Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1394–1396

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wels, Volkhard

Titel/Untertitel:

Manifestationen des Geistes. Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2014. 403 S. m. 12 Abb. = Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, 17. Geb. EUR 54,99. ISBN 978-3-8471-0214-4.

Rezensent:

Uwe Gerber

Gegenstand dieses durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Buches von Volkhard Wels sind die protestantischen Kontroversen um den Spiritualismus im Umbruch in die Neuzeit. Der Begriff des Spiritualismus »bezeichnet dabei die Annahme einer Gegenwart des göttlichen Geistes […] in dieser Welt, im mensch-lichen Körper und in der Natur. Diese Gegenwart des Geistes spielt für die Theologie, die Naturphilosophie, die Medizin, die Magie, Kabbala und Alchemie, aber auch, als göttliche Inspiration, für das Selbstverständnis der Dichtung eine wichtige Rolle« (7). Wer von diesen Anwälten des göttlichen Geistes soll die Oberhoheit im Zugang zum Geist Gottes haben: der an das Bibelwort gebundene Glaube im Sinne Luthers, eine spiritualistische Weltwahrnehmung durch Inspiration oder die sich hermeneutisch-philologisch und aristotelisch-naturphilosophisch methodisierende Vernunft? Wo manifestiert sich der »wahre« Geist: im Glauben durch das »äußere« Wort der Evangeliumsverkündigung (Luther) oder in Inspirationen durch das »innere« Wort, oft verbunden mit schwärmerischen und enthusiastischen Geist-Erlebnissen, auch mit der geistgenerierten Materie und dem geistdurchströmten mensch-lichen Körper (z. B. Paracelsus), oder in einer rational-naturalis-tischen Naturphilosophie (z. B. Melanchthon)? Hat demnach der von Christus getriebene Bibelinterpret oder der aristotelische Professor oder gar der paracelsische Magier Recht? Grundsätzlich kann man fragen: Wort-Glaube oder Rationalismus oder Spiritualismus in seinen Varianten? (346)
War Luthers frühe Theologie von Mystik und Nachfolgefrömmigkeit, also auch gemäßigt spiritualistisch geprägt, so band er später Geistoffenbarung und Glauben an das ›äußere‹ Wort, auch um die Ansprüche vor allem der tendenziell separatistischen Täufer auf unmittelbaren Geistempfang zurückzuweisen. Der Effekt war dauerhaft ein doppelter: einerseits der Weg zu einer akademischen Theologie und andererseits auf der opponierender Rückseite der Weg in ›gelebte Frömmigkeit‹, der vom gemäßigten Spiritualismus eines Arndt bis zu Arnolds 1698 vollzogenem »Auszug aus Babel« der Gießener Universität reichte (55). Der hierfür kreierte neue Religionsbegriff der »Enthusiasten« drängte das reformatorische »Ideal der Schriftgelehrsamkeit« und Lehre zurück (56.84 ff.), so dass z. B. von Franckenberg 1649 antike Gnostiker zur Lektüre empfahl und die Beschäftigung mit der Kabbala (so schon der Humanist Reuchlin gegen den ›rationalistischen‹ Humanisten Melanchthon) und die Beschäftigung mit Magie für unentbehrlich hielt. Die zwischen Luther und Melanchthon differente Bewertung des Verhältnisses von Offenbarung und Vernunft führte dann zu Be­ginn des 18. Jh.s zum Auseinanderbrechen von vernunftorientierter Aufklärung und »frommem« Pietismus, von einer lutherisch- orthodoxen Vernunft-Theologie einschließlich des Pantheismus und Deismus einerseits und einer antitheologischen Herzensfrömmigkeit andererseits.
Zwei konkrete Beispiele zum Spiritus-Ratio-Gegensatz sollen stellvertretend aus der immensen Stofffülle genannt werden: Während Luther »die Wirksamkeit von Medikamenten oder medizinischen Therapien grundsätzlich in Frage stellte und Heilungserfolge nur von Gebet und Glauben erwartete«, also eine unmittelbare Wirksamkeit Gottes in der Natur »in der Nähe spiritualistischer Positionen« annahm (9), setzte Melanchthon mit seiner na­turalistischen, antispirituellen Naturphilosophie auf natürliche, »mechanistische« Wirkungen (109 ff.). Dann auf die Astrologie bezogen: Hier stehen sich Luthers Ablehnung jeder astrologischen Determination (wie bei dem Renaissancephilosophen Pico della Mirandola) und Melanchthons »medico-astrologische Begründungen« zur Verlegung der Abreise des kranken Luther 1540 um einen Tag aufgrund des Neumondes gegenüber.
Aus den weiteren spannenden Kapiteln soll noch auf dem Hintergrund dieses gezeigten Gegensatzes die »poetische Transformation der alchemistischen Arkansprache« behandelt werden. Als Beispiel wird Michael Maiers Atalanta fugiens von 1617/18 herangezogen (228). Diese Schrift gilt manchen modernen Esoterikern als Dokument eines hermetischen Okkultismus. Der Vf. hingegen bestimmt sie gerade nicht spiritualistisch und paracelsisch, sondern – humanistisch – als dichterische Umbildung einer unauffälligen, aristotelischen Alchemie und lutherischen Theologietradition (189 ff.). Ebenfalls zum gemäßigten Spiritualismus gehören die fiktionalen Rosenkreuzer-Manifeste von Andreae (1614/16), einem Vorläufer des Pietismus, ebenso wie Arndts Schriften zum Wahren Christentum (233 ff.). Die Rosenkreuzerschriften wurden, ähnlich wie die ›Atalanta‹, von antirationalistischen Rezipienten eher magisch und paracelsisch gelesen. In der damaligen irenischen Dichtung als Repräsentation »verborgener Theologie« etwa in dem »Buch der deutschen Poeterey« von 1624 von Martin Opitz ging es um überkonfessionelle Frömmigkeit neben oder zwischen den extrem spiritualistischen anti-theologischen wie naturphilosophischen Strömungen einerseits und der akademisch-abstrakten Theologie andererseits. Es handelt sich um Erbauungsliteratur zum »Seelenheil der Menschen«, zu Meditation und Seelenführung (Psychagogik) (345 ff.). Dabei drückt der Begriff der »verborgenen Theologie« am Beginn des Dreißigjährigen Krieges eine irenische Gesinnung aus und soll eine Einheit im Gegensatz zur zersplitternden dogmatischen Theologie anzeigen. Hier können sich ein irenischer Calvinismus und lutherische Frömmigkeit Arndtscher Prägung in ihrer Ablehnung der gelehrten Theologie treffen, wobei Ersterer nicht notwendig eine Ablehnung weltlicher Gedichte impliziert.
Wie ging es weiter? Ein Ausblick zur lutherischen Schöpfungstheologie, zu Deismus und Pan(en)theismus bis zu Goethes das Christentum ablehnendem dichterischen Pantheismus in der Tradition christlicher Erbauungsliteratur zeigt das Ringen um die Weise der Präsenz Gottes bzw. deren Ersetzung durch die andere Form der Wahrheit, nämlich der ›natürlichen‹ Vernunft. Der Philosoph Wolff entwickelte eine theologia naturalis mittels der ›natürlichen Vernunft‹ zwar in Abgrenzung gegen die theologia revelata, bestreitet aber nicht deren Überlegenheit über die natürlichen Vernunftwahrheiten. Und 1754 entwarf Reimarus in seinen »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« ausschließlich »aufgrund von Vernunftschlüssen die Lehrsätze einer solchen ›vernünftigen‹ Theologie, die […] im Gegensatz zu der ›unnatürlichen‹, weil auf einer angeblichen Offenbarung beruhenden, christlichen Theologie« (steht) (349). Der Rationalismus der Philosophie wendet sich jetzt gegen die Bibel selbst. Pate steht mit »Nathan der Weise« der »Glauben an die erlösende Kraft der menschlichen Vernunft«, so dass der Glaube an eine unmittelbare Offenbarung Gottes unter Ausschaltung der Vernunft als Weg in Intoleranz, Fundamentalismus und Fanatismus entlarvt wird. Offenbarung ist in Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« die Geschichte der Menschheit. »Die Herrschaft der Vernunft – so autoritär wie nur je die Herrschaft der Schrift gewesen war – duldete keine anderen Autoritäten neben sich.« Und »dieser Glaube an die menschliche Vernunft ist der blinde Fleck der ›Aufklärung‹« (350). Zugleich mit der »aufklärerischen« Desavouierung der Bibel wurde der Pietismus stark mit seiner »Berufung auf die ›innere‹ Stimme Gottes im Herzen der Menschen«. So stehen am Beginn der Moderne drei »Mächte« nebeneinander: die rational betriebene Theologie, der gemäßigte Spiritualismus der »Herzensfrömmigkeit« und dessen radikale randständige Variante als Esoterik, Mystik, Hermetismus, Spiritismus, Okkultismus (351).
Dieses quellenreich und profund arbeitende, die Stofffülle spannend präsentierende und klar diskutierende Buch zieht eine oft vergessene Linie von Luthers Widerstreit zwischen seinem spiritualistisch-mystischen und theologisch-wissenschaftlichen Anliegen und seinem Abstand zum Aristoteliker Melanchthon bis zum Auseinandertreten von Aufklärung und Pietismus. Es ist eine Fundgrube zu den ausgedehnten Kontroversen um Spiritualismus-Naturalismus-Rationalismus im Luthertum in der beginnenden Neuzeit.