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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1254-1257

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mulsow, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Between Philology and Radical En­lightenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768).

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2011. VIII, 234 S. = Brill’s Studies in Intellectual History, 203. Geb. EUR 104,00. ISBN 978-90-04-20946-6.

Rezensent:

Malte van Spankeren

Hermann Samuel Reimarus führte ein spektakuläres Doppelleben (1694–1768). Auf der einen Seite war er als Theologieprofessor ein hochangesehenes und gesellschaftlich arriviertes Mitglied der Freien und Hansestadt Hamburg, auf der anderen Seite verfasste er die vermutlich radikalste Bibelkritik, die aus den Händen eines deutschen Theologen des 18. Jh.s stammt. Daher ist es sehr begrüßenswert, dass die Reimarusforschung durch diesen von Martin Mulsow herausgegebenen Sammelband, in dem so hochrangige Aufklärungsforscher wie Jonathan Israel, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Mulsow selbst mit Beiträgen vertreten sind, weiter vorangetrieben wird. Es wäre allerdings hilfreich gewesen, ein Sach-register beizufügen, damit bezüglich relevanter Stichworte ein vergleichendes Nachschlagen möglich gewesen wäre. Dann hätte zum Beispiel der zentrale Begriff »radical enlightenment« in sei-ner Bedeutung für Reimarus präziser erschlossen werden können, denn dieser Begriff wird von den Autoren durchaus unterschiedlich ge­braucht.
Im Ganzen richtet sich der Band an ein Fachpublikum, denn die hier versammelten Beiträge setzen zum Teil ein Vorwissen zu Reimarus voraus, das nicht von jedem Leser mitgebracht wird. Infolgedessen eignet sich der Band zwar nicht als Einführung in die facettenreiche Gestalt des Hamburger Theologieprofessors – diesbezüglich sei alternativ auf die prägnante Zusammenfassung in Mulsows nicht nur in dieser Hinsicht überaus lesenswerte Studie »Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit« (dort 284–287) verwiesen –, als Spezialstudie erweitert die hier zu besprechende Publikation allerdings den Wissensstand zu Reimarus beträchtlich. Dafür bürgt die gewählte inhaltliche Spannbreite der Beiträge, die über Reimarus’ Studienreise in die Niederlande ebenso handeln wie über die philosophischen Hintergründe seiner Bibelkritik und abschließend Rechnungsbücher in den Blick nehmen.
Eröffnet wird der Sammelband mit einem vorzüglichen Beitrag von Martin Mulsow: »From Antiquarianism to bible criticism? Young Reimarus visits the Netherlands. With an edition of the trav­el diary fragment of 1720/21 (1–39). M. verweist auf das im Kontext dieser Bildungsreise stimulierte Interesse Reimarus’ bezüglich der Realien und gelangt zu der – gut begründeten – Schlussfolgerung: »His case offers a connection between material culture and biblical philology, to which Antiquarianism is the key.« (7) Wichtig sind auch M.s Hinweise auf die intellektuelle Entwicklung von Reimarus, der zunehmend eine kritischere Perspektive in Bezug auf die Bibel und zumal hinsichtlich der darin berichteten Wunder ausgebildet hat: »Reimarus does not directly deny the possibility of miracles and revelation; rather, he suggests an empirical-hermeneutical investigation, which leans on the recognition of revela-tion. It is a textual verification of an epistemological condition.« (16) Die im Anhang beigefügte Edition seines Tagebuchs dieser Bildungsreise (21–39) bietet einen ausdrucksstarken Einblick in Reimarus’ Erinnerungen, die er mitunter sprachlich sehr eindrücklich festgehalten hat (vgl. z. B. 22).
Die folgenden zwei Beiträge widmen sich der denkerischen Entwicklung Reimarus’, diesmal vor allem bezogen auf die Mitte der 1730er Jahre, während derer er sich von einem orthodoxen Lutheraner zu einem der schärfsten Bibelkritiker des 18. Jh.s entwickelte. Dafür untersucht zunächst Wilhelm Schmidt-Biggemann, inwiefern sich bei der intensiven Beschäftigung mit dem Buch Hiob Reimarus’ exegetische Überzeugungen konkretisiert haben: »Edifying versus rational hermeneutics: Hermann Samuel Reimarus’ revi-sion of Johann Adolf Hoffmann’s ›Neue Erklärung des Buchs Hiob‹« (41–74). Dabei veranschaulicht er, wie Reimarus natürliche und biblische Theologie miteinander in Einklang zu bringen versuchte (65) und wie seine Beschäftigung mit dem Hiobbuch seine Arbeit an seinem Hauptwerk, der »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, zunehmend beeinflusste (66 f.). Im Ganzen zeichnet S.-B. die kritisch-rationale Entwicklung des Denkens Reimarus’ exemplarisch und anschaulich nach.
»The public discourse of Hermann Samuel Reimarus and Jo­hann Lorenz Schmidt in the Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen in 1736« steht im Fokus des Beitrags von Ursula Goldenbaum (75–101). Auch darin steht eine Analyse der gedanklichen Entwicklung von Reimarus im Vordergrund. Denn die im Kontext der Publikation der Wertheimer Bibel geführte Debatte, an der sich Reimarus intensiv beteiligte, trug ihren Teil dazu bei, dass sich Reimarus’ Denken zunehmend kritischer entwickelte, so dass G. zu der Schlussfolgerung gelangt: »Only when Reimarus started to believe in the sincere intentions of the ›Wertheimer‹ to save the Christian religion within the development of this public debate did he open his mind and become committed to the project initiated by Schmidt. By taking up and working on this project he eventually transcended it in order to found Deism.« (101) Für diese Einschätzung fehlen m. E. allerdings überzeugende Argumente.
Ulrich Groetsch stellt seinen Beitrag unter die Titelwendung: »Reimarus, the cardinal, and the remaking of Cassius Dio’s roman history« (103–157). G. zeigt zunächst auf, inwiefern der Tod seines Mentors und Schwiegervaters Johann Albert Fabricius 1736 Reimarus beeinflusst hat (104 f.), zumal Reimarus infolgedessen die von Fabricius begonnene Edition der Schriften von Cassius Dio fortsetzte, deren Publikation laut G. zum »landmark in Reimarus’ career« (126) avancierte: »It represents his first major publication on a grand international scale. It not only placed him on the map of international scholarship, but provided admittance into the pantheon of German classical scholarship« (ebd.). Unter karrierestrategischem Gesichtspunkt erkennt G. dieser Veröffentlichung entscheidende Bedeutung für Reimarus zu: »With the completion of his Dio, Reimarus had finally managed to establish himself as a major figure in his own right, and at the age of fifty-eight, it was just about time.« (127) Im Übrigen erhält man in diesem Beitrag, der um einen Anhang von Briefen Reimarus’ an den Kardinal Angelo Maria Querini ergänzt ist (133–157), auch Einblicke in gesundheitliche Befindlichkeiten von Reimarus (110, Anm. 31), der offenbar zeitweise unter starker Migräne litt.
»Reimarus, the Hamburg jews, and the messiah« werden von Dietrich Klein im Anschluss thematisiert (159–182). Dafür skizziert K. Reimarus’ Jesusbild in seiner »Apologie«: »In Reimarus’ view, Jesus now seems to be possessed by the idea of a glorious Davidic king, who is going to rescue Israel from its oppressors in order to restore the old and eternal kingdom.« (159 f.) K. veranschaulicht, wie Reimarus’ Zurückweisung einer messianischen Lesart des Alten Testaments sich im Lauf der Zeit verstärkte, und geht dabei auch auf zeitgenössische Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinde in Hamburg näher ein, die Reimarus indirekt beeinflusst haben könnten. Die im Anschluss abgedruckten kurzen Texte von Reimarus, in denen er u. a. auf den Islam näher eingeht, bieten aufschlussreiche Einblicke (174–182).
Im Anschluss untersucht Jonathan Israel »the philosophical context of Hermann Samuel Reimarus’ radical bible criticism« (183–200). Dieser neben dem ersten Beitrag inhaltlich stärkste Aufsatz des Bandes untersucht zu Beginn das Philosophieverständnis des Reimarus und schränkt dabei den üblicherweise angenommenen englischen Einfluss eines Toland und Collins auf Reimarus stark ein (184). I. wirft in diesem Kontext die Frage auf: »Were it really true that the ›influences that shaped [Reimarus’] private thought came primarily from two sources, Christian Wolff and English Deism‹, this would certainly be a striking and rather curious combination; however there seems to be no factual basis for this par-ticular idée fixe in the literature about Reimarus.« (185) Stattdessen veranschlagt I. den niederländischen Einfluss (z. B. eines Le Clerc) deutlich höher (188). Dies ist angesichts des allgemeinen Forschungsansatzes von I. über den zentralen Einfluss Spinozas – siehe dazu exemplarisch seine Studie »Radical Enlightenment« – nur konsequent, müsste aber für Reimarus noch detaillierter belegt werden. – Auf einen wichtigen Unterschied zur Radikalaufklärung, der Reimarus von den Gedanken eines Spinoza trennt, verweist I. im Anschluss: »Philosophically and morally, the primary point for Reimarus was that while God can reveal no more than what is universal and material, philosophy cannot, on that ground, reduce everything to one substance.« (197) Dieser Grundgedanke, so I., ist mit verantwortlich für einen im Vergleich zu den Spinozisten stärker ausgeprägten sozialen und politischen Konservatismus Reimarus’. Vor diesem Hintergrund und unter Hinzunahme der Äußerungen Reimarus’ zur Frage nach der Veröffentlichung seiner theologisch radikalen Bibelkritik schränkt I. Reimarus’ Zuordnung zur Radikalaufklärung plausiblerweise sehr ein (199 f.).
Den Band beschließen Almut und Paul Spalding mit ihrem Beitrag: »Living in the enlightenment: the Reimarus household ac­counts of 1728–1780« (201–229), in dem sie einen ungewöhnlichen Quellenbestand in den Blick nehmen. Denn die Autoren haben für diesen Beitrag Rechnungsbücher der Familie Reimarus ausgewertet und verdeutlichen angesichts dieser Einträge u. a. Reimarus’ Vernetzung in seiner Heimatstadt. Auch wenn dadurch finanzielle Transaktionen zwischen Reimarus und aufklärerisch gesinnten Zeitgenossen aufgezeigt werden (vgl. z. B. 213.217), resultiert daraus m. E. aber noch kein Nachweis eines tiefergehenden gedanklichen Austausches Reimarus’ mit diesen. Allerdings wird anhand dieses Quellenfundus gezeigt, welchen »neuen« Erkenntniswegen sich Reimarus z. B. durch seine Arbeit als Gärtner zuwandte (222 f.) und wie sich Reimarus’ Interessen im Verlauf der 1740er Jahre stärker auf säkulare Themen verlagerten. Die These der Autoren »[t]he book purchases documented in the household books also substantiate Hermann Samuel Reimarus’ growing involvement in the Enlightenment« (218) müsste somit noch ausführlicher belegt werden. Trotz dieser Kritik freut sich der Kirchenhistoriker aber über die Berücksichtigung dieses bislang nicht ausgewerteten Quellenbestandes.
Ein Namenregister (231–234) beendet diese Spezialstudie zu Reimarus, die vor allem neue Hinweise liefert, wie sich die intellek-tuelle Entwicklung eines konservativen Theologieprofessors zu einem der kritischsten Exegeten des 18. Jh.s vollzog.