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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1267-1270

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Born, Marcus Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. VII, 252 S. m. 5 Abb. = Klassiker auslegen, 48. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-05-005674-6.

Rezensent:

Christian Jung

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Born, Marcus Andreas, u. Axel Pichler [Hrsg.]: Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in »Jenseits von Gut und Böse«. Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XI, 352 S. = Nietzsche Heute, 5. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-029889-5.


In einer Ausgabe des Berner Bundes von 1886 veröffentlichte Josef Viktor Widmann eine Rezension über Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, in der er das besagte Werk nicht nur als »gefährliches Buch«, sondern als »Dynamit« bezeichnete (Berner Bund vom 16./ 17. September 1886, 37/256). Und tatsächlich steckt in der 1886 publizierten Nietzsche-Schrift gedanklicher Sprengstoff en masse. Schließlich führt Nietzsche seine Leser hier in den Brennpunkt seiner Philosophie, mitten hinein in die Frage nach der Entstehung der moralischen Perspektive auf das Leben und einer möglichen Überwindung derselben. Das Werk, das Nietzsche selbst als Glossarium, als erläuternde Beigabe zu seinem Zarathustra vorstellt, ist in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Nietzsche-Forschung gerückt. Dies zeigen nicht zuletzt die beiden Neuerscheinungen von Marcus Andreas Born, die im Folgenden besprochen werden.
Der erste der genannten Bände ist in der Reihe Klassiker Auslegen erschienen. Hier kommentieren renommierte Nietzsche-Forscher Passagen aus Jenseits von Gut und Böse, wobei die einzelnen Kommentare der Chronologie des Werkes folgen, also jeweils ein Kommentar zur Vorrede, zu den neun Hauptstücken und zum abschließenden Gedicht Aus hohen Bergen. Nachgesang enthalten ist. Um einen ersten Einblick in den Aufsatzband zu ermöglichen, werden drei der insgesamt zwölf Beiträge vorgestellt.
Mit dem Aufsatz »Perspektiven auf eine Philosophie der Zu­kunft in Jenseits von Gut und Böse« (1–16) legt Marcus Andreas Born eine knappe Einführung zu Nietzsches Schrift vor. Dabei verweist er vor allem auf deren literarisches Wesen und betont, dass die in ihr enthaltenen »Inszenierungsstrategien« (4) auf eine »programmatische Verunsicherung« (8) des Lesers zielen. Unterwegs zu einer Philosophie der Zukunft, die jenseits von Gut und Böse, jenseits der etablierten Wertesysteme liegt, gibt Nietzsche – so Born – kein eindeutiges Programm vor. Vielmehr führt er seinen Lesern unterschiedliche, sich zeitweise widersprechende Positionen vor Augen und sensibilisiert sie somit für die Relativität der Positionen überhaupt.
In ihrem Aufsatz »Annäherungsversuche an die Wahrheit. Die Vorrede von Jenseits von Gut und Böse« (17–25) erläutert Annemarie Pieper die enge Beziehung zwischen Nietzsches dionysischem Wahrheitsverständnis und dem Begriff des Weiblichen. Den einzelnen Gedanken der Vorrede entlanggehend, hält Pieper zum Schluss fest: »Die (weibliche) Baubo-Wahrheit ist empfänglich für die Aufforderung zu ständiger Selbsterneuerung. Ihre Fruchtbarkeit deutet auf Weiterentwicklung und Zukunft. Die (männliche) Dogmatiker-Wahrheit hingegen ist steril. Erstarrt in einem ungeschichtlichen, überzeitlich präsenten Substrat, unterbindet sie jeglichen Fortschritt und verhindert damit die Zukunft. Aus diesem unfruchtbaren Zustand muss die Wahrheit erlöst werden: Durch ›Verweiblichung‹« (25).
In seinem Aufsatz »Eine Frage zum Schluss. Das neunte Hauptstück: ›was ist vornehm?‹« (179–206) analysiert Werner Stegmaier Nietzsches Begriff des Vornehmen aus dem Blickwinkel einer Philosophie der Orientierung (vgl. ders., Philosophie der Orientierung, Berlin 2008). Im Zuge seines Aufsatzes erläutert er nicht nur die Kontexte, in denen Nietzsche seine Idee des Vornehmen entwickelt, er gibt auch tiefgreifende Einblicke in zentrale Denkfiguren des Philosophen. Grundsätzlich ist im Verlauf des Textes ein Gedanke richtunggebend: Der vornehme Geist weiß sowohl um die Notwendigkeit als auch um die Relativität aller Orientierungen. In der Folge verzichtet er darauf, seine persönliche Orientierungsleistung moralisch zu verallgemeinern. – »Moral ist nichts für alle gleich Gültiges und nichts an sich Bestehendes; es gibt in der äußersten Konsequenz, die Nietzsche auch hier zu ziehen bereit ist […], überhaupt nichts Allgemeines, alles Allgemeine ist aus moralischen Gründen erfunden worden, um den Einzelnen einen Halt in ihrer Orientierung zu bieten. Wer diese Illusion durchschaut, blickt in eine unendlich komplexe Welt, in der alles auf unabsehbare Weise wechselseitig bedingt ist und in der sich jeder auf eigene Verantwortung orientieren muss. Es bestimmt dann seinen Rang, wie viel oder wie wenig Allgemeines, wie viel oder wie wenig Moral er braucht. Wer sein Allgemeines nicht auch anderen zumutet und es nicht von ihnen erwartet, ist ›vornehm‹.« (180)
Die zweite Neuerscheinung, der von Marcus Andreas Born und Axel Pichler herausgegebene Sammelband Jenseits von Gut und Böse geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die im Jahr 2012 in Naumburg an der Saale stattfand. Auch wenn sich die versammelten Autoren Nietzsches Schrift auf sehr unterschiedliche, methodisch-vielfältige Weise nähern, gehen sie von einer verbindenden Grundannahme aus: Nietzsches Texte sind als literarische Inszenierungen zu verstehen, in denen Form und Inhalt aufs Engste miteinander verwoben sind. Im Folgenden sollen ebenfalls drei der insgesamt 16 Aufsätze vorgestellt werden:
In seinem Beitrag »›Glossarium‹, ›Commentar‹ oder ›Dynamit‹? Zu Charakter, Konzeption und Kontext von Jenseits von Gut und Böse« (69–86) kommt Andreas Urs Sommer zu einem überraschenden Ergebnis. Die spezifische Entstehungsgeschichte der Nietzscheschen Schrift in den Blick nehmend, weist er nach, dass Nietzsches berühmte Selbstkommentare »notorisch unzuverlässig« (74) sind. So betont Sommer z. B., dass der Hinweis, Jenseits von Gut und Böse sei ein ›Glossarium‹ bzw. ein ›Commentar‹, auf die späte Werkpolitik des Philosophen zurückgeht. Seines Erachtens ist die ›Glossariumsbehauptung‹ »vor allem eines: eine Kontinuitätsbehauptung. Gegen den Anschein, sein denkerisches und schriftstellerisches Werk zerfalle in unverbundene Einzelteile, setzt Nietzsche den Grundsatz, zwischen seinen Schriften bestehe ein Verhältnis von Kohärenz und Konsistenz. Dieser Grundsatz soll ganz im Stile der philosophischen Tradition den Anschein von kontinuierlicher Entwicklung und innerer Folgerichtigkeit erzeugen.« (72)
In seinem Beitrag »Geist und Liebe zur Maske. Zu Aphorismus JGB 40 und Nietzsches Personenbegriff« (243–258) verweist Enrico Müller auf die Nietzschesche Rede von einem allgegenwärtigen, dem menschlichen Dasein immer schon inhärenten Maskenspiel und betont zugleich, dass Nietzsche dieses Maskenspiel auf das Phänomen der Scham zurückführt. Im Zuge seiner profunden Analyse von JGB 40 gewährt Müller nicht nur interessante Einblicke in Nietzsches Phänomenologie der Scham, er gibt auch Theologisches zu denken. Im Anschluss an Nietzsche spricht Müller z. B. von einem Gott, der – getrieben von einer unvordenklichen Scham – zur Menschen-Maske greift. »Gott als der oder das Allertiefste würde demnach aus Scham zur Oberflächlichkeit der Maske greifen. Unter den Bedingungen der Scham schafft Maskierung als Kenntlichmachung eine Oberfläche des Verstehens, hinter der die Tiefe als eine unverständliche ge- und bewahrt werden kann.« (250) Die Menschwerdung Gottes als Folge einer göttlichen Scham? Dieser Gedanke lädt zum theologischen Weiterdenken ein.
In seinem Aufsatz »›Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!‹ Nietzsches ›subtiles‹ Schreiben in Jenseits von Gut und Böse« (231–242) geht Martin Endres der Frage nach, wie ein »›Jenseits‹ von Gegensätzen gedacht werden und sprachlich zur Darstellung gebracht werden kann, wenn sich die Gegensätze unablässig in jedes Urteil, in jede begrifflich-propositionale Aussage […] einzeichnen.« (231) Auch wenn Endres im Rückgriff auf Nietzsche betont, dass das Denken und Sprechen des Menschen an die Welt der Gegensätze gebunden bleibt, zeigt er anhand einer langsamen, textnahen Lektüre von JGB 24, dass Nietzsche im Zuge eines subtilen Schreibens »ein Denken, genauer: eine Bewegung eines Denkens einfordert, das sich bei keiner Seite des Gegensatzes aufzuhalten vermag« (241), sondern zu einer beständigen Reflexion über die Genese der Gegensätze einlädt.
Grundsätzlich sind beide Neuerscheinungen zu empfehlen. Sie gewähren nicht nur tiefe Einblicke in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, sondern schlagen zugleich Brücken zu einem besseren Verständnis seiner gesamten Philosophie. Bei alldem verlieren sie nicht aus dem Blick, dass es bei der Lektüre der Nietzscheschen Texte letztlich nicht um ein ›Verstehen‹ derselben geht, sondern um das mystagogische Eintreten in ein Denken, das sich gerade auf das Unverständliche, das Geheimnisvolle zubewegt.
Ein hoffnungslos theologischer Gedanke zum Schluss: Sollte Nietzsche – zumindest in Teilen und geradezu aus Versehen – ›Heilige Texte‹ verfasst haben? Texte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie niemals zu Ende interpretiert werden können, dass sie immer wieder neu und anders ausgelegt werden müssen? Wenn dies der Fall wäre, so ist zu fragen, ob Nietzsches literarisches Schaffen mit dem Begriff der Inszenierung, der in beiden Neuerscheinungen eine tragende Rolle spielt, bereits adäquat beschrieben ist. ›Heilige Texte‹ sind nämlich – trotz aller Lenkungsmacht des Autors – nicht inszenierbar. Sie überraschen ihren Urheber. Sie überkommen ihn wie ein Dieb in der Nacht. Blickt man aus dieser Perspektive auf Nietzsches Schriften, so erscheint der Philosoph plötzlich nicht mehr nur als Herr, sondern auch als Knecht seiner eigenen Texte. Er wird als ein Autor erkennbar, der nicht nur mit außergewöhnlichem Talent inszeniert hat, sondern auch Opfer seines eigenen Schreibens war, hin- und weggerissen wurde von einer Sprache, die durch ihn hindurch musste.