahl von Judentaufen vornahm, wird nicht erwähnt. Hinter der Leipziger Judenmission standen einzelne, auch freikirchliche Ge­meinden, nicht die kirchliche Obrigkeit, die vom Stoeckerschen Geist geprägt war. Ganz anders standen die lutherischen Kirchen Skandinaviens geschlossen hinter der Judenmission und haben sich in der Zeit der NS-Diktatur rühmlich für die verfolgten Juden eingesetzt. Der Rezensent erinnert sich eines bei der norwegischen Israelmission tätigen Studienfreundes, der ihm auf die Behauptung, als Deutscher könne man nicht mehr für Judenmission sein, antwortete: »Also wieder mal soll die Welt am deutschen Wesen genesen.« Die Norske Israelmission besteht noch heute und wirkt ungehindert in Israel.
K. widerspricht nicht dem Rheinischen Synodalbeschluss von 1980, hält ihn aber für unzureichend und kritikwürdig. Deutlich widerspricht er evangelischen Theologen, die den ungekündigten Bund Gottes mit Israel so verstehen, dass das Evangelium den Ju­den nicht zu verkündigen sei. Er endet mit der eindrücklichen Mahnung, die Kirche solle für das messianische Judentum offen sein. K. ist Enkel von Harling, als Superintendent von Plauen war er der Sprecher einer der ersten großen Demonstrationen, die den Untergang der DDR einleitete. Sein Buch ist mehr als eine Erinnerung an die Leipziger Judenmission. Seine Stimme sollte in der EKD gehört werden.