Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1261-1263

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Loewe, Andreas

Titel/Untertitel:

Johann Sebastian Bach’sSt John Passion (BWV 245): A Theological Commentary. With a new Study Translation by K. Firth and a Preface by N. T. Wright.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. 330 S. m. Abb. = Studies in the History of Christan Traditions, 168. Geb. EUR 129,00. ISBN 978-90-04-26547-9.

Rezensent:

Ute Poetzsch

Die Idee zu einem Buch über eine der bekanntesten und oft diskutierten Kompositionen Johann Sebastian Bachs wurde während eines Projekts entwickelt, das unter der Schirmherrschaft Ton Koopmans 2002 in Berkshire stattfand und das in einer liturgischen Aufführung der Johannespassion (BWV 245) gipfelte. Daraus ergab sich das Interesse, dieses Werk hinsichtlich theologischer Fragen zu untersuchen. Andreas Loewe, anglikanischer Theologe, dessen mu­sikhistorische Interessen sich vor allem auf Johann Sebastian Bach richten, seit 2012 Dompropst in Melbourne (Dean of Melbourne) und Lektor am zur Universität gehörenden Conservatorium of Music in Melbourne, machte sich auf den Weg, diese Fragen zu beantworten. So ist das vorliegende Buch das Ergebnis jahrelanger Recherchen, vieler Gespräche, musikpraktischer Betätigung und Studienreisen, die auch an »authentische« Orte wie die Leipziger Thomaskirche führten. Zur Seite stand L. dabei Katherine Firth, die die Entstehung des Buchs aktiv begleitet und vor allem als kundige Übersetzerin mitgewirkt hat.
In seinem Geleitwort weist Nicholas T. Wright (Professor für Neues Testament und Frühes Christentum in St. Andrews) auf die Einzigartigkeit des Johannesevangeliums mit seiner besonderen Fokussierung auf das Wort und Gottes Liebe hin sowie darauf, dass Bach eine einzigartige Synthese von Kunst und Glauben geschaffen habe (XVI).
Dem Genre einer Einführung gemäß gibt L. in seiner Einleitung zuerst einen zusammenfassenden Überblick über die Bachforschung im Allgemeinen wie auch über die Bachrezeption und -betrachtung seit dem 19. Jh. und die Entwicklung eines »neuen Bachbildes« im 20. Jh. Dabei werden auch die Ansätze der theologischen Bachforschung und die mitunter kritische Rezeption dieses Konzepts in dem Bewusstsein thematisiert, dass Nachgeborenen ein Nachvollzug des religiösen Lebens und Umfelds einer vergangenen Zeit, hier des ausgehenden 17. und frühen 18. Jh.s, in das Bach hineinwuchs, kaum möglich ist.
Dem Hauptteil des Buches – der Übersetzung, Kommentierung und Interpretation des Librettos und seiner musikalischen Umsetzung – voran geht eine Einführung in Bachs schulische und musikalische Ausbildung und Entwicklung sowie der zeitgenössischen Kirchenmusik (»Cantata«) und der Genese der Gattung Passion. Im Zuge seiner Schulbildung und weiterer, vielleicht kontinuierlicher Beschäftigung mit theologischer Literatur (Rezeption von Calovs Bibelkommentar und von Werken Johann Olearius’) erwarb Bach auch Kompetenzen zur Beurteilung theologisch-praktischer An­wendungen, wie sie sich in Predigten und Kirchenmusiktexten widerspiegeln. Jedenfalls zeigte er sich bei dem Examen, dem er sich wegen seiner Bewerbung um das Leipziger Thomaskantorat zu unterziehen hatte, als rechtgläubiger Lutheraner, was ihn ebenfalls für das Amt qualifizierte. Zu hinterfragen wäre allerdings, inwieweit die zeitüblichen, quasi topischen auf Gott bezogenen Formulierungen in erhaltenen Dokumenten tatsächlich auf eine besondere Frömmigkeit oder theologische Einsicht hinweisen können.
Bachs regelmäßige Produktion von Kirchenmusik begann während seiner Weimarer Jahre, in der Zeit als Kapellmeister in Köthen war er nicht dazu verpflichtet, zumal man wegen des reformierten Bekenntnisses keine Kirchenmusik benötigte. So ist das Hauptkorpus an gottesdienstlicher Musik ab 1723 in Leipzig entstanden, wozu neben den ungefähr 300, in gängiger Terminologie als Kantaten bezeichneten Kirchenmusiken auch die beiden erhaltenen Passionen gehören. Bach bediente sich für seine Kirchenmusik einiger der im ersten Jahrzehnt des 18. Jh.s entwickelten Formen, die auf Vorlagen beruhen, in denen Bibeltexte, Choräle und freie Dichtung die Perikope affektiv und auslegend kombiniert werden. Den Durchbruch dieser Art Textgestaltung hatte Erdmann Neumeister geschaffen, allerdings nicht wie auch bei L. zu lesen, mit seinen »Geistlichen Cantaten« (gedruckt zuerst 1702), in denen es keine Bibelsprüche und Choräle gibt, sondern mit einem einige Jahre später für Georg Philipp Telemann gedichteten Jahrgang.
Die Passionen Bachs stehen in der Tradition der Figuralpassion, wie sie im 18. Jh. in den Gottesdiensten »musiziert« wurde und die jeweils auf einem der Evangelien beruht. In die biblische Erzählung werden Arien und Choräle eingelegt, wodurch es drei Ebenen gibt, die auch durch die Musik kenntlich gemacht sind.
Das Libretto der Johannespassion wurde von einem unbekannten Kompilator aus verschiedenen Quellen zusammengestellt. Bei einer handelt es sich um das berühmte Passionsoratorium von Barthold Heinrich Brockes, das 1712 erstmals vertont wurde und in einem Privatkonzert erklang, aus dem allein sieben Arientexte stammen, die teilweise leicht bearbeitet wurden. Zwei Dichtungen sind einem Oratorium des älteren Hamburgers Christian Heinrich Postel entnommen, eine einem Schuldrama von Christian Weise, drei sind unbekannter Herkunft. Insgesamt bewegt sich das Libretto in der lutherischen, die Besonderheit des Johannesevangeliums als der Verherrlichung der Fleischwerdung Christi und der Erfüllung des göttlichen Willens in Jesus berücksichtigenden Auslegungstradition (93).
Der Hauptteil des Buches umfasst den Kommentar, der die Übersetzung des Librettos ins Englische und die akribisch durchgeführte, detailreiche Analyse der darauf beruhenden Komposition beinhaltet. Eingeteilt wird das Libretto der vor und nach der Predigt und damit zweiteilig aufgeführten Passion in die fünf, von Johann Gerhard eingeführten Akte des Passionsgeschehens. Der Text des Librettos erscheint zweimal – zuerst zusammenhängend, beim zweiten Mal satzweise und kommentiert. Dabei wird der Text synoptisch mit dem Originaltext (in moderner Orthographie) in der linken Spalte und der Übersetzung in der rechten dargestellt. Beim Evangelientext werden die Bibelstellen mitgeteilt, älteres Vokabular, auch der madrigalischen Einschübe und der Choräle, in Fußnoten erklärt. Für jeden Satz wird die Besetzung angegeben. Nummerierung und Taktzählungen der einzelnen Sätze beziehen sich auf die Edition des Werks innerhalb der Neuen Bach-Ausgabe.
In den Analysen wird die musikalische Umsetzung der Textworte aufgezeigt und mit Auslegungen, vor allem aus dem 17. Jh., in Zusammenhang gebracht. Außerdem werden neuzeitliche Interpretationen und Urteile zu einzelnen Stellen referiert und diskutiert.
Der übersichtlich und klar gegliederten, materialreichen Un­tersuchung sind verschiedene Übersichten, die eine schnelle Information etwa über die Textbestandteile der Passion erlauben, beigegeben. Bei deutschsprachigen Zitaten wird neben der Übersetzung der Originaltext mitgeteilt. Wie überhaupt in den Fußnoten die Literaturstellen nicht nur genannt, sondern auch die jeweiligen Formulierungen mitgegeben werden, wodurch eine gute Orientierung über die Referenzen möglich ist. Abbildungen von Titelblättern und Ausschnitte aus den Notenhandschriften ergänzen die Darstellung.
Insgesamt handelt es sich um eine verdienstvolle Zusammenfassung des heutigen Wissensstandes über Bachs Johannespassion, bei der, sollte es zu einer zweiten Auflage oder einer Übersetzung kommen, nur kleinere Retuschen und Ergänzungen nötig wären.