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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1306-1308

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Altmaier, Michael Bertram

Titel/Untertitel:

Vergöttlichung bei Vladimir Solov’ëv und Lev Tolstoj. Ein Dialog, der nie geführt wurde.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2014. 336 S. = Das Östliche Christentum. Neue Folge, 59. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-04186-1.

Rezensent:

Erich Bryner

Der Philosoph Vladimir Solov’ëv (1853–1900) und der Schriftsteller Lev Tolstoj (1828–1910), zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten der russischen Geistesgeschichte, waren Zeitgenossen, kannten sich persönlich, schätzten einander anfänglich, doch im Laufe der Zeit kam es zu einer Entfremdung zwischen ihnen und schließlich zu einem endgültigen Bruch. In Solov’ëvs Spätwerk »Drei Gespräche« erscheint der »Fürst« (gemeint war Tolstoj) als Gesprächspartner, doch die scharfe Ablehnung des Autors ist sehr deutlich. Wie das theologisch-philosophische Gespräch zwischen Solov’ëv und Tolstoj hätte weitergeführt werden können, wenn es nicht zum Bruch gekommen wäre, versucht Michael Altmaier anhand des Begriffes »Vergöttlichung« ( theōsis), der in der orthodoxen Theologie eine zentrale Rolle spielt, nachzuzeichnen.
In seinem Buch, einer leicht überarbeiteten Fassung der Dissertation, die von der Theologischen Fakultät Münster (Westf.) angenommen wurde, geht A. von einem historischen Abriss der Vergöttlichungslehre aus, die Wurzeln in der Antike hat und von Irenäus von Lyon zum ersten Mal ausformuliert wurde (»Gott wurde Mensch, damit der Mensch göttlich werde«, Irenäus, Adv. haer. III/19,1). In seinem Kapitel über die Anthropologie zeigt A. die völlig unterschiedlichen Auffassungen Solov’ëvs und Tolstojs auf. Für Solov’ëv ist die Anthropologie ein wichtiges Element seiner umfassenden kosmologischen Sicht. Als »Bild und Gleichnis Gottes« hat der Mensch teil an der menschlichen und an der göttlichen Welt. Seine Aufgabe ist es, die Vollkommenheit zu suchen, in freier Ent scheidung zur Vergöttlichung und zur All-Einheit mit Gott zu gelangen. Tolstoj hat demgegenüber kein Interesse an der theore-tischen Philosophie. Ihm geht es um die Frage, wie der Mensch le-ben soll, nicht um Orthodoxie, sondern um Orthopraxie. Durch ein intensives Nachdenken über Leben und Tod kommt Tolstoj zu einer Ethik der Liebe. Beiden Denkern ist gemeinsam, dass sie Möglichkeiten einer positiven Entwicklung des Menschen auf ein Ziel hin sehen und formulieren, doch Wege und Ziele sind ganz verschieden.
In der Christologie geht Solov’ëv von der altkirchlichen Dogmatik aus, die er außerordentlich schätzt, sieht in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus die zentrale Theophanie und das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte. Jesus Christus ist der wahre Gottmensch und weist der Menschheit den Weg zur All-Einheit in Gott. Solov’ëvs Hauptinteresse ist ein soteriologisches. Es geht ihm um das Heil von Menschheit und Kosmos. Tolstoj geht demgegenüber vom Rationalismus der Aufklärung aus. Er will eine neue Religion ohne Dogma und Mystik entwickeln und kritisiert die kirch-liche Dogmatik mit ihrer Trinitäts- und Zweinaturenlehre scharf. Jesus ist für ihn der Moral- und Tugendlehrer, welcher der Menschheit ethische Lebensanweisungen gibt. Zentral hierfür sind die Evangelien, die Tolstoj eigenwillig aus dem Griechischen übersetzt, auslegt und anwendet. Die praktischen Lebensanweisungen Jesu gipfeln im Satz, man solle dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen. Von hier aus ergibt sich seine klare Ablehnung von staatlichen und kirchlichen Institutionen, seine Grundideen von Pazifismus und Anarchie. Gemeinsam ist beiden Denkern die Un­terscheidung von menschlicher und geistiger Entität in Christus und die Bevorzugung der geistigen. Doch für Solov’ëv bringt Chris­tus das Heil für den ganzen Kosmos, für Tolstoj konkrete praktische Lebensanweisungen für die Menschen. Der Gegensatz zwischen den beiden Denkern in der Christologie könnte kaum größer sein.
In der individuellen Eschatologie geht es Solov’ëv um die Vergöttlichung der gesamten Menschheit und des gesamten Kosmos innerhalb seines philosophischen Systems. Er geht aber auch auf die Frage ein, was der einzelne Mensch zu diesem Prozess beitragen könnte, sieht in guter orthodoxer Tradition ein grundsätzliches Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit und nennt insbesondere das Gebet, das Almosengeben und das Fasten sowie die Teilnahme an den Sakramenten der Kirche als wichtige Beiträge jeder einzelnen Person. Tolstoj spricht demgegenüber von konsequenter Jesusnachfolge. Dabei sind sich nach A. die beiden Denker näher, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Beide schreiben von einem Herauswachsen des Menschen aus seiner materiellen Natur zu einer höheren Seinsweise: »Solov’ëv spricht in diesem Zusammenhang von Vergöttlichung, Tolstoj von der Menschensohnschaft« (247). Beide sprechen auch von einer Hoffnung auf das Reich Gottes. Solov’ëv meint dabei eine Vollendung der Welt und des gesamten Kosmos, Tolstoj ein inneres Reich Gottes.
Der Vergleich der beiden hervorragenden Exponenten der rus-sischen Geistesgeschichte, den A. zieht, ist sehr anregend. Die Grundpositionen sind genau nachgezeichnet und in eine interessante Spannung gebracht. Tatsächlich hätten Solov’ëv und Tolstoj ihre Auseinandersetzungen in fruchtbarer Weise noch ein Stück weiterführen können, als sie es taten, doch sie wären auch dann an Grenzen gestoßen. Mir scheinen ihre Grundansätze noch verschiedener und ihre Schlussfolgerungen in vielen Punkten noch unversöhnlicher gewesen zu sein, als sie in der vorliegenden Untersuchung dargestellt sind. Rationalismus und Aufklärung haben im Russland des 19. Jh.s sehr stark nachgewirkt; nicht richtig ist die Bemerkung A.s, viele russländische Adelige seien durch den Russlandfeldzug Napoleons 1812 »zum ersten Mal in direkten Kontakt mit westeuropäischen, aufklärerischen Ideen« gekommen (37).
Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s drang die französische Aufklärungsphilosophie in Russland ein, nahm mitunter radikalere Formen an als in Westeuropa; man sprach vom »Voltairianertum« in der Moskauer und Petersburger Gesellschaft; auch Rousseau sowie die Materialisten und Atheisten waren in den gebildeten Kreisen sehr bekannt. Dies war eine wichtige Voraussetzung des Kampfes zwischen Westlern und Slavophilen im 19. Jh., der bei Solov’ëv und Tolstoj eine spezifische Fortsetzung fand. Bei den Aus führungen über das Zusammenspiel von göttlicher Gnade und mensch-licher Entscheidungsfreiheit hätte noch deutlicher auf die entsprechenden theologischen Überlegungen der Kirchenväter hin-gewiesen werden können (187.207). Solov’ëvs »Drei Gespräche« sind irrtümlicherweise auf 1889/1890 angesetzt worden statt auf 1899/ 1900 (93, richtig 269). Im Fazit ist mir auf S. 310 zu viel von Angst die Rede: Angst sei »der Hemmschuh einer gemeinsamen Suche nach der Wahrheit des Christentums gewesen«, beide Denker hätten Angst gehabt, ihre Absolutheitsansprüche aufgeben zu müssen. Solov’ëv und Tolstoj waren nicht ängstlich. Sie waren von ihren Positionen überzeugt und ihrer Sache sicher. Doch die gegenseitige Entfremdung war mit der Zeit so groß geworden, dass ein Gespräch oder eine gemeinsame Aktion etwa im Kampf gegen den Antisemitismus (ein wichtiges Anliegen beider) nicht mehr möglich waren.