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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1249-1251

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hagan, Anette I.

Titel/Untertitel:

Eternal Blessedness for All? A Historical-Sys-tematic Examination of Schleiermacher’s Reinterpretation of Predestination.

Verlag:

Cambridge: James Clarke (Lutterworth) 2014. 282 S. Kart. £ 22,50. ISBN 978-0-22717430-2.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Die deutsche, aber in Schottland als Bibliothekarin arbeitende Autorin Anette I. Hagan legt mit ihrer überarbeiteten und erweiterten Dissertation (Edinburgh 2009) eine ebenso eingängig (englisch) geschriebene wie sachlich umsichtige Untersuchung der dogmatischen Lehre von der Vorherbestimmung der Menschen zu ihrem eschatischen Geschick durch Gottes Ratschluss vor, wie sie Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) in einer kritischen Auseinandersetzung insbesondere mit lutherischen und reformierten Traditionen entwickelt hat.
Dieses Thema ergibt sich zwangsläufig dann, wenn zum einen allein die Gnade Gottes in Jesus Christus der Grund des Glaubens und damit des (ewigen) Heils der Menschen ist – so die reformatorische Rechtfertigungslehre –, aber zum anderen das Faktum ernstgenommen wird, dass es Glaubende wie Ungläubige gibt, die entsprechend einen unterschiedlichen eschatischen Ausgang ihres Lebensweges zu erwarten haben (Rettung – Verwerfung; Heil – Unheil; Himmel – Hölle). Wird der rettende Glaube (nach CA V) durch Gottes erschließenden Geist und nicht etwa durch irgendeine menschliche Aktivität konstituiert, dann ist Unglaube konsequenterweise auch nichts, was in menschlicher Verantwortung und Freiheit liegen könnte. Ein solcher muss dann vielmehr ebenfalls auf das in diesem Fall dann negative Handeln Gottes selbst zurückgeführt werden (64). So hat sich schon Augustinus genötigt gesehen – und später Luther in der zugespitzten Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam um die Freiheit des menschlichen Willens vor Gott –, eine doppelte Prädestination der Menschheit teils zum Heil, teils zum Unheil anzunehmen.
Auch und gerade die reformierte Theologie hat eine solche doppelte Prädestination im Anschluss an Calvin zur Wahrung der Freiheit und Souveränität Gottes ebenso wie zur Betonung radikaler soteriologischer Ohnmacht der Menschen – auch zum seelsorgerlichen Trost von kleingläubig Gewordenen – dogmatisch festgeschrieben (Synode von Dordrecht). Lutheraner haben angesichts uneindeutiger Aussagen Luthers zu diesem Thema und zur Wahrung der unverfügbaren Liebe Gottes nicht diese Konsequenz eines decretum absolutum gezogen, vielmehr sind sie bei der Annahme einer offenen einfachen Erwählung der Menschen zum Heil geblieben. Allerdings konnten sie so das Faktum des Unglaubens und seine furchtbare eschatologische Folge trotz möglicher Differenzierungen etwa zwischen Vorherbestimmung und Vorsehung, Person und Werk, verborgenem und offenbarem Gott im nach wie vor ungeklärten Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit und Allwirksamkeit Gottes nicht hinreichend erfassen.
Neben und mit anderen theologischen Differenzen (Abendmahlsverständnis) haben auch diese Unterschiede in der Auffassung von der Prädestination Gottes eine konfessionelle Einheit von Lutheranern und Reformierten erschwert (98). Schleiermacher, der selbst ein reformiert geprägter Theologe und engagiert in der Beförderung einer kirchlichen Union (APU) gewesen ist, hat nun nicht zuletzt auch an dieser Stelle – freilich mit wenig Erfolg – versucht, ein gemeinsames Verständnis der reformatorischen Kirchen zu ermöglichen (136). Seine Überlegungen sind in die Richtung gegangen, die Prädestinationslehre in einen eschatischen Heilsuniversalismus (Allversöhnung) zu transformieren, in dem die Differenzen zwischen Glauben und Unglauben vor dem Hintergrund einer relationalen (statt atomistischen) Anthropologie und Ontologie, die den wechselseitigen Zusammenhang von allem und jedem betont (182), als temporär vorübergehend vorgestellt werden (2).
Zur Verdeutlichung dieser Position Schleiermachers in der Lehre von der Erwählung hat es sich die Vfn. zur Aufgabe gemacht, die (kirchen-)geschichtlichen Voraussetzungen (Teil 1), die gedanklichen Ausgangslagen (Teil 2) sowie den Kontext dieser Lehre innerhalb der Theologie Schleiermachers selbst (Teil 3) darzustellen. Dazu bezieht sich die Vfn. vor allem auf zwei repräsentative Texte Schleiermachers, nämlich zum einen auf seine erste dezidiert dogmatische Abhandlung »Über die Lehre von der Erwählung« von 1819, zum anderen auf die zweite Auflage seiner »Glaubenslehre« von 1830. Daneben werden aber auch einige aufschlussreiche Predigten Schleiermachers herangezogen. Hier zeigt sich zunehmend die Unvereinbarkeit der Lehre von einer doppelten Prädestination, die zu einem Heilspartikularismus führt, mit dem christlich-frommen Selbstbewusstsein, das für Schleiermacher das entscheidende Fundament und Kriterium seiner Glaubenslehre ist (5).
Im ersten, rein historischen Teil ihrer Studie holt die Vfn. weit aus (vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Altpreußischen Union 1817), um kenntnisreich über die kirchen- und theologiegeschicht-lichen Hintergründe von Schleiermachers Überlegungen zu informieren. Diese Ausführungen sind insgesamt interessant und lehrreich, bleiben aber im Wesentlichen beim Referat bloßer Meinungen, ohne auf systematisch relevante Argumentationen für ein an­gemessenes Verständnis von Prädestination, Vorsehung und Er­wählung einzugehen. Argumente und Begründungen werden dann aber in Teil 2 der Studie zusammengetragen, in dem Schleiermachers umfangreiches Quellenmaterial zur Entwicklung seiner eigenen theologischen Position erschlossen wird. Hier werden auch wichtige Differenzierungsmöglichkeiten z. B. zwischen ab-soluter und bedingter oder zwischen supra- und infralapsarischer Erwählung erörtert (75) und zu Gottes Gerechtigkeit, Liebe und Gnade in Beziehung gesetzt (77 ff.), die zwar allen gilt, aber nicht von allen angenommen wird (80). Variationen und Implikationen all der genannten Denkmöglichkeiten werden von der Vfn. sehr klar und übersichtlich in einer tabellarischen Zusammenfassung vor Augen geführt (118 f.).
Doch trotz der sehr genauen Kontextualisierung von Schleiermachers letztlich heilsuniversalistischer Überzeugung im 3. Teil ihrer Abhandlung lässt die Vfn. die eigentlich transzendentaltheologische (also weder dogmatische noch exegetische) Begründung dieser Position im Rückgang auf Schleiermachers Theorie vom frommen Selbstbewusstsein weitgehend außer Acht, auch wenn sie deutlich die Annahme einer praedestinatio generalis zum Heil im Unterschied zu einer praedestinatio specialis im Blick auf einzelne Individuen und ihr unterschiedliches Geschick herausarbeitet (185). Denn anders als nach Augustinus wird für Schleiermacher nicht die Seligkeit der Seligen durch die Wahrnehmung der Qual der Verdammten um der Gerechtigkeit willen noch gesteigert, sondern vielmehr würde sie durch ihr Mitgefühl getrübt, so dass hier das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von der Erlösung durch Jesus Christus, welches das christlich-fromme Selbstbewusst­sein ausmacht und alle Menschen gleichermaßen einschließt, selbst getrübt und infrage gestellt und damit die Grundlage des christlichen Glaubens erschüttert werden würde.
In diesem Zusammenhang könnte dann auch noch genauer, als es die Vfn. getan hat, zwischen Heilsuniversalismus und Allver-söhnungstheorie angesichts des nachrangigen Stellenwertes, den Schleiermacher eschatologischen Aussagen in Bezug auf das fromme Selbstbewusstsein insgesamt zumisst, differenziert werden. Nichtsdestoweniger hat die Vfn. durchaus Recht, wenn sie die bis heute andauernde Debatte um den (un-)freien Willen als den entscheidenden Angelpunkt herausstellt, um den sich hier alles dreht (243). Doch stärker noch, als es die Vfn. in ihrem Fazit (254) betont, kann man sagen, dass Schleiermachers Lehre von einer heilsuniversalen Erwählung aufgrund ihrer logischen Stringenz und systematischen Schlüssigkeit nicht nur mindestens von gleicher Vali-dität wie alternative heilspartikulare Annahmen ist. Mehr noch: sie ist eine ihren Alternativen überlegene, verbindliche eschatolo-gische Denkmöglichkeit, wenn wir transzendental-besonnen auf dem Boden des frommen Selbstbewusstseins theologisieren und uns nicht einen Gottesstandpunkt anmaßen wollen.