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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1389–1391

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Klapczynski, Gregor

Titel/Untertitel:

Katholischer Historismus? Zum historischen Denken in der deutschsprachigen Kirchengeschichte um 1900. Heinrich Schrörs – Albert Ehrhard – Joseph Schnitzer.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 472 S. = Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge, 2. Kart. EUR 69,90. ISBN 978-3-17-023426-0.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Die Auswirkungen des Historismus auf die Theologie sind, was die evangelische Seite angeht, durch Arbeiten von Michael Murrmann-Kahl, Friedrich Wilhelm Graf und anderen breit erforscht. Die vom modernen historischen Denken ausgehende Dogmenkritik, die zugespitzt in Strauß’ bekanntem Diktum, die wahre Kritik des Dogmas sei seine Geschichte, ihren Ausdruck gefunden hat, musste aber in ungleich stärkerem Maße das Dogmenverständnis des römischen Katholizismus infrage stellen. Die Theorie der Dog menentwicklung, wie sie beispielsweise in der Tübinger Schule oder von J. H. Newman vertreten wurde, suchte hierauf Antworten; sie sind jedoch längst nicht so bekannt und wurden im Zuge der Modernismuskrise stärker eingehegt als ihre protestantischen Gegenüber. Gregor Klapczynski geht in seiner Münsteraner Dissertation der Frage nach, ob und in welchem Maße sich in der katholischen kirchenhistorischen Forschung um 1900 historistisches Denken durchsetzen konnte. Die drei dafür gewählten Vertreter Heinrich Schrörs, Albert Ehrhard und Joseph Schnitzer stehen zwar nicht an vorderster Front – hier würde man eher die Nachfahren der Tübinger Schule erwarten (vgl. dazu 39, Anm. 111) –, aber sie repräsentieren drei Richtungen, die nicht nur nach K.s Auffassung, sondern auch nach damaliger Einschätzung (vgl. das Votum Ehrhards, 243 f.) die Breite möglicher Optionen abdeckten. Schrörs steht für den theologischen Konservatismus, Ehrhard für eine Mittelposition und Schnitzer für das modernistische Lager. Alle drei verbindet allerdings die Hochschätzung der wissenschaftlichen Geschichtsforschung und alle drei kritisieren von diesem Standpunkt aus die Ausbildung an Lyzeen und Priesterseminaren, was Konflikte mit der kirchlichen Hierarchie nach sich zieht.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf die mit dem Titel gestellte Frage, ob ein katholischer Historismus möglich sei, hängt ganz davon ab, wie der Begriff »Historismus« verstanden wird. Im einleitenden Teil der Arbeit werden zwei Arten unterschieden: Historismus im Sinne eines »geschichtsreligiös aufgeladenen organologischen Konzepts« (26), das die Triebkräfte historischer Entwicklung aus der Geschichte abzulesen sucht, auf der einen Seite (Historismus I), und ein Historismus im Sinne Troeltschs, der alle Lebensbereiche umfasst und in den Sog der Relativierung zieht, auf der anderen Seite (Historismus II; 26 f.). Entscheidend ist des Weiteren die Beobachtung, dass der päpstliche-kuriale Antimodernismus, wie er sich in der Enzyklika »Pascendi« (1907) und im Antimodernis­teneid (1910) ausspricht, genau jene letztere, relativistische Version des Historismus als Modernismus verurteilt. Damit ist schon deutlich, dass es jenen Historismus im Katholizismus offiziell nicht geben darf, bzw. dass er, wo es ihn dennoch gibt, das Lehramt auf den Plan rufen muss.
K. untersucht in den drei Hauptteilen (2.–4.) die Positionen der gewählten Theologen darauf, welche Art von Historismus sie vertreten und ob die jeweilige Ausprägung mit der kirchlichen Sicht kompatibel ist. Die Teile lassen sich auch jeweils für sich als wissenschaftsbiographische Porträts lesen, sie sind ungeheuer materialreich, aus Quellen und Nachlässen gearbeitet und zeichnen sehr kleinschrittig die Genese des Denkens der Protagonisten nach. Um­fangreiche Zitate und extensive Ausbreitung des Stoffes ma­chen die Lektüre bisweilen mühsam, der klare und systematisierende Stil K.s führt aber immer wieder zu den Hauptfragen zurück. Urteile werden nur sehr zurückhaltend und expliziter erst im kurzen Schlussteil (5.) geäußert.
In der Darstellung selbst treten die Eigenarten der Positionen sehr gut zutage: Sowohl Schrörs als auch Schnitzer gelingt es nicht, Theologie und Geschichte plausibel miteinander zu verbinden, allerdings mit gegenteiligen Konsequenzen: Schrörs versucht die Verbindung mithilfe einer Geschichtshermeneutik herzustellen, bei Schnitzer hingegen führt der Anschluss an das historisch-kritische Denken zu einer Reduktion der Theologie nach Art des liberalen Protestantismus. Sein Bild vom »Christentum Christi« entsteht in Auseinandersetzung mit Harnacks Wesensschrift und ist in vielem mit ihr vergleichbar (vgl. zur Nähe zu Harnack auch 327.339 f.). Darüber hinaus zeigt er sich von Loisy (330–336) und in fast noch stärkerem Maße von dem evangelischen Neutestamentler Heinrich J. Holtzmann (321 f.; vgl. Holtzmanns Lob für Schnitzer: 363 bei Anm. 402) beeinflusst. Er steht mithin für einen Historismus, der aus lehramtlicher Sicht nicht tragbar ist, gleichwohl entgeht Schnitzer – aus politischen Gründen – der Exkommunikation (364–368). Schrörs Versuch hingegen, die Kluft zwischen Theologie und Geschichte mithilfe einer auf scholastischer Grundlage aufruhenden Historik zu überwinden, wird von K. als wenig überzeugend bewertet (100.123 f.). Allerdings bleibt die Darstellung dabei sehr im Grundsätzlichen, von der genauen Methode Schrörs erfährt man nur wenig.
Anders sieht das bei Ehrhard aus: Seine Methode wird mithilfe von Einblicken in sein kirchenhistorisches Seminar vorgeführt (180–186). Im Gegensatz zu Schrörs und Schnitzer erweist sich Ehrhard als echter Vermittler dadurch, dass er Geschichte und Offenbarung im Ansatz miteinander zu verknüpfen sucht. Allerdings ist die »christozentrisch-inkarnationstheologische-kulturhistorische Geschichtskonzeption« (186 f.), wie sie K. nennt, letztlich nur eine Transformation des alten scholastischen Stufenschemas von Natur und Gnade, durch das die »Grundfaktoren der modernen Zeit« mit den »wesentlichen Grundsätzen des Katholizismus« versöhnt werden sollen (222).
Dabei ist der Gedanke leitend, dass sich das Wesentliche des Katholizismus von dem durch die Natur Bedingten in der Erscheinung der Kirche abheben lässt. Vorgeführt wird die Denkfigur an Ehrhards Schrift »Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert« von 1902, die zu Recht im Zentrum der Darstellung steht. Mit ihrer Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, Kern und Schale führt sie ebenfalls in die Nähe Harnacks (vgl. 225 seine freundliche Aufnahme) und an den Rand des kirchlicherseits Vertretbaren, was Ehrhard auch die zeitweilige Aberkennung des Prälatentitels bescherte (vgl. 233–252). Nur durch eine Retractatio konnte Ehrhard seine Stellung halten (vgl. dazu wiederum die herbe Kritik Harnacks, 251, Anm. 467). Den Antimodernisteneid lehnte er gleichwohl ab (258), ohne dafür Konsequenzen auf sich zu ziehen.
Der etwas weitläufigen Darstellung der Einzelpositionen steht das kurze Fazit gegenüber, in dem die drei Positionen noch einmal zusammenfassend gebündelt und dem jeweiligen Historismusbegriff zugeordnet werden. Hierbei wird sichtbar, dass sich ein Historismus im Sinne Troeltschs mit der antimodernistischen Ausrichtung des römischen Katholizismus Anfang des 20. Jh.s per definitionem nicht vereinbaren ließ. Dass auch Schrörs und Ehrhard die Verbindung von historischer Wissenschaft und theologischer Lehre nur ansatzweise gelungen ist, weist auf ein grundlegendes Problem hin, das im Zuge einer historischen Arbeit selbstverständlich nicht gelöst werden kann. Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass das konsequente Sicheinlassen auf den Historismus die katholischen Forscher immer stärker in die Nähe ihrer protestantischen Kollegen brachte. Unter diesem Aspekt wäre es interessant, die Querverbindungen zwischen den Konfessionen und die gegenseitigen Beeinflussungen intensiver in den Blick zu nehmen. Jedenfalls mahnt K.s Arbeit, bei der Behandlung des Historismus die römisch-katholischen Historiker und Kirchenhistoriker nicht aus den Augen zu verlieren. Das Denken dreier bedeutender Repräsentanten liegt nun in zuverlässiger Rekonstruktion vor – ein willkommener Beitrag für künftige Arbeiten »zum historischen Denken in der deutschsprachigen Kirchengeschichte um 1900« (Untertitel).