Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

825–829

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Lohfink, Gerhard

Titel/Untertitel:

Braucht Gott die Kirche? Zur Theologie des Volkes Gottes. 2. Aufl.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder u. Hagen: Urfeld 1998. 432 S. 8. Lw. DM 39,80. ISBN 3-451-26544-3 u. 3-932857-16-X.

Rezensent:

Heiko Franke

Gerhard Lohfinks Buch ist ein unverkennbar persönliches Buch. Seine Leser erhalten Einblick in den Lebensweg des Vf.s, der ihn von der Tübinger Theologischen Fakultät zur "Katholischen Integrierten Gemeinde" führte und der ihn schließlich auch veranlaßte, seinem Buch aus dem Jahre 1982 ("Wie hat Jesus Gemeinde gewollt ?") nun dieses folgen zu lassen: "Nicht, daß ich die damaligen Aussagen heute für falsch hielte. Aber es hat ihnen Entscheidendes gefehlt, und dadurch geriet das ganze in eine gefährliche Schieflage." (11) Unbrauchbar sei der Versuch, eine Art pastorales Modell aus der Bibel zu erheben, das für alle Zeiten gültig wäre. Vielmehr gelte: "Nirgendwo beschäftigt sich die Bibel mit Pastoralplänen und Seelsorgestrategien ... Gott handelt nicht überall, sondern an einem konkreten Ort. Er handelt nicht jederzeit, sondern in einer bestimmten Stunde. Er handelt nicht durch jedermann, sondern durch Menschen, die er sich erwählt. Wenn wir das nicht begreifen, wird es in unseren Tagen keine Erneuerung der Kirche geben."

Die Erneuerung der Kirche zu befördern - das ist das Ziel dieses Buches. Die dazu unternommene theologische Untersuchung wird eingerahmt und ergänzt durch das bewegende Zeugnis eines katholischen Theologenlebens in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts: "Wie es mir mit der Kirche ergangen ist" (381-395). Darin verfolgt der Leser mit L. dessen Weg aus der katholischen Jugendbewegung hinein in die ambivalent erfahrene Reformzeit nach dem Vatikanum II und schließlich in die Katholische Integrierte Gemeinde in München: "Am Ende habe ich gefunden, wovon so viele biblische Texte sprechen und was ich mir seit langem ersehnt hatte." (393) So ist dieses Buch vor dem Hintergrund einer beglückenden Erfahrung entstanden und getragen von der Hoffnung, die ganze (katholische) Kirche könne einmal auf diese Weise erneuert werden. Nur wer diesen so pointiert mitgeteilten Hintergrund wahrnimmt, wird L.s Buch richtig lesen: als theologische Analyse, geistliches Lesebuch und Apologie des eigenen Lebensweges in einem.

In vier Teile zu je sieben Abschnitten gliedert L. seine Untersuchung: Den Ersten Teil (Wozu Gott ein eigenes Volk braucht) beginnt L. mit der programmatischen Feststellung: "Es ist eines der großen Wunder der Geschichte, daß in der Welt das Volk Israel entstanden ist und daß dieses Volk zu dem Glauben an den einen, wahren Gott gefunden hat." (13) Um aber den Ort und die Aufgabe Israels - und mit ihm der Kirche! - besser verstehen zu können, unternimmt L. nicht weniger als einen Gang durch die Geschichte Gottes mit den Menschen von Anbeginn bis in unsere Tage.

Dabei spannt er den Bogen weit: Die Entwicklung des Kosmos und die Geschichtlichkeit der Menschen scheinen ihm auf ein Prinzip hinzudeuten: "Geschichte ist nichts anderes als eine Folge immer neuer Konstellationen auf die Freiheit des Menschen hin ... Die Evolution lief schon immer, seit dem Entstehen der ersten Einzeller, auf diese Freiheitsgeschichte zu." (27) Evolution, derart als auch theologisch relevantes Grundgeschehen begriffen, erlaubt es ebenso, zu jeder Zeit neue Wege einzuschlagen. Dies sicherzustellen dürfte der eigentliche Sinn dieser schöpfungstheologischen Grundlegung sein, die ja für eine ekklesiologische Untersuchung nicht eben selbstverständlich ist.

Im Fortgang richtet sich der Blick auf Gott als den, der Israel erwählt hat, denn: Die Erlösung der Welt braucht einen konkreten Ort, und dieser konkrete Ort ist Israel: "Wie kann man die Welt, die Gesellschaft bis in die Wurzeln verändern, ohne ihre Freiheit zu nehmen? Es kann nur so gehen, daß Gott klein anfängt, daß er an einer einzigen Stelle der Welt beginnt.

Es muß einen Ort geben, sichtbar, überschaubar, überprüfbar, an dem die Erlösung der Welt ihren Anfang nimmt ..." (45). Zudem brauche es Menschen, die auf Gott hören, um die Veränderung der Welt in Gang setzen zu können. Diese habe mit Abraham begonnen, und Israel habe gegen das Denken der Philosophen und die Frömmigkeit der Nachbarvölker zwischen Welt und Gott unterscheiden gelernt in seiner Geschichte mit jenem Gott, "der es ständig herausführte aus Gesellschaften, in denen alles verfestigt und vergöttlicht war" (18). Hier formuliert L. einen weiteren Grundgedanken: Der Glaube an den wahren Gott bedeutet Absage an alle Religion und alle Philosophie, und der Exodus, der Aufbruch aus gesellschaftlichen Verhärtungen ins Neue ist ein Grundzug der Beziehung zwischen Gott und Menschen.

Die Erörterung der Rolle Israels ist für L.s Leitfrage, ob nämlich Gott die Kirche brauche, wichtig. Denn mit der Erwählung Israels gehe eine Beauftragung einher: "Erwählt zu sein, wird nicht zum Privileg, nicht zu Bevorzugung vor anderen, sondern zur Existenz für die anderen." (57).

L. beklagt die Vernachlässigung des Begriffes "Erwählung" in der gegenwärtigen Theologie. Er gälte vielen als "unappetitlich"- aber: "In diesem Begriff bündelt sich das Wissen Israels, daß Gott die ganze Welt befreien und verwandeln will, daß er dazu aber mitten in der Welt einen Anfang braucht, einen sichtbaren Ort, lebendige Zeugen." (58) Schon im Erwählungshandeln Gottes weiß L. Israel und die christliche Gemeinde verbunden.

In einem Zweiten Teil, werden die Kennzeichen Israels und mit ihm die Kennzeichen des Gottesvolkes behandelt: Dabei spielt der Gedanke der Evolution eine wichtige Rolle - der Weg Israels als teils schmerzliches Experimentierfeld: "Über ,Versuch und Irrtum’ gewinnt das Gottesvolk durch bitterste Erfahrungen allmählich sein Wissen um die richtige Form." (151) Diese richtige Form ist nach L. die Gemeindekirche im Verband der jüdischen Synagogengemeinden, zu der Israel auf dem Umweg auf einem langen Weg über insgesamt vier Etappen gefunden habe: Der Stämmegesellschaft in Freiwilligkeit und Gleichheit (die L. theologisch ernster nehmen möchte, als dies oft geschehe) folgte "das Gottesvolk als Staat", ein Experiment, das unter dem sakralen Königtum Israel vielfältige Unrechtsstrukturen gebracht habe und zuletzt, in der Zeit der Fremdherrschaft, die Tempelgemeinde, welche die ebenfalls nunmehr entstandene Thora hört. Schließlich entwickelte sich die Synagogengemeinde, "eine der genialsten und folgenreichsten Entdeckungen Israels" (146).

Das Werkzeug Gottes ist ein Verbund von Gemeinden. Dies ist für L. ein konstitutiver Gedanke. Auch für die frühe Kirche sei die Gemeinde zum Strukturprinzip geworden: "Ein Netz von Gemeinden, gespannt über den ganzen Erdkreis und doch mitten in der nichtchristlichen Gesellschaft, so daß jeder in Freiheit wählen kann, ob er Christ sein will." (150) Wichtig ist deshalb, wie L. die Synagogengemeinde näher charakterisiert: Sie sei "kein Staat mehr ... andererseits aber auch kein Kultverein auf landsmannschaftlicher Basis ... erst recht keine bloße societas in cordibus" gewesen, sondern vielmehr "ein Verbund von Gemeinden, von denen jede ein Stück Öffentlichkeit ist, jede ein kleines Gemeinwesen, jede ein Politikum"(150).

Jesus und die Figur der Zwölf steht sodann über dem Dritten Teil, in dem L. erörtert, wie der Weg Israels in den Weg Jesu mündet. Was ist das Neue am Neuen Testament ? Neu sind nach L. nicht alle möglichen angeblichen theologischen Überbietungen des Alten Testamentes. Neu ist - Jesus: "Er ist der Mensch, auf den Gott schon immer gewartet hat. Jetzt hat er ihn gefunden (160). ... Gott muß (! H. F.) auch hier mit einem einzigen beginnen, so wie einst mit Abraham. Jetzt hängt alles an Jesus. Er steht stellvertretend für Israel." (161) - Freilich, neu ist nicht nur Jesus. Neu ist - und hier treffen wir auf einen hochwichtigen Punkt im gesamten Entwurf L.s - neu ist auch "die Figur der Zwölf": "Die Zwölf... stehen für die zwölf Stämme Israels ... In den Jüngern beginnt die endzeitliche Neuschöpfung Israels, und in der Neuschöpfung Israels wird die Gottesherrschaft offenbar ... Sie lassen sich von Jesus sammeln zu einer ,neuen Familie’, die ganz unter dem Zeichen der Gottesherrschaft steht." (165)

"Jesus schuf die Zwölf" wird L. in Aufnahme des epoiesen aus Mk 3 nicht müde zu betonen. "Jeder, der mit der Bibel vertraut ist, hört im Hintergrund die feste Formel vom ,Schaffen Gottes’ aus dem Schöpfungsbericht Gen1,1-2,4." (202) So gelangen "die Zwölf" nach L. zu kaum überbietbarer eschatologischer Würde und werden Teil der Sendung Jesu als eine Schar, die um des Reiches Gottes willen alles verlassen hat und eine "neue Familie" (ein Zentralbegriff in L.s Ekklesiologie) konstituiert. Aus den Zwölfen wird Kirche freilich erst durch Jesu Tod. L. wendet sich ausführlich den Passionsüberlieferungen der Evangelien zu "Deshalb steht Jesus in dem Augenblick, da seine Verkündigung aufs Ganze gesehen erfolglos war und sich sein Tod abzeichnet, vor einer neuen Situation. Und diese neue Situation fordert eine neue Deutung." (243) Diese Deutung ist das stellvertretende Sterben für die Vielen, dessen theologisch-anthropologischen Gehalt L. in Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff der Neuzeit sowie mit der Leidens- und Schuldgeschichte unseres Jahrhunderts erläutert. Jesu Tod begründe "neue Familie, also den Boden, auf dem sich Menschen, die an sich nicht das geringste miteinander zu tun haben, in rückhaltloser Solidarität verbinden" (248). Damit ist die Verbindung zwischen "den Zwölf" und der Kirche hergestellt - durch Jesu Tod gelangt die Kirche in die Welt.

So kann L. zu seinem entscheidenden Schlußteil kommen: Kennzeichen der Kirche. Dabei ist es zunächst etwas überraschend, zu Beginn gewissermaßen eine zweite Begründungsfigur für die Kirche anzutreffen - sei doch mit der Kreuzigung Jesu "die ganze Geschichte ... zu Ende" gewesen.

Freilich sei "Simon Petrus, (dem) ganze(n) Zwölferkreis und vielen anderen Jüngern" eine ihr Leben "erneut umstürzende Erfahrung" zuteil geworden: Sie werden Zeugen des Handelns Gottes, der Jesus auferweckt. Und so sei mit einem Male die Jerusalemer Urgemeinde ans Licht getreten: Menschen, die eben noch auf der Flucht waren, "zeigen, indem sie am Pfingsttag ohne Angst vor die Menge treten, daß all das, was Jesus mit der Schaffung der Zwölf ... begonnen hatte, nun unter nachösterlichem Vorzeichen weitergeht ..." (253 f.).

L. nennt, wie bereits zuvor für Israel, sieben Merkmale, die er dem Zeugnis des Neuen Testamentes entnimmt, die er aber natürlich gleichzeitig für die heutige bzw. für die künftige Kirche einfordert:

- Der Exodus geht weiter - Was L. als Wesensmerkmal der ganzen Schöpfung und allen Umgangs Gottes mit den Menschen gleich zu Beginn herausgearbeitet hat, findet Anwendung auf die Kirche: Die Taufe führt hinein in eine verbindliche Existenz in der Gemeinde und damit heraus aus den bisherigen Lebenszusammenhängen. Die Taufe ist ein Geschehen voller Folgen - "nichts (konnte) so bleiben, wie es vorher gewesen war".(261). Wieder greift L. das Bild von der "neuen Familie" auf und erinnert zudem an den Exodus der Missionare und an den Exodus der Mönche und Einsiedler in dem Moment, da "in der Alten Kirche die Gemeinden ihre Ausstrahlung verlieren und sich ihrer späteren Gestalt in der Reichskirche annähern" (267). Der Weg in die Reichskirche ist für L. der Irrweg schlechthin - und der Exodus aus dieser Art kirchlicher Existenz, aus diesem Experiment Grundlage aller Hoffnung für die Zukunft der Kirche. L. wird konkret: "Inzwischen lebt die Kirche fast überall in der Welt wieder unter Verfolgungen oder inmitten neuen Heidentums. Sie wird in dieser Situation nur überleben, wenn sie zu neutestamentlich verfaßten Gemeinden zurückkehrt." (268 f.) Es ist kaum zu überhören, daß L. diesen Wandel der Kirche wohl wünscht, ihn ihr aber kaum zutraut.

- Die Kirche versammelt sich - Den eigentlichen Existenzort der Kirche sieht L. in jener Versammlung (qhl; ekklesia) "die ganz hinhörendes Flehen ist, die das Kommen des Geistes erbittet, weil sie weiß, daß sie aus sich selbst völlig hilflos ist" (274). Mit Lukas denkt L. an eine ständige Versammlung und betont:

"Wer zum Glauben kommt, tritt nicht einem Verein oder einer Organisation bei, sondern wird einer ,Versammlung’ hinzugefügt." Die verbindliche Versammlung aller im Hören auf Gottes Wort und um der Klärung der Angelegenheiten der Gemeinde willen: auch sie sei schließlich verlorengegangen, als die Kirche Massenkirche wurde. L.: "Wir dürfen darauf vertrauen, daß die Form der Versammlung, die einmal die Kraft einer jungen Kirche war, auch den heutigen Gemeinden geschenkt wird." (291)

- Der intensivste Augenblick der Kirche ist die Erinnerung: Hier - und ausführlich nur hier - spricht L. von der Eucharistie: "Die sonntägliche Feier ist lebensnotwendig. Denn die Gemeinde steht nach spätestens sieben Tagen in der Gefahr, daß ihre Erinnerung abreißt." (310)

- Die Kirche soll zum Leib Christi werden: Hier nimmt Lohfink auf, was Paulus über die Kirche als Leib Christi entwickelt, in dem alle aufeinander angewiesen sind und vor allem den geringen und unscheinbaren Gliedern besondere Ehre zukommt. "Die Lösung ,Gottesvolk’, die im Neuen Testament als ,Leib Christi’ präzisiert wird, beruht ganz auf Freiwilligkeit. Sie beruht weiterhin darauf, daß die Ungleichheit der Menschen nicht geleugnet wird, sondern geradezu zum Mittel der gegenseitigen Bereicherung wird." (320) L. beharrt darauf, daß Kirche als Leib Christi nicht postuliert, sondern wirklich gelebt wird. Davon sei aber die Kirche mit ihren "unüberschaubaren Großgemeinden, die zudem noch aus vielen isolierten Einzelnen bestehen" (321) derzeit weit entfernt.

- Glaube will gelernt sein: Hier handelt L. über Katechumenat und Taufe und schildert die frühe Kirche als Gemeinschaft, in der umfassender Katechumenat als "Einübung in die Lebensform des Glaubens" (335) praktiziert wurde. Eine solche Gemeinde soll "den Glauben als vom Neuheidentum unterschiedene Lebensform anschaubar" machen. (335) Geschehe dies, sei auch die Kindertaufe kein Problem, geschehe es nicht, nutze auch ein auf Erwachsenentaufe ausgerichteter neu einzuführender Erwachsenenkatechumenat nichts.

- Kirche geht aufs Ganze: Da die Entscheidung zum Christsein das ganze Leben umschließe, könne es kein partielles Christsein geben ohne die ganze Hingabe der Jünger, die der ganzen Hingabe Jesu entspreche. Deshalb mündet auch dieser Abschnitt in harte Vorwürfe an die gegenwärtige kirchliche Praxis: "Ihre (der biblischen Texte) Radikalität wird ... verharmlost oder verschwiegen ... Mit dieser abgemilderten Botschaft, die nur noch zu sagen wagt, was der Gesellschaft sowieso plausibel ist, wird niemand für das Evangelium gewonnen." (343)

- Die tiefste Wunde der Kirche ist der Verlust der Einheit: Mit diesem Abschnitt schließt der analytische Teil des Buches. Die Kirche ist nicht ganz Kirche, solange die Spaltungen nicht überwunden sind - einschließlich der Ur-Spaltung zwischen Juden und Christen: "Sie dauert bis heute an und ist mit Sicherheit die in der Tiefe verborgene Ursache aller Spaltungen." (360)

Die zu erhoffende ("nicht uniformierte") Einheit der Kirche nun bringt L. mit dem kirchlichen Amt und dem Primat in Verbindung: Im Neuen Testament finde "unübersehbar eine zunehmende Konzentration auf das Apostolische und innerhalb des Apostolischen auf das kirchliche Amt statt." (374)

So hofft L. schließlich auch auf eine Verwandlung des Petrusamtes im Sinne einer Befähigung zum Dienst an der Einheit. Man dürfe davon ausgehen, "daß auch das Amt des Papstes noch formbar und entfaltbar ist" (378) - als ein im NT gegebener Typus, für evolutive Veränderung offen.

Gerhard Lohfink hat über die römisch-katholische Kirche geschrieben und zugleich über Gestalt und Auftrag jeder christlichen Gemeinde, indem er eine theologische Begründung und Rechtfertigung der "Katholischen Integrierten Gemeinde" verfaßt hat - die sich nicht neben der Kirche aber doch als Alternative zu deren derzeitiger Präsentation weiß.

Die Lebensform der überschaubaren, verbindlichen Gemeinde, zu der Menschen in freier Entscheidung finden, die sich radikal von der sie umgebenden Gesellschaft unterscheidet und mit jedweder anderen Religion nichts im Sinn hat, die aber gleichwohl Gottes erwähltes Werkzeug, Ort seiner "leibhaften Nähe" in der Welt ist - auf sie läuft nach L. der Weg Israels hin, sie steht vorbildhaft für alle Zeiten am Beginn des Weges der Kirche. In einem weiteren Exodus kann die ganze Kirche auf diese Weise Gemeinde werden - denn sie steht erst am Beginn ihres Weges. Die Auflösung der Verbindung mit dem Staat, die Hinwendung zu Israel und die Überwindung all ihrer Spaltungen, so scheint es L. zu sehen, wird ihr diesen Weg freimachen. Gerade insofern es ein Plädoyer darstellt, beeindruckt L.s Buch. Exegeten und Religionswissenschaftler müssen freilich diskutieren, ob diese oder jene These so tatsächlich haltbar ist, bildet doch die Behauptung, es gäbe eine Kongruenz von biblischem Befund und dem Lohfinkschen Modell einer erneuerten Kirche (und damit auch eine Entsprechung von Lohfinks Lebensweg und dem Weg, den die Bibel für Gottes Volk aufzeigt) das eigentliche Rückgrat des Buches.

Am Schluß kommt L. noch einmal auf sein Grundmotiv zurück: Evolution, Exodus, Entfaltung. Er sieht die Kirche erst am Anfang ihres Weges und nimmt ein großes Wort des Pariser Kardinals Lustiger auf: "Das Christentum fängt erst an. Es steigt gerade aus den Kinderschuhen. Es beginnt überhaupt erst. Es hatte noch keine Chance, sich zu entwickeln." Eine solche Hoffnung erlaubt auch Bücher von solch großem Anspruch, wie L. eines vorgelegt hat. Mit ihm stellt er sich in die Reihe jener, die allein in endgültiger Abkehr vom nachkonstantinischen Weg der Kirche und in radikaler Unterscheidung von jeder expliziten wie diffusen Religiosität sowie in der Praxis verbindlicher Nachfolge in personaler Gemeinde den einzigen dem Evangelium gemäßen Weg in die Zukunft sehen.

Im radikalen Rekurs auf den biblischen Befund werden grundlegende Wesenszüge katholischer (und darin altkirchlicher) Ekklesiologie herausgearbeitet. Dies betrifft die mehrfach erörterte Verbindung von Jesus und Kirche, bei der ein feines Netz von "Miteinander", "Zueinander" und "Nacheinander" gesponnen wird. Bleibt hier sichergestellt, daß Jesus Christus und seine Kirche bei aller Zusammengehörigkeit stets - um der Kirche und um Christi willen - kategorial unterschieden werden müssen? Dies betrifft auch seine Auffassung von der Rolle des kirchlichen Amtes (nicht zuletzt bei der Überwindung der Spaltungen, die L. theologisch kaum analysiert) und seinen ekklesiologisch-pastoralen Ansatz, mit dem er Glaube und Nachfolge sowie Verkündigung des Evangeliums und einladende Lebensweise eng aufeinander bezieht und miteinander verbindet, Gemeinde und Gesellschaft sowie Kirche und Religion (und Kultur?) aber eher voneinander trennt. Schließlich wird L. mit seiner entschiedenen Zusammenschau von Israel und Kirche zur Diskussion herausfordern und auch ältere Problemfelder wie z. B. die Frage nach dem "Frühkatholizismus im Neuen Testament" erneut interessant machen.

"Braucht Gott die Kirche?" hat L. sein Buch genannt. Er gibt sicher auch auf diese Frage eine Antwort, aber das Hauptthema des Buches scheint durch seinen Titel seltsamerweise nicht getroffen. Ebensowenig wie durch den Begleittext aus dem Herder-Verlag, der kaum ahnen läßt, welch einen massiven Entwurf einer alternativen Ekklesiologie Gerhard Lohfink hier vorgelegt hat. - Kardinal Joseph Ratzinger tritt an wichtigen Stellen der Untersuchung als Kronzeuge auf. Ihm ist das Buch gewidmet.