Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1270-1272

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ungler, Franz

Titel/Untertitel:

Bruno Liebrucks’ »Sprache und Bewußtsein«. Vorlesung vom WS 1988. M. e. Geleitwort v. J. Simon. Aus d. Nachlass hrsg. v. M. Gottschlich.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2014. 568 S. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48616-0.

Rezensent:

Kurt Appel

Bei diesem Buch handelt es sich um die erste umfassende Einführung in Denkfiguren des 1986 verstorbenen Frankfurter Philosophen Bruno Liebrucks. Dies ist insofern von Bedeutung, als Liebrucks als einer der tiefgründigsten Hegel-Interpreten des 20. Jh.s angesehen werden kann, wenngleich seine Rezeption in den letzten Jahrzehnten eher von einem »Insider«-Kreis gepflegt wurde. Möglicherweise liegt ein Grund darin, dass Liebrucks den christlich-theologischen Hintergrund seiner Hegeldeutung nicht verleugnet. Ein Satz wie »Ohne Gegenwart der letzten [Bewußtseinsstufe] wäre der Mensch so wenig einer Bewußtseinsregung fähig wie ohne die Gegenwart Gottes eines Atemzuges« (Sprache und Bewußtsein V, 9) vermag in gegenwärtigen philosophischen Kontexten wissenschaftlicher Nichtbeachtung Vorschub zu leisten.
Neben einer Einführung in das Werk von Liebrucks verfolgt das vorliegende Buch als zweite Absicht eine Vorstellung der Hegel-interpretation des 2003 verstorbenen Wiener Philosophen Franz Ungler. Letzterer hat sich nicht nur in besonderer Weise der Gedankenwelt Hegels verpflichtet gefühlt, sondern auch wiederholt Liebrucks als Gesprächspartner für seine Deutung herangezogen.
Da Ungler wenig publiziert hat und in Wien vor allem durch seine Vorlesungen wirksam wurde, hat sich der Herausgeber des vorliegenden Bandes, der Linzer Philosoph und Schüler von Ungler, Max Gottschlich, dazu entschlossen, eine Vorlesung, die Ungler im Jahr 1988/1989 über Liebrucks hielt, auf der Basis von vorliegenden Tonbandaufnahmen zu verschriftlichen. Ihr vorangestellt hat Gottschlich ein kurzes Geleitwort des Liebrucks-Schülers Josef Simon und eine ca. 170-seitige Einführung in Leben und Werk Unglers (19–78) sowie Liebrucks’ (79–186), in der er auch über die editorische Verfahrensweise Rechenschaft gibt.
Der Ungler-Teil skizziert neben kurzen biographischen Angaben die wichtigsten Motive, die die Hegel-Deutung des Wiener Philosophen leiteten. Er meinte, mittels Hegelscher Dialektik das Programm seines Lehrers E. Heintel, nämlich ein systematisches Denken in den Bahnen der philosophischen Tradition im Hinblick auf eine Vereinigung von (aristotelischer) Ontologie und (kantischer) Transzendentalphilosophie leisten zu können. Konkret ging es um eine Verbindung von Einzelnem und Allgemeinem, von Theorie und Praxis, letztlich also um ein Sichrealisieren der logischen Form, d. h. der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption: Wie kann die Brücke vom transzendentalen Subjekt zum existierenden Menschen geschlagen werden? Ungler war wie Liebrucks der Ansicht, dass eine solche Verbindung nur in einer grundlegenden Kritik des Geltungsbereiches der formalen Logik möglich ist. Denn diese gelangt nie zum Einzelnen und real Exis­tierenden, bleibt also ihrem Gegenstand äußerlich. Sie dient, um mit Liebrucks zu sprechen, der Zubereitung der Welt der Positivität, der Installierung des »technisch-praktischen« Weltumgangs als Paradigma menschlicher Selbstverwirklichung.
Mit diesen Gedanken leitet Gottschlich zu seiner umfangreichen Liebrucks-Einführung über, die den interessantesten Teil des Buches ausmacht. Liebrucks vertrat die These, dass Hegel von seinen beiden philosophischen Hauptwerken her, nämlich der Phänomenologie des Geistes (PhdG) und der Wissenschaft der Logik (WdL) zu verstehen ist, während die Vorlesungen, die Enzyklopädie und selbst die Rechtsphilosophie den Gedankengängen Hegels äußerlich bleiben. Denn das entscheidende Moment der Hegelschen Philosophie liege in der Durchführung der dialektischen Methode, in der Form und Inhalt nicht auseinanderfallen. In diesem Sinne wird von Liebrucks die Hegelsche Philosophie als Weltauffassung durchbuchstabiert, die sich jedem abstrakt-äußerlichen Urteil, in dem ein Subjekt von einer Herrschaftsposition aus seinen Gegenstand fixiert und bestimmt, entzieht. Liebrucks hält fest, dass Hegels Denkweg eine Art Exerzitium der Demut und Agape voraussetzt. Konsequent wird jedes Herrschaftsdenken zurückgewiesen, in dem sich das Ich über seine Umwelt messend und bestimmend erhebt. Den höchsten und paradoxen Ausdruck findet diese Weltauffassung in der Liebrucksschen Feststellung, dass »der Mensch nur als Marionette Gottes frei ist«. Erst jenes Bewusstsein, welches von sich absehend der Offenheit und unverfügbaren Transzendenz des Lebens ent spricht (so ein weiterer zentraler Terminus von Liebrucks), indem es die Welt nicht als Objekt behandelt, sondern ihr sprachlich begegnet, d. h. ihr Subjektstatus und Selbstwert zuerkennt, wird dem sich selbst entäußernden Gott der christlichen Tradition gerecht. Gott fungiert in diesem Denken weder als Erstursache noch als transzendentales Prinzip, sondern als geistige Offenheit, aus der das Subjekt seine Existenz und Sprache empfängt. Damit verwandelt sich der Weltzugang von einer Subjekt-Objekt-Relation in eine Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation, wobei Gott mehr als die intersubjektive Grundlage unserer Verständigung darstellt, insofern diese – nur als vorgängig angesprochen zur Sprache kommend – nicht als technisch dechiffrierbare Interaktion endlicher Subjekte gedacht werden kann. Gesellschaftliche Konsequenzen, die sich aus dem Ethos der Entäußerung und des Herrschaftsverzichts ergeben, führen Liebrucks in manche Nähe zu seinem Frankfurter Kollegen Adorno. Mit diesem verband ihn ein Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung, wenngleich Liebrucks ein radikaler Kritiker des Marxismus war, einerseits aus religiösen Gründen (und auch aus einer konservativ-aristokratischen Grundeinstellung heraus), andererseits, weil er im Marxismus den Gestus technisch-praktischer Welterstellung sah. Die absolute, wahrhaft menschliche und wahrhaft göttliche Form der Entsprechung sah Liebrucks in der poetisch-sprachlichen Weltbegegnung, weshalb der letzte Band seines monumentalen siebenteiligen Hauptwerks »Sprache und Bewußtsein«, in dem er u. a. Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels PhdG und alle drei Teile der WdL interpretiert, der Dichtung Hölderlins gewidmet ist.
Im Vergleich zu der lesenswerten Einleitung von Gottschlich fällt die Liebrucks-Vorlesung von Ungler deutlich ab. Anders als in vielen seiner beeindruckenden Vorlesungen über zentrale Texte der philosophischen Tradition geht Ungler hier eher oberflächlich mit den Textvorlagen – neben Liebrucks’ »Sprache und Bewußtsein« Kants Kritiken und Hegels Logik – um. Er bleibt bei einer allgemeinen Abrechnung mit philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen stehen ohne differenziertere Auseinandersetzung mit den kritisierten Positionen. Die Sprache wirkt oftmals holprig, dazu ermüden die ständigen Wiederholungen.
Insgesamt hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck: Er bringt im ersten Teil eine lesenswerte Einführung in zentrale Motive und Denkbewegungen eines weitgehend vergessenen Philosophen, dessen Denken angesichts heute immer deutlicher hervortretender Konsequenzen des »technisch-praktischen Weltumgangs« weitergeführt werden sollte. Statt des zweiten Teils wäre es allerdings lohnender gewesen, die einführende Darstellung auszuweiten in eine kritische Auseinandersetzung mit Liebrucks’ Philosophie, durchaus in Konsultierung und Zitation von Gedanken Unglers.