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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1353–1354

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Christoph

Titel/Untertitel:

Pilger, Popen und Propheten. Eine Religionsgeschichte Osteuropas.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2014. 293 S. m. 10 Abb. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-77265-7.

Rezensent:

Peter Maser

Führende Vertreter des politischen, kulturellen und kirchlichen Lebens im postsowjetischen Neu-Russland betonen in letzter Zeit immer offener, Russland sei eben »anders« und teile deshalb den »westlichen« Wertekanon in nur sehr begrenztem Maße oder lehne einzelne dieser Werte sogar ausdrücklich für das eigene Land ab. Außerhalb Russlands stößt diese Entwicklung weithin auf Unverständnis, wird mit Blick auf Wladimir W. Putin zu personalisieren versucht oder als vorübergehende Bewusstseinstrübung, besonders unter dem Einfluss der Ukraine-Krise, bagatellisiert. Solche Einschätzungen dürften schon deshalb in die Irre führen, weil sie die Tiefendimensionen der russischen und osteuropäischen Geschichte nicht zur Kenntnis nehmen.
Die Osteuropa-Forschung wurde seit dem Ende der Sowjetunion in Deutschland, aber auch in den USA sehr riskant geradezu eingedampft. Kenner sprechen heute schon vom »Aussterben der deutschen Osteuropaexperten« (Wladislaw Below). Das mag zu alarmistisch formuliert sein, signalisiert aber doch einen erschre-ckenden Verlust an wissenschaftlicher Expertise ausgerechnet in einer Zeit, in der Russland und Teile des östlichen Europas wieder gesteigerter Aufmerksamkeit angesichts der sich dort zusammenbrauenden Krisen bedürfen.
Christoph Schmidt, Osteuropahistoriker in Köln, ausgewiesen durch zahlreiche Studien zur osteuropäischen Geschichte, analysiert mit seiner weit ausholenden »Religionsgeschichte Osteuropas« wesentliche Traditionen, die das Bild des heutigen Osteuropas zumindest mitbestimmen. Russland steht dabei immer wieder im Mittelpunkt, aber auch Polen, die asiatischen Teile der untergegangenen Sowjetunion und selbst noch die DDR geraten in den Fokus dieser Untersuchung, die eine gut informierte Leserschaft voraussetzt.
Eingeleitet wird das Buch mit zehn »mehr oder weniger provokanten Thesen«, über die sich trefflich ein Semester lang in einem Oberseminar diskutieren ließe: Religion braucht Kirche nicht; die Vielfalt der osteuropäischen Religionslandschaft überragt die des Westens bei Weitem; die bisherige Religionsgeschichte missachtet den interreligiösen Dialog; das 20. Jh. hat Leben und Werk der Religionshistoriker zerrissen wie kein zweites; die sowjetische Ethnologie hat Erhebliches zur Religionsgeschichte geleistet; Polen allein hat die Brandung des Atheismus gebrochen; die Gemeinden sind bisher kaum erforscht; Fremdaussagen über die Religiosität von Individuen sind religionsgeschichtlich ein Problem; Bilder haben sowohl in der Ostkirche als auch in Polen grundlegende Bedeutung – gerade auch im Gegenüber zu Texten; das Religionsinteresse nimmt heute wieder zu, bleibt aber völlig diffus.
S. betrachtet Schamanismus, Orthodoxe und Lateiner, Muslime, Juden und Buddhisten in osteuropäischer Sicht gewissermaßen auf Augenhöhe untereinander. Das eröffnet oft überraschende Einsichten, legt aber auch ein grundlegendes Problem religionsgeschichtlicher Studien offen. Hat wirklich alles mit allem zu tun? Welche Bedeutung kommt Spuren, die gelehrte Forschung offenlegen mag, im Einzelnen wirklich zu? War die Vielfalt der osteuropäischen Religionslandschaft nicht auch deshalb möglich, weil die verschiedenen Religionen sich im Vergleich zu Mitteleuropa in riesigen geographischen Räumen – vom Baltikum und Polen über Moskau bis hin nach Mittelasien – Jahrhunderte lang gleichsam nebeneinander und »gekammert«, also bewusst oder unbewusst gegeneinander abgrenzend, ohne wirkliche gegenseitige Kenntnisnahme entfalten konnten? Der Austausch über Religionsgrenzen hinweg blieb doch eher die Ausnahme, und die – letztlich immer fragilen – Unionsbildungen kamen zumeist doch letztlich immer unter politischem Druck nur innerhalb einzelner Religionen und zwischen »verwandten« Konfessionen zustande. Große Glaubenskriege wie im übrigen Europa hat es deshalb im Osten auch nicht gegeben, was heftige Einzelkonflikte dort, wo die Religionen direkt aufeinandertrafen, keineswegs ausschloss.
Erstaunlich bleibt, dass S. die kommunistische »politische Religion« und den sowjetischen Atheismus in seiner Darstellung den traditionellen Religionen nachordnet. In den 70 Jahren Sowjetherrschaft etablierte sich da doch tatsächlich eine neue und durchaus massenwirksame Religion, die sich selbstverständlich ganz ungeniert auch aus dem reichen Arsenal der religiösen Traditionsmasse bediente. Selbst für die »religiösen Sterberituale« wurde dabei zumindest kollektiver Ersatz in einer überbordenden Denkmalkultur, in Gedenkfeiern und Paraden, Namensverleihungen und anderen rituellen Akten bis in die tiefste Provinz hinein mit deutlich religiösen Konnotationen gefunden. In Polen allerdings blieb die religiöse Präsenz von der Gottesmutter von Tschenstochau bis hin zum polnischen Papst Johannes Paul II. so stark, dass die »politische Religion« der Kommunisten dort niemals Fuß fassen konnte.
S. bietet für seine Darstellung eine beeindruckende, gelegentlich sogar irritierende Menge von Einzelinformationen, anregenden Fragestellungen oder auch teilweise überraschenden Parallelisierungen auf. Am erstaunlichsten für breitere Leserkreise, wenn auch durchaus einleuchtend, mag dabei die die Zeiten überdauernde Bedeutung sein, die S. dem Schamanismus – von prähistorischen Zeiten bis in die Gegenwart – zuweist. Aber gehören dessen »Kernmotive« letztlich nicht doch zur Grundausstattung jeglicher Religiosität?