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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1272-1274

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Welz, Claudia [Ed.]

Titel/Untertitel:

Ethics of In-Visibility. Imago Dei, Memory, and Human Dignity in Jewish and Christian Thought.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VIII, 289 S. = Religion in Philosophy and Theology, 77. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153810-0.

Rezensent:

Ulrich Schmiedel

Claudia Welz, Gründungsdirektorin des Center for the Study of Jewish Thought in Modern Culture in Kopenhagen, versammelt in Ethics of In-Visibility zwölf Beiträge, die für drei Konferenzen des Centers geschrieben wurden. Der Bindestrich im Titel »Ethik der Un-Sichtbarkeit« hebt die Dialektik zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hervor, um die sich die Beiträge drehen. Die Begriffe der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit werden dabei über den der Erfahrung bestimmt: Was sich erfahren lässt, verweist auch auf das Unerfahrbare; was sich nicht erfahren lässt, auch auf das Erfahrbare. Eine Ethik der Un-Sichtbarkeit setzt sich demnach mit den Bedingungen und den Begrenzungen der Erfahrung der Alterität im menschlichen Handeln auseinander. Das Andere ist an­ders, weil es Erfahrungen und Erwartungen transzendiert – eine Transzendenz, die Schöpfer und Geschöpf charakterisiert.
In einer Vielzahl von Veröffentlichungen hat Welz eine Konzeption von Theologie als semiotischer Phänomenologie des Unsichtbaren vorgelegt. Der Band Ethics of In-Visibility legt nach, indem er sich auf die Ethik der Un-Sichtbarkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen konzentriert. Der Gedanke der imago Dei (Gen 1,26–27; 5,1–3) ist zentral für diese Ethik, denn Gottesebenbildlichkeit wird eher indirekt als direkt entdeckt, kann also im Handeln und Verhandeln zwischen Menschen un-sichtbar gemacht werden. Dieser Thematik, die aus den Blickwinkeln der Hermeneutik, der Ästhetik und der Ethik bearbeitet wird, widmen sich die interdisziplinären und internationalen Beiträge, die Welz in vier Abschnitten angeordnet hat.
Abschnitt I analysiert Handlungen der Un-Sichtbarmachung. Arne Grøn erarbeitet eine Phänomenologie des Sehens und des Nicht-Sehens, um die Konturen einer »ethics of vision« (24) nachzuzeichnen. Sein Grundgedanke lautet, dass diese Ethik auf der Anerkennung dessen beruht, was sich dem Sehen entzieht. Grøns Diagnose von Blindheiten in der gegenwärtigen »culture of visibil-­ity« (21) wird von Daniel Dayan mit dem Begriff des »Visibility Entrepreneur« (59) aufgegriffen. In einer medientheoretischen Analyse beschreibt er den Kampf um Sichtbarkeit, der zwischen etablierten und nicht-etablierten Medien geführt wird. Dabei betont er die Performativität medialer Berichterstattung. Hannes Langbein analysiert daraufhin »The Artist is Present«, eine Performance von Marina Abramovi, die 2010 im New Yorker Museum of Modern Art stattfand. In Auseinandersetzung mit den Phänomenologien des Blickes von Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty argumentiert Langbein, dass Abramovi in ihrer (Selbst-) Inszenierung als Ebenbild Gottes gesehen werden konnte. Die emotionalen Reaktionen der Zuschauer deutet er als »transfiguration« (82), die mit dem von Paulus beschriebenen Anblick des Angesichts Gottes (2Kor 3,18) verglichen werden kann.
Das Problem der Idolatrie, auf das Langbein auch zu sprechen kommt, wird in Abschnitt II aufgegriffen. Im Kontrast zur Auffassung, dass das Judentum aufgrund des Bilderverbots kunstkritisch sei, diskutiert Alana M. Vincent Traditionen jüdischer Kunst. Die Interpretation der Figur des Bezalel (Ex 31,1–6) ist für sie der Ausgangspunkt einer Theorie der Kunst im Judentum. Melissa Raphael untersucht die Theologien des Judentums hingegen auf ihr Potential zur Kritik von Menschenbildern. Gegen den Drang und Druck zur Perfektion, der aus Darstellungen des (weiblichen) Körpers entsteht, die »digitally enhanced« (104) wurden, führt sie die jüdische Kritik der Götzenbilder seit Maimonides ins Feld. Christina von Braun beschäftigt sich mit dem Symbol des Kreuzes. Ausgehend von der Bedeutung des (Haken-)Kreuzes in der »political religion« (119) des Nationalsozialismus analysiert sie die Geschichte des Kreuzes. Durch das Christentum wurde das Kreuz vom Symbol der Schwäche zum Symbol der Stärke – ein Symbolwandel, auf den der Nationalsozialismus aufbauen konnte.
Abschnitt III konzentriert sich auf Auseinandersetzungen mit der Moderne. Iben Damgaard analysiert den Begriff der Freiheit in den Konzeptionen der Menschenwürde von Pico della Mirandola und Søren Kierkegaard. Sie zeigt, wie der Humanismus im Existentialismus verarbeitet wurde. Die Konfrontation des Judentums mit der Moderne wird von Paul Mendes-Flohr untersucht. Er entwi-ckelt eine Typologie von Reaktionen auf die Moderne, die von grundlegender Ablehnung (Walter Benjamin) zu grundlegender Annahme bei konservativer (Leo Strauss) oder liberaler Kritik (Martin Buber) reicht. Elliot R. Wolfson analysiert dann Jean-Luc Ma-rions Phänomenologie der Gabe. Nach Marion ist die Eucharistie das Phänomen, in dem die Gabe zum Ausdruck kommt, weshalb er es als Grundlage der Ethik auffasst. Mit Hilfe von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida kritisiert Wolfson Marions Privilegierung der Eucharistie. Wird die Phänomenologie gewissermaßen getauft, dann bleiben die Ungetauften außen vor.
Im abschließenden Abschnitt IV geht es um die Entwicklung der Philosophien und Theologien des Judentums nach der Shoah. Christian Wiese vergleicht die teils expliziten und teils impliziten Reaktionen auf die Shoah in den ethischen Entwürfen von Hans Jonas und Abraham J. Heschel. Beide Denker verstehen die imago Dei als Anspruch an den Menschen, Verantwortlichkeit für die Schöpfung zu übernehmen. Der Verantwortlichkeit des Schöpfers für die Shoah geht Nehama Verbin nach. Sie rekonstruiert Protest als eine angemessene Haltung des Menschen gegenüber einem Gott, der die Shoah zugelassen hat. Mit Bezug auf Erzählungen wie Simon Wiesenthals Die Sonnenblume lotet sie aus, wie Gott für die Shoah vergeben werden kann. Abschließend kommt Claudia Welz auf die Deutung und Bedeutung der imago Dei im Angesicht der Shoah zu sprechen. Kann der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit nach der Shoah noch mimetisch interpretiert werden? In Auseinandersetzung mit Poesie und Philosophie entwickelt Welz eine Konzeption der imago Dei im Anschluss an Walter Benjamins »Denkbild« (262), die es erlaubt, auch kontrafaktisch an der Gottesebenbildlichkeit des Menschen festzuhalten.
Die Vielfalt der Beiträge ist gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche des Bandes. Es ist nicht immer nachzuvollziehen, was die einzelnen Aufsätze zu einer Ethik der Un-Sichtbarkeit beitragen. Umso beeindruckender ist aber, wie die beiden Artikel von Welz, die die Beiträge des Bandes rahmen, fast alle Kernkonzepte aufgreifen und ausbauen. Die Erfahrung der Alterität ist dabei der Ausgangspunkt für die Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Gerade im gegenwärtigen Kontext, in dem Alterität oft als Bedrohung wahrgenommen wird, ist die Arbeit an einer Ethik der Un-Sichtbarkeit entscheidend. Wenn es stimmt, dass der Islam heute als das Symbol des Anderen herhalten muss, dann ist es schade, dass der Band nicht ausdrücklich auf diese Religion zu sprechen kommt. Dabei hätte doch gerade der Islam reiche Ressourcen anzubieten, mit denen sich transzendente und immanente Alterität denken und überdenken ließe. Trotzdem legt Ethics of In-Visibil-ity die Grundlage für die (Weiter-)Arbeit an einer Ethik der Un-Sichtbarkeit. Wenn dieser Band den Ton für weitere Bände aus dem Center for Jewish Thought in Modern Culture angibt, dann darf man auf diese Weiterarbeit gespannt sein.