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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1392–1394

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Maurer, Michaela, u. Bernhard Schneider[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein »edler Wettkampf der Barmherzigkeit«?

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 411 S. = Religion – Kultur – Gesellschaft, 1. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-12003-8.

Rezensent:

Rajah Scheepers

Inwiefern konkurrierten die Konfessionen im langen 19. Jh. nicht nur um Gläubige, sondern auch um die Effizienz und das Ausmaß sozialen Hilfehandelns? Bereicherten sich die Kirchen in diesem Gebiet gegenseitig oder behinderten sie sich? Diesen und vielen anderen spannenden Frage- und Themenstellungen geht der anzuzeigende Band nach.
Dabei handelt es sich um den ersten Band einer neuen Reihe, die bei LIT unter der Überschrift »Religion – Kultur – Gesellschaft« erscheint und in ökumenischer Verbundenheit von Thomas Kuhn (Greifswald) und Bernhard Schneider (Trier) herausgegeben wird. Diese Reihe möchte Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums in Neuzeit und Moderne präsentieren und lässt somit, ähnlich wie die bei Kohlhammer erscheinende Reihe »Konfession und Gesellschaft« (ebenfalls ein ökumenischer Herausgeberkreis) neue Erkenntnisse über die Prägekraft des Christentums für die sozialen und kulturellen Entwicklungen – und umgekehrt – erwarten. Es geht also um das wechselseitige Verhältnis von Religion, Kultur und Gesellschaft. Dies geschieht explizit, so das Vorwort der Herausgeber zu dieser Reihe, mit dem Impetus, »Religion als eine zentrale Kategorie eigener Dignität in der Geschichte anzuerkennen und sie nicht als Randaspekt anderer gesellschaftlicher Kategorien (bes. Politik) zu behandeln.« (9)
Der hier anzuzeigende Band geht auf eine Tagung des DFG-Sonderforschungsbereiches 600 »Fremdheit und Armut« der Universität Trier zurück. Der katholische Kirchenhistoriker Schneider verantwortet dort das Teilprojekt »Armenfürsorge und katholische Identität«. Wie er in seiner Einleitung und Zwischenbilanz, die den Band eröffnet, herausstellt, ist es ihm ein Anliegen, die »lange vernachlässigte Rolle des religiösen Faktors in der sozialen Arbeit« sowie die »religiösen bzw. konfessionellen Wurzeln der Wohlfahrtsstaatlichkeit« zu fokussieren (14). Für Deutschland sei, so eine seiner Thesen, dabei die Bikonfessionalität ein bestimmender Faktor einerseits in der Konkurrenz miteinander und zu staatlichem Handeln andererseits prägend gewesen. Die Forschungen des Teilprojektes hätten gezeigt, dass die »karitativ-diakonische Praxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Marker konfessioneller Identität und sogar als Teil konfessioneller Identitätsbildung« (16) betrachtet werden könne.
Die knapp 20 Autorinnen und Autoren umfassen die west- und mitteleuropäischen Sozialsysteme im 19. Jh. in drei Sektionen: Diskurse, Praxis, Gender. Behandelt werden die Länder Großbritannien, Belgien, Irland, Frankreich, Habsburg, Deutschland, der zeitliche Rahmen umspannt das lange 19. Jh. in Gänze. Im Rahmen der ersten Sektion, »Semantiken und Diskurse«, werden kirchliche und staatliche publizistische Erzeugnisse, z. B. Predigten und Hirtenbriefe, analysiert. Die Mitherausgeberin Michaela Maurer (Saarbrücken) weist in ihrem Beitrag nach, dass in der katholischen Verkündigung vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jh.s Wohltätigkeit in der Armenfürsorge in letzter Instanz als Dienst an und für Gott verstanden wurde und damit in der eigenen Wahrnehmung in deutlicher Abgrenzung zu protestantischen oder weltlichen so-zialen Bemühungen stand, weswegen hier durchaus von einem »Wettkampf der Barmherzigkeit« die Rede sein könne. Für die Zeit vor dem Kulturkampf diagnostiziert Ingmar Franz (Trier) hinsichtlich der katholischen Presse verschiedene Kategorien von Ar­mut und »Armen«, nämlich »würdigen« und »unwürdigen Armen«, sowie eine unterschiedliche Wertung des Verhältnisses von Kirche und Staat – je nach Standpunkt des Autors, d. h. während ultramontane Autoren stärker auf Abgrenzung zielten, war aufklärerischen Autoren an einem kooperativen Modell gelegen. Reihenherausgeber Thomas K. Kuhn verortet den protestantischen Armutsdiskurs vor allem im Kontext der Diskussionen um die Innere Mission und erkennt zwischen und innerhalb der Konfessionen Konkurrenz und gegenseitige Motivation, Abgrenzung und gegenseitige Wahrnehmung. Wilfried Rudloff (Kassel) arbeitet die Akzeptanz konfessioneller Wohltätigkeit durch die »bürgerliche Armenpflege« heraus.
Die zweite Sektion untersucht »Offene und geschlossene Ar­men­fürsorge« im internationalen Kontext. Christian Schröder (Aachen) arbeitet ausgehend von seinen Forschungen zu Südbaden und der Saarregion die drei Grundoptionen Kooperation, Konfrontation und Koexistenz für das Verhältnis von öffentlicher und konfessioneller Armenfürsorge heraus. Der vorrangig durch Anstalten der Inneren Mission betriebenen Wandererfürsorge im späten 19. Jh. wendet sich der Beitrag von Beate Althammer (Trier) zu. Andreas Henkelmann (Bochum) widmet sich der Entstehung katholischer Fürsorgeerziehung im Kaiserreich. Den Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus werfen die folgenden Beiträge, beginnend bei konfessionellen Antworten der Habsburgermonarchie auf die So­ziale Frage von Rupert Kleber (Wien), der eine »wechselseitige konfessionelle Inspiration« (227) ausmacht, bei der sich katholische, protestantische und ostkirchliche Initiativen gegenseitig beflügelten. Catherine Maurer (Straßburg) stellt das soziale Wirken von Katholiken in französischen Städten und deren Auseinandersetzung sowie Kooperation mit anderen sozialen, etwa kommunalen, Einrichtungen dar. Über die Herausforderung, öffentliche und private Initiativen auszutarieren, berichten Leen van Molle und Jan de Maeyer (Leuven) am Beispiel des »belgischen Kompromisses«, der ein getrenntes Zusammenleben von Staat und (katholischer) Kirche verordnete. Die Verhältnisse in Großbritannien untersucht Frances Knight (Nottingham), die Situation im Irland des 19. Jh.s Dáire Keogh (Dublin). Während in Großbritannien eine Entwicklung von einem Wettbewerb hin zu einer Kooperation in der Armenfürsorge zwischen Kirche und Staat zu beobachten ist, einhergehend mit einer Art »Proto-Ökumenismus« (283), muss für Irland im gesamten 19. Jh. die Armenfürsorge als »Schlachtfeld der Konfessionen« charakterisiert werden (303), was angesichts der Herausforderungen durch die große Hungersnot (1845–1850) umso gravierendere Folgen gezeitigt hatte.
Im Unterschied zu den verfassten Landeskirchen und der katholischen Amtskirche eröffneten sich Frauen in Diakonie und Caritas vielfältige Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Insofern ist es durchaus angemessen, dem Themenkomplex »Armenfürsorge und Genderfrage« eine eigene Sektion mit drei Beiträgen zu widmen. Michaela Sohn-Kronthaler (Graz) stellt in ihrem Beitrag konzise den Zusammenhang zwischen Armutsdiskursen und der Genderfrage im deutschsprachigen Katholizismus dar. Dabei arbeitet sie heraus, dass Armenfürsorge und karitatives Handeln aufgrund der angenommenen Geschlechterdichotomie stärker weiblich konnotiert waren: »Selbst die verwendete Sprache war betont weiblich konnotiert.« (348) Das evangelische Pendant dazu stellt der folgende Aufsatz dar: Hier wendet sich Ute Gause (Bochum) dem breiten Forschungsfeld der weiblichen Diakonie am Beispiel der Kaiserwerther Diakonissen zu. Sie analysiert Kongruenz und Di­vergenz zwischen den (Geschlechter-)Konstruktionen und der Praxis dieser spezifischen protestantischen Lebensform. Die französische Situation beleuchtet der Beitrag von Rachel Fuchs (Arizona) über Gender und Wettbewerb um Wohltätigkeit und Fürsorge.
Die abschließenden Beiträge von Karl Gabriel (Münster) und Bernd Kettern (Trier) verorten die historischen Studien als Wurzeln von Diakonie und Caritas in der Gegenwart des deutschen Sozialstaates und weisen auf interessante Anschlussmöglichkeiten und Perspektiven hin.
Besonders erfreulich sind aus kirchenhistorischer Sicht die ökumenische Weite und internationale Ausrichtung der Beiträge. Es handelt sich um einen gelungenen Abschlussband des Teilprojektes. Gleichzeitig stellt der Band einen aussichtsreichen Auftakt für die neu eröffnete Reihe dar, auf deren nächste Bände man gespannt sein darf.