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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1384–1386

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesusforschung in vier Jahrhunderten. Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur »dritten Frage« nach dem historischen Jesus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XIII, 762 S. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-031842-5.

Rezensent:

Marius Reiser

Der Herausgeber bietet in diesem Band eine Anthologie von 44 Texten, die sich mit kritischer Jesusforschung befassen. Die Texte sind streng chronologisch angeordnet und in fünf Abschnitte eingeteilt. Der erste Abschnitt betrifft die Anfänge der Jesusforschung (H. S. Reimarus bis D. F. Strauß), der zweite die liberale Leben-Jesu-Forschung (H. J. Holtzmann bis K. Hase), der dritte »das Ende der Leben-Jesu-Forschung« (M. Kähler bis R. Bultmann), der vierte »die ›neue Frage‹ nach dem historischen Jesus« (J. Klausner bis H. Braun), der fünfte »die ›dritte Frage‹ nach dem historischen Jesus«. Jeder Teil beginnt mit einer kurzen Einleitung des Herausgebers. Sie schließt mit Aufgaben für die Benutzer. Das Ganze ist als »Studienbuch« gedacht und soll »eine repräsentative Auswahl« »von relevanten Beiträgen« darstellen (XII.365).
Die Texte betreffen sowohl die hermeneutischen und methodischen Fragen der Rekonstruktion des historischen Jesus als auch Beispiele des konkreten Vorgehens zu bestimmten Themen. Die meisten der gebotenen Texte sind keine vollständigen Aufsätze oder Vorträge, sondern Buchkapitel, vielfach die Einleitung oder die abschließende Zusammenfassung der entsprechenden Untersuchungen. So findet man etwa im Fall von Strauß drei Kapitel: die Vorrede zum Leben Jesu von 1835, dazu die Vorrede und die Schlussbetrachtung des zweiten Lebens Jesu von 1864. Das ist umso erfreulicher, als das zweite Leben Jesu dieses Autors in der Wissenschaft heute kaum noch Beachtung findet. Auch Julius Wellhausen, John P. Meier, Gerd Theißen und Jens Schröter tauchen doppelt auf, teils mit Koautoren. Das Gros der Beispiele sind Klassiker, doch im fünften Teil begegnen auch Namen wie Helga Melzer-Keller und der Herausgeber selbst. Sehr interessant fand der Rezensent zwei vollständig abgedruckte Vorträge aus den Jahren 1910 und 1911 mit ähnlicher Thematik. Der erste stammt von Wilhelm Bousset: »Die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben«, der zweite von Ernst Troeltsch: »Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben«. Beide sind sonst wenig bekannt. Die Schlussbetrachtung von Albert Schweitzers »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« von 1913 durfte natürlich nicht fehlen.
Eine Auswahl hat immer etwas Subjektives und wird immer Wünsche offen lassen. Aber diese Auswahl beansprucht repräsentativ zu sein (365). Ist sie das? Bei der Durchsicht der Namen, die zu Wort kommen, fällt schnell auf, dass es sich mit zwei oder drei Ausnahmen um Autoren handelt, die der liberalen Richtung in der Theologie angehören und von einer Hermeneutik des Misstrauens gegenüber der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien geleitet sind. Konservative Stimmen sind in dem Band kaum vertreten. Durch Abwesenheit in der Reihe der 44 Beispieltexte glänzen Namen bedeutender Jesusforscher wie Martin Dibelius, Marie-Joseph Lagrange, Charles Harold Dodd, Ben F. Meyer, Graham Stanton, N. Thomas Wright oder Martin Hengel. Da sowohl deutsche als auch englischsprachige Texte aufgenommen sind, ist das völlige Übergehen dieser Namen schwer verständlich. Im Falle von Lagrange hätte die deutsche Übersetzung seines Jesusbuchs von Otto Kuss zur Verfügung gestanden (Das Evangelium von Jesus Christus, Heidelberg 1949). Müssen diese Autoren als unkritisch gelten? Waren in ihren Werken keine geeigneten Beispieltexte zu finden? Wäre die Anthologie mit ihrer Berücksichtigung zu um­fangreich geworden? Vor allem im fünften Teil hätte man leicht auf den einen oder anderen Namen verzichten können, so dass die Aufnahme wenigstens des einen oder anderen dieser Autoren den Umfang des Bandes nicht vermehrt hätte. Jedenfalls aber liegt durch ihren völligen Ausschluss keine repräsentative Auswahl vor.
Der Herausgeber folgt einer heute üblichen Einteilung der Forschungsgeschichte in Phasen oder »quests«. Aber gibt es diese Phasen in Wirklichkeit? Gibt es auf diesem Gebiet so etwas wie einen Forschungsfortschritt? Letzteres, wie mir scheint, nur im Hinblick auf konkrete Forschungsfelder, aber nicht allgemein. Die Phasen sind meines Erachtens reine Augenwischerei. Die neue Frage nach dem historischen Jesus soll angeblich mit Ernst Käsemanns Vortrag von 1954 beginnen (hier 313–325). Aber wo ist das Neue? Käsemann ist nicht weniger skeptisch als Bultmann, was die Zuverlässigkeit der Jesusüberlieferung anlangt, ja er hat in diesem Vortrag die Forderung aufgestellt, dass in jedem einzelnen Fall die Authentizität positiv zu beweisen sei. Diese Forderung macht jede historische Forschung so gut wie unmöglich. Und was ist die Neuigkeit der »dritten Frage«? Dass sie in vieler Hinsicht zu Ansätzen des 19. Jh.s zurückkehrt? In welche Phase gehören die genannten Autoren, die in dieser Auswahl nicht berücksichtigt sind? Man kann die Forscher und Forscherinnen meiner Ansicht nach grob in zwei Richtungen einteilen. Die eine arbeitet mit skeptischen Prämissen und einer philosophischen Hermeneutik, die Wunder und Metaphysik von vornherein ausschließt, die andere mit eher traditionell christlichen Vorannahmen. Phasen oder umfassende Forschungsepochen kann ich nicht erkennen.
In der Einleitung zum letzten Teil seiner Textauswahl wehrt sich der Herausgeber gegen die Auffassung, die Klaus Wengst (Der wirkliche Jesus?, Stuttgart 2013) geäußert hat. Wengst meint, es gebe keinen Fortschritt bei der Suche nach dem historischen Jesus, und was sie bisher produziert habe, sei lediglich »ein Chaos von Jesusbildern« (365). Werner Zager sieht in dieser Ansicht die angeblich überholte Position von Martin Kähler (366). Aber was ist an der Position Kählers überholt? Dass er die ganze liberale Jesusforschung für einen »Holzweg« ansah? Seine Ansicht, dass zur Geschichtsforschung Bescheidenheit gehört? Sein Eindruck, dass die liberale Forschung nur »ein Trümmerfeld von einzelnen Überlieferungen« übriggelassen habe, in dem die Gestalt Jesu wie aus dem Nebel aufrage? (127–129) Wilhelm Bousset meinte: »Was wir vom pragmatischen Zusammenhang seines [Jesu] Lebens wissen, ist so wenig, daß es auf einem Blättchen Papier Raum fände.« (222) Das letzte Wort Zagers ist der Hinweis auf die beiden in seiner Anthologie abgedruckten Kurzviten Jesu von Gerd Theißen/Annette Merz einerseits und Gerd Lüdemann andererseits. Sie seien »Zeugnisse dafür, dass sich innerhalb der Jesusforschung – trotz unterschiedlicher theologischer Standpunkte – in vielen Fragen durchaus Konsense erzielen lassen« (366). Man mache doch die Probe aufs Exempel! Konsens wird man eher in jener Forschungstradition finden, die in dieser Auswahl nicht berücksichtigt ist.