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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1386–1387

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bleyer, Alexandra

Titel/Untertitel:

Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege.

Verlag:

Darmstadt: Primus-Verlag 2013. 263 S. m. Kt. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-86312-022-1.

Rezensent:

Jobst Reller

Was Alexandra Bleyer im Titel bereits andeutet, belegt sie breit in ihrem Werk selbst: Napoleons Kriege waren zuallererst auch dank einer hervorragenden und gezielten Propaganda (14 ff.) erfolgreich, die auf der anderen Seite in den sogenannten Befreiungskriegen von napoleonischer Vorherrschaft nach 1812 Schule machte. Insofern ist das gängige Bild von der Erhebung des Volkes gegen Napoleon – auch dies ein Begriff der Französischen Revolution, der »levée en masse« – mehr Mythos als Realität. Das geschaffene Bild von der Befreiung hatte eine größere Bedeutung für den Kampf als die Realität selbst. Als ausgewiesene Kennerin der Publizistik der Zeit seit ihrer historischen Dissertation an der Universität Klagenfurt zur österreichischen Kriegspropaganda des Jahres 1809 ist die Vfn. in besonderer Weise prädestiniert, dieses Urteil begründet zu fällen. Leider fehlt dem informativen, aus einem allgemeinen historischen Blickwinkel geschriebenen Buch ein Register, das das Auffinden auch spezieller Forschungszugänge erleichtern würde.
In kirchengeschichtlicher Hinsicht ist das Buch interessant, weil es Hinweise gibt im Blick auf die europäischen Erweckungsbewegungen zu Beginn des 19. Jh.s. Bereits Karl Holl hatte in seinen Studien zur »Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus« (Ges. Aufs. II, 302–384) u. a. auf die Bedeutung der Befreiungskriege für die Erwe-ckungsbewegung aufmerksam gemacht. In der Berliner Erweckung spielten die Gebrüder Gerlach, geprägt durch Erfahrungen der Befreiungskriege, eine gewichtige Rolle. Der Einfluss der baltischen Baronin Juliane von Krüdener (aus der Familie der von Vietinghoffs) auf den russischen Zaren Alexander I. und sein Bekehrungserleb-nis ist hinlänglich bekannt. Auch in anderen Biographien Norddeutschlands aus dieser Zeit lässt sich dieses Moment leicht belegen (vgl. Jobst Reller: Die Spiritualität der Er­weckungsbewegung in Niedersachsen, in: Peter Zimmerling [Hrsg.]: Geschichte der Spiritualität, in Vorbereitung). Die Vfn. macht auf eine interessante Parallele aufmerksam. Auch in der liberalen Verfassungsbewegung dienten die »zum Erweckungserlebnis stilisiert[en]« Befreiungskriege als Argument für die Einforderung von Verfassungen (238). Es ist interessant, die entsprechenden Passagen zu Ernst Moritz Arndt, dem Theologen, Dichter und »Chefpropagandisten«, zu verfolgen (120–128.134.152.164.168 ff.175–179.184.219). Freiherr von Stein, seit 1809 wie die anderen preußischen Reformer Befürworter eines Krieges gegen Napoleon, war seit 1812 wie andere ehemals preußische Offiziere in russische Dienste getreten. Arndt war wiederum Steins Mitarbeiter. Dass religiöse, soziale und nationale »Erweckung« für Arndt in eins fielen, machen folgende Zitate leicht deutlich:
»Stein aber meinte mit einem sehr spanischen Gefühl, auch den Fürsten müsse man erst lehren, wieder deutsch zu gehorchen und nicht zu glauben, daß Gott allein für sie die Welt geschaffen habe«. Arndts Aufruf zur Gründung der russisch-deutschen Legion ist ein expliziter Ruf in Erweckungsmetaphorik: »Auf! Auf! Gekommen ist die Zeit, / Es fällt der bunte Drache, / Aus allen Landen weit und breit / Erklingt der Ruf der Rache.« (121)
Die Rheinbundfürsten galten Arndt 1813 als »Diener[n] der Finsternis und Unterdrücker[n] des Lichts« (134). Arndts Traktate er­reichten Auflagen von bis zu 100.000 Stück und wurden zum Teil kostenlos an die Soldaten und die Bevölkerung verteilt (152). Am wirksamsten für die Mobilisierung zum Krieg erwies sich nach Bleyer die Bezugnahme auf Gott und die Religion etwa in der Formel »Kampf für Gott, Kaiser / König und Vaterland«: »Ein Großteil der Menschen in Europa reagierte äußerst empfindlich, wenn sie ihren Glauben und ihre Kirche, beispielsweise durch Reformen im Sinne der Aufklärung, angegriffen sahen.« (167) Damit war in der Kriegspropaganda ein Angriffsziel der Erweckungsbewegungen lokalisiert. Während der Kampf in Spanien und Russland ausdrücklich zum Kreuzzug gegen den fran zösischen Antichristen erklärt wurde, galten die Franzosen in Deutschland als ehemalige Christen und neue Ketzer, Napoleon als Ausgeburt der Hölle. Ein in Spanien im Befreiungskampf gegen Napoleon entstandener »Katechismus« mit dieser Art Endzeitmetaphorik ließ sich so von Arndt, aber auch von Heinrich von Kleist, ins Deutsche übertragen. Auch eine russische Version entstand (168.178. 182). Die Gattung des religiösen Lehrbuchs wurde nun zur Trägerin nationaler und sozialer Lehren zweckentfremdet, zeigt insofern kaum zufällig den vielfältigen Übergang von der weltlichen in die geistliche Sphäre und umgekehrt an. Arndt prognostizierte das im Himmel bereits gesprochene Gerichtsurteil Gottes, das sich nun auch geschichtlich vollenden werde, Theodor Körner beschwor die Fürsprache Gottes durch eine Auslegung des Lutherliedes »Ein feste Burg ist unser Gott« (168). Die religiöse Weihe militärischen Handelns trug alle Gefahren einer Heiligung des Krieges, zum Teil auch des Vernichtungskrieges in sich.
Der Beispiele ließen sich weitere anfügen. Der Zusammenhang von Erweckungsbewegung und antinapoleonischen Kriegen verdiente weitere Detailstudien. Denn weder lässt sich das Phänomen der Erweckungsbewegung einfach als Funktion politisch-militä-rischer Auseinandersetzungen erklären noch umgekehrt diese aus der Religion. Der Vfn. ist eine gut einführende Überblicksdarstellung gelungen.