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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1263-1264

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Qu, Thomas Xutong

Titel/Untertitel:

Barth und Goethe. Die Goethe-Rezeption Karl Barths 1906–1921. M. e. Vorwort v. M. Welker.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 260 S. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-7887-2785-7.

Rezensent:

Konrad Hammann

Ursprünglich hatte Karl Barth geplant, innerhalb seiner 1932/33 in Bonn gehaltenen und 1947 veröffentlichten Vorlesung »Die pro-testantische Theologie im 19. Jahrhundert« deren »Vorgeschichte« mit einem Kapitel über Goethe abzuschließen. Dazu kam es seinerzeit aus Zeitgründen und vermutlich auch wegen der politischen Entwicklungen im Jahre 1933 nicht. Barth war aber, wie er im Vorwort zu dem genannten Buch erklärt, auf die »Darstellung Goethes […] damals nicht ganz unvorbereitet«. Dass er sich in der Tat, zumal in seiner Frühzeit, intensiv mit dem Werk Goethes befasst hat, zeigt Thomas Xutong Qu in seiner beeindruckenden Untersuchung zur »Goethe-Rezeption Karl Barths 1906–1921«. Der Vf. dieser von der Theologischen Fakultät Heidelberg 2013 als Dissertation angenommenen Arbeit hat sich während seines Theologiestudiums und der sich anschließenden Promotionszeit mit der neueren deutschen Geistes- und Theologiegeschichte sowie insbesondere mit dem frühen Werk Karl Barths sehr gut vertraut gemacht.
In der kompakten Einleitung erläutert der Vf. den Forschungsstand und methodologische Entscheidungen, im abschließenden Resümee zeichnet er die wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchung in die Theologie Barths ein. Dabei dient ihm das von Barth häufig zitierte und jeweils prononciert verstandene Goethe-Wort »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird’s Ereignis« dazu, die Goetherezeption Barths in verschiedene Phasen aufzugliedern (245; vgl. 189–198). Diese Phasen behandelt der Vf. in den drei Hauptkapiteln seines Buches unter den Leitmotiven Hinwendung, Zuwendung und Abwendung. Ein viertes Kapitel ist noch der Goetherezeption Barths nach 1921 gewidmet. Angesichts der detaillierten und reichhaltigen Resultate der Untersuchung ist es allerdings bedauerlich, dass dem Buch keine Regis­ter beigegeben sind, die es hätten erschließen können.
In Kapitel I macht der Vf. plausibel, dass Barth während seines Studiums namentlich durch Adolf von Harnack zur Intensivierung seiner in der Gymnasialzeit begonnenen Goethelektüre angeregt wurde. Goethe steht für Barth, wie die Analyse der von ihm 1906–1908 gehaltenen Predigten ergibt, in dieser Phase zunächst für die liberale Hochschätzung der Humanität und des Persönlichkeitsgedankens. Wie weit Harnack das Goethebild des jungen Barth auch materialiter beeinflusst hat, bleibt freilich unklar. Der Vf. scheint die einschlägige Studie Wilfried Barners über »Adolf von Harnack zwischen Goethekult und Goethephilologie« (2003) nicht zu kennen. Von dieser Untersuchung her wären vielleicht auch im Blick auf den jungen Barth und sein Verhältnis zu Goethe weitere Akzentuierungen möglich.
Für die verstärkte Zuwendung Barths zu dem Weimarer Klassiker zwischen 1909 und 1918 bildete die 40-bändige Ausgabe der »Sämtlichen Werke« Goethes die Grundlage. Der Vf. zeigt, wie diese Ausgabe sukzessive in den Besitz Barths gelangte, und rekonstruiert anhand der Randbemerkungen Barths akribisch, welche Werke Goethes er bevorzugt las. In dieser zweiten Phase der Rezeption avanciert Goethe zum anregenden Wegbegleiter des Theologen, der den Dichter als Antipoden zu Jesus auffasst und ihn im kirchlichen Unterricht als ein anzuerkennendes nichtchristliches Exempel in die Lebensbilder der christlichen Religion einreiht. In Barths erstem »Römerbrief« von 1919 ist Goethe sogar, noch vor Schiller und Carl Spitteler, der meistzitierte nichttheologische Schriftsteller. Der Vf. führt dies auf die von Barth in seinem ersten Kommentar zum Römerbrief umgesetzte Hermeneutik zurück, die die Konzentration auf das Besondere der Bibel mit der Beachtung von deren universaler Bedeutung verbinde. Barth findet bei Goethe nicht nur sprachliche Hilfe zur Formulierung theologischer Gedanken, sondern auch »prophetische Formulierungen«, die das theozentrisch gedachte Wirken des ewigen Geistes gewissermaßen antizipieren. Auf dieser Linie führt er etwa zu Röm 6 Verse aus Goethes Gedicht »Epirrhema« an: »Müsset im Naturbetrachten / Immer eins wie alles achten; / Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen. / So ergreifet ohne Säumnis / Heilig öffentlich Geheimnis.«
Zwischen 1919 und 1921 vollzieht Barth in einer entscheidenden Phase der Formierung seines eigenen Denkens die – vorläufige – Abwendung von Goethe. Diese dritte Rezeptionsphase beginnt mit dem Tambacher Vortrag »Der Christ in der Gesellschaft« 1919 und setzt sich fort in einigen Predigten sowie im zweiten »Römerbrief« von 1922. Barth nimmt Goethe nunmehr nicht länger als große Persönlichkeit, sondern als den Repräsentanten einer zu überwindenden geistigen Strömung in Anspruch, des Humanismus und der Kulturgläubigkeit nämlich, für die die biblische Religion die Krisis darstelle. Dementsprechend streicht er im zweiten »Römerbrief« die zahlreichen Goethezitate der ersten Auflage. Die Konzentration auf die »Sache« der Theologie, auf das Wort Gottes und Christus, wie auch die Betonung der eschatologischen Gestalt des Christentums sorgen dafür, dass Barth vorerst, bis 1932, zu Goethe auf Distanz bleibt.
Dann jedoch entspannt sich sein Verhältnis zu Goethe wieder, wie der Vf. an verschiedenen Beispielen aufzeigt. Es kommt zur erneuten Lektüre des Weimarer Dichterfürsten im Zusammenhang mit dem Gedenken an seinem 100. Todestag 1932, zwei Italienreisen Barths 1929 und 1934, später im Rahmen von Barths Interesse an Mozart, während eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthaltes 1965 und im Dialog mit Carl Zuckmayer 1967. Der Vf. hat in seiner minutiösen Untersuchung Barths Bezüge zu Gothe allem Anschein nach erschöpfend ermittelt und sachkundig in seine theologische Entwicklung eingestellt. Barth wäre freilich nicht Barth gewesen, wenn er nicht auch sein Verhältnis zu Goethe (und zu Harnack) in seine Selbststilisierung mit einbezogen hätte. Harnack habe ihm, so bedeutete er um 1936 in Basel einer Besucherin, wohl den Weg zu Goethe, nicht aber den zu Christus gewiesen (vgl. 30 f.).