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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1300-1303

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer, Peter

Titel/Untertitel:

Predigt als Sprachgeschehen gelebt-religiöser Praxis. Empirisch-theologische Beiträge zur Sprach- und Religionsanalyse auf Basis komparativer Feldforschung in Deutschland und in den USA.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIV, 781 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 15. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-152441-7.

Rezensent:

Ruth Conrad

Die Predigt ist ein komplexes, vielschichtiges Geschehen: Unterschiedliche Anlässe, unterschiedliche Situationen, unterschied-liche Predigerpersönlichkeiten, unterschiedliche kirchlich-ge­meindliche Hintergründe, unterschiedliche kulturelle Kontexte, unterschiedliche theologische Selbstverständnisse etc. verlangen sowohl in thematischer wie auch in methodischer Hinsicht eine mehrdimensional und plural orientierte homiletische Forschung und Theoriebildung. In methodischer Hinsicht treten entsprechend neben notwendige historisch-systematische Studien interdisziplinär orientierte sowie empirische und auch kontextuell vergleichende Arbeiten. Letztere freilich sind innerhalb der deutschsprachigen Praktischen Theologie noch vergleichsweise selten, nicht nur auf dem Gebiet der Homiletik. Der jeweilige Erkenntnisgewinn im Hinblick auf das Ganze der Predigt liegt einerseits in der Ergänzung durch das jeweils Andere, also gerade nicht in der Monopolisierung von Fragestellungen oder methodischem Repertoire. Nicht jeder kann und muss alles machen. Andererseits kann ein besonderer Reiz in der forcierten Kombination von mehreren Frageperspektiven und Methoden liegen. Ein solches Vorgehen leitet die Untersuchung von Peter Meyer, mit der dieser im Jahr 2012 am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt promoviert wurde.
M. unternimmt es, die skizzierte Komplexität und Vielschichtigkeit des Predigtgeschehens durch eine doppelpolige Analyse zu beschreiben: einmal als ein Phänomen gesprochener Sprache und zum andern in der Hinwendung zum »lebensweltlichen Entstehungszusammenhang der Predigt« (2). Die Predigt als ein Ereignis gesprochener Sprache wird von M. in die lebensweltlichen Kontexte dergestalt rückgekoppelt, dass nach den je individuellen Erlebnissen, biographischen Sozialisationsbedingungen und entsprechenden Prägungen, den lokal-gemeindlichen Arrangements und Vollzugshorizonten, den leitenden Predigtidealen und damit verbundenen Erwartungen und Voreinstellungen – auch ekklesiolo-gischer und pastoraltheologischer Natur – aller am Predigtgeschehen Beteiligten gefragt wird. So wird die Predigt selbst als »Praxis gelebter Religion« (5) verstehbar. Diesem doppelten inhaltlichen Bezugspunkt korrespondiert ein doppeltes methodisches Vorgehen: Einerseits bringt der Vf. unterschiedliche Sprach-, Religions- und Lebenswelttheorien miteinander ins Gespräch und andererseits verbindet er diesen theoriegesättigten Zugang mit einer em­pirischen, kontextuell vergleichenden Studie. Das empirische Fundament bilden je drei Predigten aus urbanen Regionen der USA (Sommer 2008) und in Westdeutschland (Passionszeit 2009; im An­hang in lautgetreuer Transkription beigegeben, 713–745). Diese werden mittels 19 leitfadengestützter Interviews (mit Hörern wie Predigerinnen bzw. Predigern), teilnehmender Beobachtung und audio-visueller Analysen in ihren gemeindlichen und sozio-kulturellen Kontext eingezeichnet (trianguliertes Verfahren). Dank diesem sowohl thematisch wie inhaltlich jeweils doppelt angelegten Vorgehen »können Beschreibungen aus unterschiedlichen, subjektbezogenen Perspektiven sowie die lebensweltlichen Verortun gen einzelner vergleichend verbunden und auf konzeptionell-theoretischer Ebene diskutiert werden« (Grounded Theory) und damit »lebensweltliche Prozesse, feldgenerierte Strukturen und Texte als phänomenkonstitutive Momente konturiert« und »die Pluralität der Wahrnehmungen der Predigt« abgebildet werden (313). Zugleich gerät damit am exemplarischen Ort der Predigt-Praxis der Zusammenhang zwischen individuell und sozial-institutionell organisierter Religion in Blick.
In der Darstellung werden die verschiedenen Zugänge ineinander verwoben. M. wählt ein zirkuläres Verfahren. Theorie und Praxis lassen sich nicht trennen. Die Arbeit ist in fünf Teile mit insgesamt 16 Kapiteln aufgebaut. Der Aufbau ist komplex und minutiös konstruiert, manchmal etwas zu komplex. Dann muss der Leser lange argumentative »Anfahrtswege« in Kauf nehmen. Im ersten Teil erörtert M. (auf allein 130 S.) die Grundlagen seiner Untersuchungen. Ausgehend von einem Verständnis der Predigtkrise als einer produktiven Krisis (z. B. 129), schon allein, weil homiletische Krisen immer als vorauseilende Indikatoren kirchlicher Krisen fungieren, konturiert M. auf der Theorieebene sein spezifisches Interesse im Zusammenspiel dreier homiletischer Schlüsselkategorien – Religion(swandel), Sprache, Kommunikation – und spielt das spezifische Moment der Krise durch die Unterscheidung von Teilhabe und Zugehörigkeit (im Hintergrund steht das Begriffspaar »believing«/»belonging«; Grace Davie) ein. Im Hinblick auf den empirischen Teil der Studie stellt M. die bislang vorliegenden Beiträge zur empirischen Predigtforschung (E. Lerle, H. Schwier/S. Gall, K.-W. Dahm, K.-F. Daiber, A. Quade, F. M. Lütze) vor. In der Zusammenschau zeigen diese Beiträge die »Entwicklung der Predigtauffassung vom Hoheits- zum Gemeinschaftsakt« (127). Der zweite Teil ist der Analyse des Sprachvollzugs gewidmet. Zum einen werden hier erste Ergebnisse des empirischen Samples präsentiert und mit sprachtheoretischen (u. a. der von Karl Bühler, der Sprechakttheorie und deren Kritik vor allem bei J. Habermas und H. Knoblauch) und sprachphänomenologischen Modellen in Beziehung gesetzt. Sozio-linguistische und sprach-ethnographische Perspektiven werden aufeinander bezogen. Vor dem Hintergrund dieser beiden ersten Teile kommt dem dritten Hauptabschnitt Scharnierfunktion zu – die dort präsentierte Entfaltung des spezifisch homiletischen Forschungsdesigns verbindet das in den vorausgehenden Teilen dargestellte Theoriedesign mit dessen methodischen Konsequenzen, bevor die Teile 4 und 5 die homiletischen Ergebnisse, die sich aus der Verknüpfung von Theorie- und Empiriearchitektur ergeben, diskutieren. Daher ist dieser dritte Teil auch der Ort der Untersuchung, an welchem M. das Verhältnis von theologischem und qualitativ-empirischem Normativitätsanspruch problematisiert und – in der Tradition des Frankfurter Mo­dells einer ›Empirischen Theologie‹ – die normative Legitimität der Empirie in der grundsätzlichen und reformatorisch begründeten Subjektorientierung der Theologie verortet (350 f.).
Der vierte Teil spannt ein dreifaches Panorama des »Konstitutionshorizonts möglicher Predigterfahrungen« (359) auf: Unter der Leitperspektive »Mythos und Fiktion« geht es um Fragen der Form und Formation der Predigterfahrung – hier werden vor allem Funktion und Verständnis der Bibel bzw. des biblischen Textes thematisiert, sodann wird das Verhältnis von Form und Erfahrung verhandelt, also die Frage, wie sich Transzendenz und Kommunikation zueinander ins Verhältnis setzen lassen bzw. wie dieses Verhältnis und seine Transformationen wahrgenommen und be­schrieben werden, und zuletzt die von den Subjekten vorgenommene Rückkopplung der Predigterfahrung an das Pfarramt bzw. an die predigende Person und an die Institution Kirche. Vor allem in diesem vierten Teil arbeitet M. pointiert und detailreich die kulturellen Differenzen zwischen dem deutschsprachigen und dem US-amerikanischen Untersuchungssample und deren heuristisches Potential heraus. Einige wenige Beispiele seien genannt: Im westdeutschen Kontext wird die Predigt der institutionalisierten Sphäre der »Kirche« zugeordnet. Sie gehört gleichsam in einen kirchlichen »Sonderbereich«, wird also in einen eingegrenzten Funktionsbereich eingewiesen (z. B. 372). Die Hörer pflegen eine Distanz zu religiösen Formen und Sprachspielen. Die Bibel gilt als formale Norm des Gottesdienstes (es muss über einen Text gepredigt werden), zugleich aber ist sie dem heutigen Leben gegenüber fern und fremd und muss professionell für die Gegenwart erschlossen werden. Diese Professionalität wird dem Pfarrer bzw. der Predigerin zugeschrieben. Korrespondierend wird das Intellektuell-Kognitive präferiert. Deutlich anders dagegen das Setting in US-amerikanischen Predigtkontexten: Die Hörer fühlen sich persönlich eingebunden in die Gemeinde. Die selbst gewählte Gemeinde und nicht eine großräumige Institution »Kirche« ist der Bezugsrahmen des Gottesdiensterlebens. Entsprechend wird der Pfarrer stärker als Freund und Partner wahrgenommen. Auch der Bezug auf biblische Narrative und deren Sprachgestus ist selbstverständlicher. »Mo­mente hoher Erlebnisintensität« werden gegenüber dem Intellektuellen hervorgehoben (451), ebenso der narrative Gestus der Predigt. Und während im deutschsprachigen Raum die sogenannte politische Predigt verlässlich polarisiert, gilt es im amerikanischen Kontext als selbstverständlich, den biblischen Texten aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz zuzugestehen. Diese (und weitere) kulturell bedingte Differenzen legen es nahe, so M. völlig zu Recht, mit dem Übertrag homiletischer Konzepte jeweils behutsam zu sein – »Einzelphänomene (etwa die ›als ereignisreich‹ erlebte US-Predigt) [können] nicht wie ein Stück Handwerkskunst an einem anderen Ort implementiert werden« (279). Unterschiedliche kulturelle Kontexte können nicht einfach übergangen werden. Der fünfte Teil beschreibt »Predigt als Erfahrung und Aufgabe« und unternimmt eine erfahrungsbezogene Analyse der sechs Predigten und führt zu einer Bündelung der Erträge an der homiletischen Schnittstelle von sprechender und gesprochener Sprache.
M. hat eine perspektivenreiche und sowohl theoretisch wie em­pirisch materialreiche und anspruchsvolle Studie vorgelegt, die gerade im homiletischen Kontextvergleich, im spezifischen me­thodischen Zuschnitt und in der Beschreibung des Predigtgeschehens als einer mehrdimensionalen religiösen Praxis sehr anregend ist. Unterschiedliche Perspektiven und Fragen werden miteinander ins Gespräch gebracht und immer wieder aufeinander bezogen. Bedauerlich ist allerdings, dass manche Impulse und Anregungen nicht nur im hochdifferenzierten und (über)komplexen Aufbau und in dem Bemühen, möglichst umfassend darzustellen (auch hier gilt: Nicht jeder muss alles machen!), verloren zu gehen drohen, sondern auch unter dem in der Tendenz hermetischen Sprachgestus der Untersuchung leiden. Das ist schade, denn das Vorge hen, der sprachphänomenologischen Idee »konstitutionsanalytischer Beschreibung des Sprechens« (322 f.) in der Verbindung von theoretischen, methodologischen und empirisch generierten Impulsen nachzugehen, ist überzeugend und liefert inspirierende und weiterführende Wahrnehmungen und Einsichten, nicht zuletzt die, dass die Pluralität der Predigtwahrnehmung und die Komplexität des Predigtgeschehens forschungsmethodisch eben doch nie vollständig wahrzunehmen und abzubilden ist (z. B. 681 f.).