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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1288-1290

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Höhn, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 230 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-451-34035-2.

Rezensent:

Tilman Fuß

Der Kölner katholische Theologe Hans-Joachim Höhn legt ein Grundlagenbuch zur Ethik vor, das durch seine Interdisziplinarität mit Interesse rechnen kann. Die Bezugswissenschaften seines Entwurfs sind insbesondere die (Religions-)Philosophie, die Soziologie und die Sozialpsychologie. Der Vf. verfolgt damit ein mehrfach integratives Anliegen. In zweierlei Hinsichten tritt dies besonders hervor: Unter dem literarischen oder genremäßigen Aspekt geht es ihm darum, das praktisch-ratgeberische Interesse der verbreiteten Lebenskunstliteratur mit wissenschaftlich-ethischem Tiefgang zu verbinden und so auf ein höheres systematisches Niveau zu heben. Hieraus folgt die Konzentration auf die individualethische Fragestellung in dem vorliegenden Buch. Institutionenethische Fragen werden nicht behandelt.
In disziplinärer Hinsicht liegt das Gewicht vor allem auf einer Verbindung zwischen Ethik und Anthropologie. Dabei fragt die vom Vf. für eine heutige Ethik als relevant erachtete Anthropologie nicht ontologisch nach dem Wesen des Menschseins, sondern nach den Grundrelationen, die das menschliche Handeln wesentlich bestimmen. Die anthropologische Korrespondenz- und Rahmendisziplin der Ethik wird vom Vf. daher als Existentialpragmatik bestimmt. In ihr werden Natur, Bewusstsein, Gesellschaft und Zeit als die wesentlichen Bezugsgrößen herausgearbeitet, zu denen der Mensch in seinem Handeln ein sprachvermitteltes Verhältnis habe (54 f.).
Die Herausforderung für das menschliche Handeln in diesen Verhältnissen sieht der Vf. durch die Endlichkeit und Begrenztheit des Handelnkönnens gegeben: Der Umgang mit der Natur ist mit der Knappheit der natürlichen Ressourcen konfrontiert, der Umgang mit sich selbst stößt auf die eigene Verwundbarkeit, das gesellschaftliche Handeln nimmt die Form der Konkurrenz um Lebenschancen an, und die Verfügung über die Zeit wird durch die Befristung des Lebens beschränkt. Die ethische Herausforderung des menschlichen Lebens besteht demnach in einem vernünftigen Umgang mit den »Limitationen des Daseins« (78 f.).
Der auf den Rezensenten mitunter unübersichtlich wirkende Gedankengang läuft zunächst auf eine pragmatische Wendung des logischen Nichtwiderspruchsprinzips hinaus. Vernünftig ist ein Handeln, das die Bedingungen seiner selbst erhält, statt sie zu zerstören (85 f.). In dieser Formalität dem Kategorischen Imperativ Kants nahestehend ergeben sich im Einzelnen die Prinzipien der Rentabilität im Umgang mit natürlichen Ressourcen, der Selbstreflexivität im Umgang mit den Grenzen der Entwickelbarkeit der persönlichen Möglichkeiten, der Gegenseitigkeit im Umgang mit sozialer Konkurrenz sowie der Zeitgemäßheit im Umgang mit den Limitationen der Zeit und den kulturellen Rahmenbedingungen.
Auf der Begründungsebene sieht der Vf. das formale, selbstevidente und nicht begründungsbedürftige Nichtwiderspruchsprinzip als ausreichend zur Gewinnung ethischer Normativität an. Eine religiöse Begründung ethischer Normen hält er angesichts der erforderlichen Unbedingtheit des moralischen Sollens für ein Missverständnis (91). Hiermit steht das Buch innerhalb der katholischen Moraltheologie in der Tradition der »Autonomen Moral«. Unbeschadet dieses Autonomiegedankens sieht der Vf. – im Sinne des »cultural turn« (110 ff.) – die Bedeutung kultureller und religiöser Traditionen eines gelebten Ethos im Entdeckungszusammen hang ethischer Normativität. Hier knüpft er an die alten Tradi-tionen der Tugendethik an, also an die Reflexion auf bewährte Haltungen und Gewohnheiten, die dem Menschen bei der Bewältigung seiner Aufgaben und moralischen Herausforderungen helfen und ihm ersparen, immer wieder von vorn beginnen zu müssen. Die existentialpragmatische Aktualisierung der Tugendethik – im Sinne des vernünftigen Umgangs mit den Daseinslimitationen– ist der normative Kern des vorliegenden Buches (129–138). Der Vf. erhebt den Anspruch, dass die hier gegebenen Ratschläge ein tieferes Fundament haben als die weisheitlichen Florilegien der gängigen Lebenskunstliteratur.
Die Endlichkeit und Begrenztheit des Daseins ist aber aus der Sicht des Vf.s nicht nur Grund der ethischen Herausforderung, sondern bringe auch eine Bedrohung der moralischen Motivation insgesamt mit sich und stelle den Sinn langfristigen moralischen Engagements grundsätzlich in Frage. Hier gerate die für die praktische Vernunft unbedingte ethische Forderung in einen unauflösbaren Widerstreit mit der Einsicht der theoretischen Vernunft in die letztliche Vergeblichkeit aller praktischer Bemühungen um eine vernünftig geordnete Welt des Handelns angesichts der Sterblichkeit und des Scheiterns.
Gemäß der schon zu Beginn der Abhandlung gegebenen Zeitdiagnose verschärft sich das Problem heute durch den »kinetischen Imperativ«, den angeblich herrschenden Zwang, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erlangen (14.182 ff.). Auf der Suche nach einer Möglichkeit, angesichts der Unlösbarkeit dieses Widerstreits »Daseinsakzeptanz« zu gewinnen, unternimmt der Vf. den »Versuch einer existentialpragmatischen Neuformatierung von Immanuel Kants Überlegungen zu einer ›Ethico-Theologie‹« (181). Hiermit findet die Theologie ihre Bedeutung für die Ethik: Anstatt eine Begründungsfunktion für ethische Normen zu erfüllen, hält die Religion mit dem Gottesgedanken und der christlichen Eschatologie die Möglichkeit eines kontrafaktischen Festhaltens am »Projekt der Da­seinsakzeptanz« und damit am moralischen Engagement offen.
Wie diese Anknüpfung an Kants Postulatenlehre ist vieles an dem vorliegenden Buch interessant und anregend. Der Rezensent stört sich freilich an der uneinheitlichen Diktion der Arbeit, die zwischen wissenschaftlicher Sprache, feuilletonistischer Zuspitzung und existenzphilosophischem Jargon changiert und nicht immer zu präzisen Aussagen findet.
Angesichts des Programms, sich an der Praktikabilität der Ratgeberliteratur zu messen (bei gleichzeitiger Überbietung an Ge­dankentiefe), enttäuscht es, wie wenig weit der Vf. in die Konkretionen materialer Ethik vordringt und wie sehr er sich mit den im Untertitel angekündigten »Konturen« begnügt.