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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1294-1295

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thiede, Werner

Titel/Untertitel:

Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen.

Verlag:

München: oekom verlag 2015. 236 S. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-86581-727-3.

Rezensent:

Hans Schwarz

Diese Veröffentlichung des Erlanger apl. Professors für Systema-tische Theologie steht in einer Reihe mit seinen früheren Büchern Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft (München 2012) und Die digitalisierte Freiheit. Morgenröte einer technokratischen Ersatzreligion (Berlin 20142). Das Buch umfasst fünf Kapitel (Smarte Verführungen, Wirtschaftliche Lockungen, Kulturelle Folgen, Unsoziale Medien und Digitalisiertes Evangelium). Ein Resümee in 95 Thesen sowie Literaturhinweise und 785 Anmerkungen runden das sorgfältig recherchierte Buch ab.
Werner Thiede legt überzeugend dar: »Unsere Gesellschaft hat im Zeichen der ›digitalen Revolution‹ einen riskanten Weg eingeschlagen« (9). Die Technologie soll mehr Freiheit bringen, was sie in mancher Hinsicht auch getan hat, aber sie schafft zugleich mehr Unfreiheit. So haben wir die Möglichkeit schnellster Kommunikation, aber zugleich wird die wachsende Handy-Abhängigkeit ein gesellschaftliches Problem. Nach einer deutschen Untersuchung wurde im Herbst 2014 bekannt, »dass 12 Prozent der Menschen im Tagesverlauf durchschnittlich (!) alle zehn Minuten zum Handy bzw. Smartphone« griffen (27 f.). Digitale Medien haben ein hohes Suchtpotenzial. Sie lassen vereinsamen, führen zu Stress und De­pressionen, aber auch zu »digitaler Demenz« (31).
Junge Menschen gebrauchen nach einer Studie durchschnittlich 150 Mal pro Tag ihr Smartphone, was zu Konzentrationsschwächen führt (34 f.). Hinter der digitalen Revolution stehen ökonomische Überlegungen, denn seit den 70er Jahren sind die Märkte in der westlichen Welt gesättigt. Die Unternehmen produzieren deshalb »erst die Bedürfnisse und dann die Waren, die sie los werden wollen«, wie wir an der Smartphone-Kultur sehen können (60). Die neuen Technologien führen zu einer zunehmenden Inhumanisierung der Privat- und Arbeitswelt, wenn man ständig erreichbar ist. »Immer mehr Menschen wirken gehetzt; bereits Kinder und Jugendliche; aber auch Ältere ›leiden unter schwerem Datenstress‹« (61). Auch die Wissenschaft ist hier eingebunden, denn viele Universitätsinstitute können ohne ständige Drittmittel aus Industrie und Wirtschaft nicht forschen und die Ergebnisse werden dann von Firmen als Marketinginstrumente benutzt (67). So werden heute alle Lebensbereiche weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie betrachtet. Jedoch warnt der Vf., dass Ökonomisierung »aus christlicher Sicht unmöglich gesellschaftspolitischer Leitwert sein« darf (72). So droht die alles bestim mende Ökonomisierung »zu einer neuen Zivilreligion zu wer-den« (73).
Die kulturellen Folgen dieser Digitalisierung sind eine akute Bedrohung der Freiheit und Demokratie durch totalitäre Tendenzen. So droht eine Überwachungsdemokratie. Seit der Enthüllung weltumspannender Ausforschung durch Geheimdienste hat das Digitalzeitalter seine Unschuld verloren. Ein Staat, der systematisch überwacht, kann nicht zugleich ein freiheitlicher Rechtsstaat sein. Überdies »tragen Menschen freiwillig oder gedankenlos bei jedem Klick im Netz Persönliches zu Markte, die Jüngeren unter uns vertrauen sozialen Netzwerken gleich ihr ganzes Leben an«, so dass jede Privatsphäre schwindet (85). Mit der Abschaffung der Privatsphäre gehen viele Elemente verloren, die mit Lebensqualität verbunden werden. Die sogenannten sozialen Medien werden vom Vf. als unsozial eingestuft, denn sie vereinfachen und beschleunigen zwar die Kommunikation, aber machen gleichzeitig einsam, müde, traurig oder frustriert (102). Die heutigen Kommunika-tionsmittel fördern die Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurz fristigkeit. Man ist gemeinsam einsam, denn jeder ist nur mit seinem Handy beschäftigt. Die Faszinationskraft der sozialen Netzwerke »darf nicht den Blick auf die tiefgreifenden Fragwürdigkeiten verstellen« (118). Die Wärme einer Kirchengemeinde findet man in keinem sozialen Netzwerk (122). Der Vf. resümiert: »Insgesamt sind die politischen und kulturellen Folgen des Technikwahns zwar nicht präzise vorherzusagen, aber doch tendenziell absehbar. Wer bei näherem Hinsehen heute immer noch kein ›Kulturpessimist‹ ist, der muss schon vor vielen erkennbaren Entwicklungen und intellektuellen Warnungen die Augen verschließen. Namentlich die militärische Drohnen-Technologie droht mittelfristig menschlicher Kontrolle zu entgleiten – und zwar zwangsläufig, in der perfiden Logik des technischen Fortschreitens-Wollens und -Müssens« (98).
Da der Mobil- und Kommunikationsfunk eine der Hauptsäulen der digitalen Revolution und auch der globalen Überwachungsprogramme ist, fragt der Vf., wie das mit der Bewahrung der Schöpfung zu vereinbaren ist. So steigen in Europa die Anzahl der Menschen, die elektrosensibel sind (125). Zudem sind Schädigungen, die von radioaktiver Strahlung ausgehen, identisch mit Auswirkungen von elektromagnetischen Wellen. Auch bei Tieren wurde die schädigende Wirkung der Mobilfunkstrahlung belegt (129). Ähnliches wurde bei Bäumen festgestellt. Zudem ist der Energieverbrauch durch die digitalen Netze immens (135). Somit ist die digitale Revolution eine Bedrohung der Schöpfung.
Aber auch der Mensch soll umgeformt werden, da der säkulare Mensch zunehmend nach Glück und nicht mehr nach Seligkeit strebt. Gerade Ersteres verheißt die digitale Revolution, denn sie suggeriert mehr Komfort sowie Lust- und Erfolgserlebnisse. Da­mit wird unterschlagen, dass der Mensch in einer unvollendeten Welt lebt, die gekennzeichnet ist von der Entfremdung zwischen Schöpfer und Schöpfung. »Sein technisches Streben hat Anteil an der entsprechenden Ambivalenz von Segen und Fluch, von Möglichkeit und Versuchlichkeit« (149). Da die Technik dem Wohl des Menschen dienen soll, bedarf ihr Fortschritt ethischer Begleitung und Kontrolle. Dazu will dieses Buch aufrufen. Seine Lek-türe macht nachdenklich, und es ist zu hoffen, dass es viele Leser findet.