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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1381–1384

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Whitfield, Bryan J.

Titel/Untertitel:

Joshua Traditions and the Argument of Hebrews 3 and 4.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XIV, 316 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 194. Geb. EUR 82,95. ISBN 978-3-11-029777-5.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Die überarbeitete Dissertation von Bryan Whitfield, die an der Emory Universität eingereicht wurde, greift ein Problem auf, das in der wissenschaftlichen Diskussion nach W.s Meinung bislang noch keiner anerkannten Lösung zugeführt werden konnte: den Zusammenhang von Hebr 3,1–6 und 3,7–4,13. Auf dem Einbandtext heißt es:
The connection between the great high priest and the people of God in Hebrews has proved a central question for many scholars, including Ernst Käsemann. This book examines previous attempts to explain the flow of the argument in Hebrews 3 and 4 and revisits the proposal of J. Rendel Harris, who thought attention to the two Joshuas of the Hebrew Bible was the key to connecting Hebr 3:7–4:13 to its frame. It examines Second Temple interpretations of two texts central to the two Joshuas (Numbers 13–14 and Zechariah 3) and concludes with a positive assessment of much of Harris’s proposal.
In Kapitel 1 (1–49), das mit »The Puzzle of Hebrews« überschrieben ist, geht W. auf bisherige Versuche ein, den Gedankengang des Hebr zu beschreiben. Er unterscheidet dabei Versuche, die den Gedankengang auf strukturelle Analysen bauen (mit thematischem, literarischem, rhetorischem oder linguistischem Schwerpunkt), von Versuchen, die den Gedankengang aufgrund tradi-tionsgeschichtlicher Analysen (»Appeals to Conceptual Worlds«) aufhellen wollen, und von solchen, die dies aufgrund des Umgangs mit der religiösen Tradition in der Antike (»Appeals to Reading Practices«) angehen. Für den weiteren Gang der Forschung hält er »in addition to a better conceptual understanding of first-century reading practices, a better set of texts for comparison« für notwendig (48). Dabei sollten vor allem Num 13–14 und Sach 3 herangezogen werden.
Kapitel 2 »A Wider Intertextuality: Excavating the Cave of Resonance with the History of Scriptural Interpretation« (50–84) bietet Überlegungen zum Thema Intertextualität und fragt, ob sich aus Ergebnissen der Paulusforschung zu diesem Problem Konsequenzen für die Interpretation des Hebr herleiten lassen. W. geht davon aus, dass die Argumentation im Hebr nur aufgrund der herangezogenen Schriftbelege und nicht aufgrund des konzeptionellen Hintergrundes zu analysieren sei, wobei es nach W. auch »versteckte« Texte geben kann, die nicht explizit zitiert werden, aber dennoch ihre Wirkung entfalten. Er plädiert daher für einen »weiteren« Begriff von Intertextualität (71).
Kapitel 3 »Reading Traditions for Num 13–14« (85–126) ist der Analyse und Rezeption von Num 13–14 gewidmet. W. geht davon aus, dass Texte aus der Zeit des 2. Tempels heranzuziehen sind, um das Verständnis der Kundschaftergeschichte Num 13–14 (mit der Parallele in Dtn 1) angemessen zu eruieren (Pseudo-Philo, Josephus, Philon v. Alexandrien) und es dann auf den Hebr zu beziehen.
Kapitel 4 »Reading Traditions for Zech 3« (127–204) ist der Analyse und Rezeption von Sach 3 gewidmet, da dort eine zweite Figur namens Josua (LXX: Jesus) begegnet. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels geht es um die jüngere Forschung zur priesterlichen Levi-Tradition. W. bespricht die Studien von James VanderKam, Robert Kugler, James Kugel und Kathryn Lopez zu den frühjüdischen Traditionen (insbesondere Qumran, Jubiläen, aram. Levi, TestXII Levi). Der zweite Abschnitt ist dem Verständnis von Sach 3 in seiner hebräischen und griechischen Fassung selbst gewidmet. Im dritten Abschnitt geht es um Texte aus dem Frühjudentum, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind: Qumrantexte, Jubiläen, TestXII Levi, aram. Levi, JosAs, ApocAbraham, Pirqe R. Eliezer, Tg. Sacharja.
W. arbeitet vier Motive heraus, die im Vergleich mit dem Hebr Bedeutung gewinnen: die Gegenwart eines Priesters in der Gottesversammlung, die Zurückweisung des Anklägers, die Reinigung und Neueinkleidung des Priesters, der immerwährende Zugang zu Gott.
In Kapitel 5 (205–265) setzt W. unter der Überschrift »The Joshuas of the Epistle to the Hebrews« die erarbeiteten Motive aus Num 13–14 und Sach 3 mit Hebr 3 und 4 in Beziehung, um auf diese Weise die Verbindung zwischen Hohepriestertum und Gottesvolkvorstellung bzw. Wüstenwanderung herauszuarbeiten. Er versteht dabei den Hebr als ein »priestly writing« (206), dessen Argumentation insgesamt von dieser Qualifikation her beurteilt werden muss.
Dass Hebr 3,7–4,11 nicht nur auf dem Hintergrund von Ps 95(94), sondern auch von Num 13–14 her gelesen werden muss und die Bezeichnung Jesu als »archegos« auf Num 13,2 f. Bezug nimmt, scheint W. textlich unabweisbar. Der Nachweis, dass »Josua« auch in Hebr 3,1–6 im Hintergrund steht, bedarf nach W. größerer Anstrengung (257). Die Lösung sieht er, so wie J. Rendel Harris es bereits formuliert hatte, darin, dass auch Sach 3 einen Bezugstext für den Hebr abgibt. Hier kommt ein zweiter, priesterlicher Josua in der hebräischen Bibel vor, wobei die in der Rezeption der priesterlichen Levi-Gestalt im Frühjudentum herausgearbeiteten Aspekte von entscheidender Bedeutung sind: die Gegenwart eines Priesters in der Gottesversammlung, die Zurückweisung des Anklägers, die Reinigung und Neueinkleidung des Priesters, der immerwährende Zugang zu Gott. Hierauf gründet der Hebr-Autor seine Argumentation. Der Hebr hat damit Motive aus Num 13–14 und aus Sach 3 in Hebr 3,1–4,13 verarbeitet. Die Möglichkeit, die Motive der Texte miteinander zu kombinieren, liefert ihm der Name Josua bzw. Jesus.
In Kapitel 6 (266–271) werden Perspektiven für die künftige Forschung genannt, darunter insbesondere die Frage nach dem Verständnis des Priestertums im Frühjudentum (269).
Literaturverzeichnis und Index (270–316) schließen die Arbeit ab (die Angabe, 273, unter »Ziegler« erschließt sich mir nicht; »Grundmann«, 207, hieß Walter, nicht Wilhelm; dass manche Autoren mit doppeltem Vornamen, manche jedoch nur abgekürzt oder ohne Vornamen aufgeführt werden, z. B. Gruenwald, Horton, ist schade, aber das hätte auch einem Lektor auffallen können).
W. hat eine sehr anregende Arbeit geschrieben, die ein ernstes Problem der Forschung zum Hebr aufgreift. Dabei hat er wichtige Forschungsliteratur berücksichtigt, auch die nicht englischsprachige (warum die Arbeiten einiger Forscher vollkommen fehlen, bleibt allerdings ein Rätsel: z. B. Knut Backhaus und Martin Karrer). Die Darstellung ist klar, leserfreundlich und nachvollziehbar.
Seine Ergebnisse bezüglich der Bedeutung von Num 13–14 im Hebr sind m. E. überzeugend. Insbesondere der Begriff »archegos« (Hebr 2,10) lässt einen Bezug auch zu Num 13,2–3 sehr plausibel erscheinen. Die Argumentation, wonach im Hebr auch Sach 3 als Schriftbezug ins Kalkül gezogen werden muss, hat mich allerdings nicht überzeugt. Dabei ist nicht die Tatsache ausschlaggebend, dass es im Hebr kein explizites Zitat aus Sach 3 gibt, vielmehr sind die vier von W. genannten Aspekte, die Sach 3 (aufgrund seiner antiken Rezeption) mit dem Hebr verbinden sollen, nicht passgenau, sondern nur ungefähr passend: Nach Hebr wird Jesus nicht in die himmlische Ratsversammlung aufgenommen (258), die Reinigung der Kleider, die auf Lev 16,21–23 verweisen soll (261), spielt im Hebr ähnlich wie das Sündenbock-Motiv überhaupt keine Rolle (260.261), der Bezug zum Yom Kippur im Hebr ist daher anders zu beschreiben, die Tatsache, dass Mose nach Num 12,7 als πιστός bezeichnet wird (so auch Hebr 3 von Jesus), findet in Sach 3,7 gerade keine explizite Entsprechung (262). Jesus ist nach dem Hebr »Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks«. Das stünde zumindest in Spannung zu einem Priestertum Jesu analog dem Josuas aus Sach 3. Die Modellierung Jesu nach den beiden Josuas aus Num 13–14 und Sach 3 scheint mir daher – soll sie wirklich überzeugend sein – weiterer Argumente zu bedürfen. Denn nur die Tatsache, dass der Hohepriester in Sach 3 LXX auch »Jesus« heißt, würde wohl auch W. als Brücke nicht genügen.
Vielleicht lässt sich das Problem des Zusammenhangs von Jesus als dem Hohepriester und Jesus als dem Anführer des Volkes Gottes doch anders lösen: Ausgangslage des Hebr-Autors ist das Problem, dass die Gemeinde in Gefahr steht, den Glauben aufzugeben. Dies hat äußere (Hebr 10,32–43) wie innere Ursachen. Nach Hebr 1 und 2 ist Jesus zwar erhöht, hat sich aber noch nicht in seiner hoheitlichen Position sichtbar durchgesetzt (Hebr 2,8). Damit wird das Bekenntnis zur Erhöhung Jesu selbst infrage gestellt, und damit ein zentraler Aspekt des Glaubens. Die Gemeinde soll ermuntert werden, nicht zu ermatten, sondern durchzuhalten und das Bekenntnis nicht aufzugeben (Hebr 3,6; 3,14; 6,11.15; 10,23; 10,36; 12,3). Die Auffassung, wonach Jesus Hohepriester ist, gehört nach Hebr 3,1 bereits zum überkommenen Bekenntnis. Die ausgeführte Hohepriesterchristologie in Hebr 7–10 ist dann das theologische Argument, die Art der Gegenwärtigkeit des Heils zu explizieren. Hebr 3,7–4,13 stellt einerseits eine Ermahnung dar, sich am Verhalten der Wüstengeneration kein Vorbild zu nehmen, andererseits handelt es sich um einen Schriftbeweis, dass der Weg in die Ruhe für die gegenwärtige Generation noch offen steht. Der Hebr-Autor knüpft in 4,14 an 2,18 an. Im Abschnitt 3,1–4,13 geht es daher um die Verheißung, die der Vollendung noch harrt. An der Treue Jesu soll sich die Gemeinde orientieren. Das Psalmzitat und die Bezüge zu Num dienen als Schriftargumente. Sie stellen ein Negativbeispiel vor Augen und begründen die Verlässlichkeit der Verheißung. Weil die ursprünglich Vorgesehenen aufgrund ihres Unglaubens die Vollendung nicht erreicht haben, lässt Gott später durch David die ausstehende Vollendung noch einmal bestätigen (wir finden hier eine ähnliche Struktur wie bei der Einführung von Jer 31[38] in Hebr 8). Die Gemeinde wird dazu aufgefordert, sich nicht wie die Wüstengeneration zu verhalten und das Erbe zu verspielen.
W. hat eine interessante These veröffentlicht. Die Diskussion wird erweisen, ob sie sich wirklich bewährt.