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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1396–1398

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Fischer, Martin

Titel/Untertitel:

Dienst an der Liebe. Die katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung in der DDR.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2014. XXXVI, 352 S. = Erfurter Theologische Studien, 107. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-03676-8.

Rezensent:

Martin Naumann

Die Publikation von Martin Fischer ist eine Dissertation, die durch ein Gespräch mit Hans Donat inspiriert wurde und durch die beiden Hochschullehrer Josef Pilvousek (Erfurt) und Josef Römelt (Erfurt) wesentliche Anregungen und Begleitung erfuhr. Eingereicht und angenommen wurde die Arbeit im Herbst 2013 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.
Mit der Betrachtung der katholischen Ehe-, Familien- und Le­bensberatung (EFL) in der DDR begibt sich F. auf ein noch unbearbeitetes Feld der Erforschung eines konkreten Handlungsspielraumes der katholischen Kirche in der DDR, sind doch bis jetzt in der Hauptsache Arbeiten zu Institutionen, Strukturen und Einzelpersonen erschienen. Es gibt zwar einige wenige Darstellungen aus westdeutscher Perspektive, aber eine Untersuchung zur konkreten Ausgestaltung der EFL lag zum Zeitpunkt des Entstehens noch nicht vor. F. hat es sich dabei zur Aufgabe gemacht, historische, gesellschaftspolitische und theologische Aspekte zu berücksichtigen, um damit »einen Beitrag für ein umfassendes Verständnis der katholischen Kirche in der DDR« (1) zu leisten, ohne die Geschichte der katholischen Kirche in der DDR neu schreiben zu wollen. Mit der Seelsorge nimmt F. ein »Herzstück kirchlichen Handelns« (2) in den Blick, das sich allerdings, und darauf weist er hin, einer Analyse, ob sie tatsächlich in der Lage war, partnerschaftliche Konflikte oder andere Lebenskrisen bewältigen zu helfen, entzieht. (10) Diese Schwierigkeit liegt schon in der behandelten Thematik begründet, stellt Seelsorge doch einen derart sensiblen Bereich dar, in dem aus guten Gründen von späteren Befragungen zum Erfolg abgesehen wird und auch die Seelsorger einer besonderen Verschwiegenheit unterliegen. Die zahlreichen Biogramme in den Fußnoten erleichtern es, die genannten Personen besser einzuordnen, ein Personen- oder Ortsregister fehlt leider.
Die Arbeit gliedert sich in insgesamt vier Hauptkapitel, die von einer Einleitung (1–11), die den Forschungsgegenstand, den Forschungsstand, die Quellenlage sowie den Aufbau und die Methodik des Themas umreißt, und einem die wesentlichen Erkenntnisse aufgreifenden Resümee (343–351) gerahmt sind. Im ersten Hauptteil (»Ausgangslage«, 12–90) wird ein »klares Bild des Verständnisses von Ehe und Familie« entworfen, »wie es im Sozialismus der DDR vorherrschte« (13). Dabei arbeitet sich F., unter Zuhilfenahme ge­setzlicher Be­stimmungen, an Themen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem Verhältnis von Familienleben und Arbeitswelt in einer Gesellschaft mit Anspruch auf Vollbeschäftigung und sich daraus ergebenden Veränderungen im Familienbild ab. Die Verpflichtung der Frau zu arbeiten zog eine Vielzahl von Konsequenzen nach sich (zeitliche Mehrbelastung, finanzielle Unabhängigkeit), die ihrerseits wiederum eine Erklärung für den Rückgang der Geburtenzahlen und den Anstieg der Scheidungen liefern könnten. Gegen dieses Bild von Ehe und Familie im Sozialismus der DDR stellt F. die Sicht der katholischen Kirche, deren theologisch be­gründetes Verständnis selbst durch die Auseinandersetzung mit der modernen Umwelt einem deutlichen Wandel unterzogen war, wie die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils erkennen lassen, an denen ein »schwer zu überschätzender Paradigmenwechsel theologischer Ethik« (47) deutlich wird. Zusammen mit der Enzyklika Humanae vitae, mit ihrem verändertem Eheverständnis, bilden sie die Grundlage für die Einrichtung einer katholischen EFL, die gleichermaßen den Anforderungen einer sich modernisierenden Umwelt gerecht werden musste. Die Entstehung der EFL (Kapitel 2, 91–170) kann bis in die Weimarer Republik zurückverfolgt werden, deren institutionelle Einrichtung von den Diskussionen um eine positive und negative Eugenik genauso wie von den sich daraus ergebenden gesetzlichen Regelungen (Personenstandsgesetz 1920) beeinflusst war. Diese staatlichen Beratungsstellen, die Heiratswillige unter Berücksichtigung der Volksgesundheit berieten, entwickelten sich schnell zu reinen Sexualberatungsstellen, was an den geringen Zahlen der Ratsuchenden in Ehefragen nachzuweisen ist. Die Reduzierung auf Sexualberatung, inklusive einer Beratung zur Schwangerschaftsverhütung, führte »zur vehementen Forderung« (116) nach einer eigenen katholischen Eheberatung, die gleichzeitig die katholische Vorstellung von Ehe und Partnerschaft transportieren sollte. Spätestens mit der Enzyklika Casti connubii von 1930 wurden Maßnahmen negativer Eugenik, besonders die der Sterilisation, abgelehnt. (125) In der Zeit des Nationalsozialismus wurden schon im Mai 1933 alle Sexualberatungsstellen der Vereine und Verbände geschlossen. Die konfessionellen Beratungsstellen blieben noch bis zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« 1934 bestehen. Danach waren die Gesundheitsämter allein für die »Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung« (129) zuständig, die ganz »unter die Funktion der NS-Rassenideologie gestellt« (132) wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Beratungsstellen wiedereingerichtet werden. Auf dem Gebiet der DDR waren es zuerst die staatlichen, die mit dem Familiengesetzbuch von 1965 erstmals einen gesetzlich definierten Rahmen erhielten und deren thematischer Schwerpunkt die Empfängnisverhütung war, was gleichsam wieder eine Verschiebung von Ehe- zu Sexualberatung bedeutete. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Einführung der Antibabypille in der DDR 1965. Anlass für die Grün-dungen katholischer Beratungsstellen war die Reaktion auf die Instruktionen zum Schwangerschaftsabbruch, die vom Ministe-rium für Gesundheitswesen der DDR 1965 erlassen worden waren. Die Gründe allerdings waren vielgestaltig: steigende Scheidungszahlen, berufstätige Frauen, staatliche Sexualberatungsstellen etc. Den letztendlichen Ausschlag gab der Beschluss der Berliner Ordinarienkonferenz Anfang Februar 1966, der den Beginn der Errichtung von Ehe- und Familienberatungszentren vorsah. Diese An­fangszeit war sehr stark mit dem persönlichen Engagement Einzelner, z. B. des Görlitzer Pfarrers Dr. Paul Schimke, und nicht mit strukturellen Formen verbunden und entfaltete sich auf über-diözesaner Ebene in Form einer Arbeitsgemeinschaft, die die Ausbildung von Beratern vorantrieb. Diese Eheberaterausbildung (3. Kapitel, 171–236) fand in sechs Kursen zwischen 1969 bis 1993 statt, die insgesamt 180 Ehe- und Familienberaterinnen und -berater hervorbrachte. Die ersten drei Kurse waren noch deutlich von den Kirchen in der Bundesrepublik mitverantwortet. Der 1977 be­ginnende Kurs setzte dann strukturell und inhaltlich neue Standards: Den Bischöfen wurde auf eigenen Wunsch ein stärkerer Einblick in die Inhalte der Beratungsausbildung gewährt (190); die Rücksprache mit den Seelsorgeämtern wurde intensiviert; die Auswahl der Teilnehmer wurde am Bedarf ausgerichtet, um den Ausgebildeten eine Perspektive für den Einsatz zu gewährleisten; die Möglichkeit der Supervision wurden eingerichtet; inhaltlich fanden »kirchliche Ehefragen sowie moraltheologische und pastorale Fragen« (191) stärker Berücksichtigung. Die folgenden selbständig in der DDR verantworteten Kurse sahen sich Problemen gegenüber, die aus den schwierigen gesellschaftlichen Umständen in der DDR resultierten und besonders die Felder Lehrplan, Supervision und das Gewinnen qualifizierter Referenten prägten. Dass im Hintergrund eine Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Theologie und (Tiefen-)Psychologie in der Beratungsausbildung herrschte, sei nur erwähnt. Wichtiger ist die Einbettung in die pastorale Struktur der Ortskirche und ihre Ansiedelung innerhalb der jeweiligen Seelsorgetätigkeit, die F. erst für die überdiözesane Ebene und zum Abschluss für alle ostdeutschen Diözesen darstellt (253–342).
Insgesamt leistet F. einen nicht unerheblichen Beitrag zur weiteren Erforschung der Geschichte der katholischen Kirche in der DDR, der gleichzeitig auch theologische Debatten innerhalb der katholischen Kirche berücksichtigt.