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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1362–1364

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hammann, Konrad

Titel/Untertitel:

Hermann Gunkel – Eine Biographie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 439 S. m. 40 Abb. Lw. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150446-4.

Rezensent:

Rudolf Smend

Im Vorwort schreibt Konrad Hammann, er könnte dieses Buch im Nachhinein auf eine Frage zurückführen, die ich ihm im Ersten theologischen Examen gestellt hätte. Natürlich habe ich diese Frage längst vergessen, aber ich erinnere mich deutlich, dass ich anschließend den mir bis dahin unbekannten Kandidaten vergeblich für die alttestamentliche Wissenschaft anzuwerben versuchte; er war schon in der Kirchengeschichte engagiert und hat dort in den seither verflossenen dreieinhalb Jahrzehnten Beachtliches geleistet. Aber mit der hier vorgelegten Biographie H. Gunkels hat er jetzt auch zur alttestamentlichen Wissenschaft einen Beitrag geliefert, zu dem keiner ihrer Fachvertreter besser imstande gewesen wäre. Er war für diese Aufgabe nicht nur dadurch gerüstet, dass er seit jenem Examen das Alte Testament immer im Auge behalten hat, sondern auch durch seine 2009 ebenfalls bei Mohr Siebeck erschienene Biographie R. Bultmanns, des Protagonisten der neutestamentlichen Wissenschaft im 20. Jh., die mit der alttestamentlichen auch, ja gerade in dieser Zeit mehr zu tun hatte, als es die Vertreter beider Seiten manchmal wissen; als naheliegender Doppelbeleg sei nur erwähnt, dass Gunkel auch am Neuen Testament gearbeitet hat und dass Bultmann sein Schüler gewesen ist. Ferner kommt H. zustatten, dass ihm als gebürtigem Hessen, studiertem Marburger und langjährigem kurhessischen Pfarrer das akade-mische und kirchliche Milieu, in dem nicht nur Bultmann fast seine ganze akademische Wirksamkeit, sondern auch Gunkel »die schönsten Jahre seines Lebens« verbrachte (309), aufs Beste vertraut und zugänglich ist. Einen nachdrücklichen Hinweis verdient der Umstand, dass H. noch im Erscheinungsjahr der Bultmann-Biographie unter dem Titel »Rudolf Bultmann – eine Biographie für die Gegenwart« einen Vortrag gehalten hat, in dem er über das Einzelbeispiel hinaus von der grundsätzlichen Schwierigkeit einer Biographie, von deren Renaissance seit den Darstellungen Bismarcks durch L. Gall, Caesars durch Ch. Meier und Friedrichs des Großen durch J. Kunisch, vom Verhältnis des Ich zu seiner Umwelt und vom theologischen Problem einer Biographie handelt (in: Ch. Landmesser/A. Klein [Hrsg.], Rudolf Bultmann 1884–1976 – Theo-loge der Gegenwart, Neukirchen 2010, 49–68). Da die Grundfragen mutatis mutandis oft die gleichen sind, empfiehlt es sich sehr, diesen Vortrag auch zur Gunkel-Biographie hinzuzunehmen, um bei deren Lektüre ihren geistesgeschichtlichen und theologischen Hintergrund präsent zu haben.
Wie über Bultmann legt H. auch über Gunkel die erste Biographie im vollen Sinn des Wortes vor. Vor allem weil Gunkel weniger im Blickfeld des öffentlichen Interesses stand und steht als Bultmann, konnte er hier auf eine erheblich kleinere Zahl von Vorarbeiten zurückgreifen als dort. Es gab bisher nur eine einzige größere Monographie, das 1969 erschienene tüchtige Buch von W. Klatt »Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode« (FRLANT 100), das seinem Untertitel zum Trotz auch schon biographisch angelegt war und viel biographisches Material enthielt, darunter Ungedrucktes aus Gunkelschem Familienbesitz. Inzwischen steht vor allem Gunkels umfangreicher Nachlass in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale) problemlos zur Verfügung. Gunkel hat den Plan einer Autobiographie nicht mehr ausführen können (379 f.), aber H. kann aus einem fünfseitigen Lebenslauf zitieren (49.93), und an weiteren Selbstaussagen, ungedruckten und gedruckten, besteht kein Mangel. Überhaupt hatte Gunkel ein starkes Mitteilungsbedürfnis, war ein leidenschaftlicher Lehrer und publizierte unermüdlich in allen Gattungen vom großen Buch bis zum Zeitungsartikel. Seinen produktiven Fleiß mag die Tatsache dokumentieren, dass er, bereits bei ge­schwächter Gesundheit, für die zweite Auflage der RGG, die er als Herausgeber sehr aktiv mitbetreute, nicht weniger als 152 Artikel selber schrieb (346). Dabei litt die Qualität nicht unter der Quantität, Gunkel ritt auch nicht überall nur seine Steckenpferde. Unter diesen Umständen steht der Biograph, der mit dem Leben auch das Werk darstellen will, in der Gefahr, sich entweder in der Fülle des Stoffes zu verlieren oder an der Oberfläche zu bleiben. Beides hat H. vermeiden können. Schon bei der Bultmann-Biographie befand er in Übereinstimmung mit dem Verleger, »500 Seiten seien genug«, und folgte der auch sonst beherzigenswerten Überlegung: »Ist ein Autor mit ein wenig Sinn für Proportionen ausgestattet, wird er seine Leser nicht mit belanglosem Detailwissen belästigen oder mit der Korrektur offenkundiger Irrtümer der Sekundärliteratur oder mit der permanenten Widerlegung anderer Forschungspositionen vergrämen.« (Aufsatz 2010, 56) Was die Disposition angeht, entschied sich H. bei Bultmann aus guten Gründen dafür, »das biographisch-genetische Element und den im Werk sich abbildenden Denkweg […] möglichst eng miteinander zu verknüpfen«, also für die »Einbindung der Werkgeschichte in den Lebensgang« (a. a. O., 57–59); bei Gunkel liegen die Dinge nicht so anders, dass diese Entscheidung nicht auch hier die nächstliegende wäre.
Das Buch ist also in sechs römisch nummerierte Kapitel gegliedert, die jeweils eine Station von Gunkels Leben umfassen: Lüneburg (1862–1881), Göttingen, Gießen und wieder Göttingen (1881–1889), Halle (1889–1895), Berlin (1895–1907), Gießen (1907–1920), Halle (1920–1932). Jedes dieser Kapitel besteht aus mehreren arabisch bezifferten und pointiert überschriebenen Abschnitten, in deren Lektüre jeweils in Kursivdruck einige mottoartig vorangestellte Sätze aus der Feder Gunkels oder anderer einführen. Die ersten Abschnitte der Kapitel beschreiben für jeden Ort die neue Lebenssituation (Halle: »Schwierige Anfänge«, Berlin: »Die Mühsal eines Extraordinarius«, Gießen: »Das Glück eines Ordinarius«, wieder Halle: »Ein erneut schwieriger Anfang«), die weiteren gelten natürlich überwiegend den wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch übergreifenden Themen (»Der Zeitgenosse«, »Der Lehrer und seine Schüler«, »Der Richtungsstreit mit Wellhausen«); besonders hingewiesen sei auf die differenzierte Darlegung von Gunkels Verhältnis zum Judentum (265–281). Die Abschnitte zu den wissenschaftlichen Arbeiten schließen sich, indem sie deren Hintergrund, Entstehung, Gedankengang, Problematik und erste Wirkung darstellen – die Wirkungsgeschichte nach 1945 hat H., glücklicherweise nicht völlig konsequent, prinzipiell ausgelassen, vgl. 384.410 –, ge­radezu zu einer Kommentierung von Gunkels gesamtem Lebenswerk zusammen; bei jeder künftigen Gunkel-Lektüre wird man gut daran tun, sie zu konsultieren.
Es war ein glücklicher Gedanke H.s, sein Buch mit einem kleinen Florilegium von Zitaten abzuschließen (386 f.), die zum Nach- und Weiterdenken einladen und von denen einige zeigen, dass Gunkel nicht nur ein kluger, sondern auch ein weiser Mann gewesen ist. Seine Werke werden hoffentlich weiter gelesen und, wo sie das verdient haben, auch kritisiert werden, so wie jüngst besonders beachtlich und empfindlich durch St. Schorch in seinem Aufsatz über Gunkels Konjekturen (in: E.-J. Waschke [Hrsg.], Hermann Gunkel, BThSt 141, 2013, 85–105). Dagegen befindet sich der Unterzeichnete in der glücklichen Lage, an dem anzuzeigenden Buch überhaupt nichts tadeln, sondern es durchweg nur loben zu können. H. nennt es, wie schon das Vorgängerwerk über Bultmann, im Untertitel bescheiden eine Biographie; in Wahrheit dürfte es sich im einen wie im anderen Fall auf irgend absehbare Zeit um die Biographie handeln.