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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1243-1244

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Miller, Charles

Titel/Untertitel:

Richard Hooker and the Vision of God. Exploring the Origins of ›Anglicanism‹.

Verlag:

Cambridge: James Clarke (Lutterworth Press) 2013. 349 S. Kart. £ 25,00. ISBN 978-0-22717400-5.

Rezensent:

Martin Ohst

In dem bunten Strauß von neuartigen Kirchentümern, welche in den Reformationsbewegungen des 16. Jh.s ihren Anfang nahmen, gehört die Anglikanische Kirche zu den seltsamsten Gewächsen. Die heutigentags an den Vexierfragen der Bischöfinnen und der Ordination Homosexueller geführten inneren Auseinandersetzungen über ihr Profil und ihre Eigenart begannen sofort, als Heinrich VIII. die Kirche seines Reiches aus der Obödienz unter den römischen Stuhl löste und sich selbst samt seinen Nachfolgern zu ihrem irdischen Oberhaupt aufschwang. Was so in den beiden folgenden Menschenaltern entstand, war eine Kirche mit reformatorischem Lehrbekenntnis, altertümlichen liturgischen Formen und einer bischöflichen Verfassung, welche jedoch lediglich als Vollzugsorgan für ein straffes Kirchenregiment von Krone und Parlament dienen sollte.
Die klassischen Puritaner unter Elisabeth I. und Jakob VI./I. hielten zwar mit dieser bestehenden Kirche und ihren Führern daran fest, dass die eine Kirche die gesamte Gesellschaft in sich befassen müsse. Sie wollten jedoch diese kirchliche Form der Gesellschaft nach den in Genf erdachten presbyterial-synodalen Leit-linien umgestalten und erhoben für dieses Unternehmen den An­spruch, es verhelfe unabänderlich verbindlichem göttlichen Recht zur Durchsetzung. Es war vor allem diese Front, an der sich das gerade im »Elizabethan Settlement« stabilisierte kirchlich-politische Konstrukt zu bewähren hatte, und es war Richard Hooker (1554–1600), der hier den wichtigsten Beitrag leistete: Der Titel seines Hauptwerks »The Laws of Ecclesiastical Polity« verspricht, frei übersetzt nach Gottlieb Jakob Planck, Aufschluss über die Grundlagen christlich-kirchlicher Gesellschaftsverfassung. Aber das Werk bietet sehr viel mehr: eine ontologisch-metaphysisch fundierte Gesamtsicht von Gott, Welt, Mensch und Geschichte, in welche die göttliche Heilsoffenbarung in Jesus Christus mitsamt den Gestalten und Medien ihres geschichtlichen Fortwirkens und der Weise ihrer heilsamen Aneignung eingezeichnet wird. Dieser Gesamtentwurf eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses in gesellschaftsorientierender Absicht dient einem einzigen Beweisziel: Die anglikanische Kirche der späten Tudor-Ära ist in des Wortes qualitativem Sinne Kirche, und zwar gerade so, wie sie nun einmal geworden ist. Hookers Werk ist mindestens so vielschichtig und vieldeutig wie die soziale Größe, um derentwillen es entstanden ist. Die Deutungskontroversen begannen schon im Zuge seiner Publikation (leider nur angedeutet 25 f.), und sie dauern an.
Charles Millers Buch ist die ausgereifte Frucht einführender Vorlesungsreihen, die M. über viele Jahre hin in England und in den USA gehalten hat. Es bietet eine ganz vorzügliche Einführung; besonders wertvoll sind die klug gewählten Textauszüge im An­hang (299–334). Dennoch ist es ergänzungsbedürftig, und zwar genau deshalb, weil es ein Gesamtbild von geradezu bestechender innerer Konsistenz und Klarheit vermittelt. Freimütig räumt M. ein, dass seine Darstellung im Ganzen wie im Einzelnen der unge druckten Dissertation des französischen römisch-katholischen Theologen Olivier Loyer (27 f.) entscheidende Impulse verdankt, und so ist das Hooker-Bild, das er dem Leser vor Augen führt, ein durch und durch (anglo-)katholisches. M.s Hooker berührt sich mit den kontinentaleuropäischen Reformatoren vorwiegend polemisch; wo seine Gedankenbildung mit der Calvins konvergiert, ist die gemeinsame Orientierung am augustinischen Erbe leitend. Er lebt und webt also gänzlich ungebrochen in der rechtgläubigen Theologie der Kirche des Altertums und des Mittelalters.
Augustins christlicher Neuplatonismus in seiner thomistischen Synthese mit der Philosophie des Aristoteles bietet ihm allenthalben die Grundlage seiner Arbeit. Das gilt für seine Ontologie und für seine Metaphysik wie für seine Theorien von Gesellschaft und Herrschaft, aber auch für sein Grundverständnis der christlichen Religion: Bestimmend sind hier miteinander die (um der Kürze willen sei der Ausdruck gestattet) semipelagianischen und synergistischen (konzentriert 198 f.) Optionen in den Fragen nach der Willensfreiheit und in der Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil. M. attestiert Hooker, dass er hier exakt in den Spuren von Augustins Traktat De fide et bonis operibus wandelt, der seinerseits in der Gnadenlehre des Aquinaten fortwirke: In seiner Selbsterschließung in Jesus Christus eröffnet Gott dem Menschen rein aus Gnade die Möglichkeit, sich das ewige Leben zu verdienen; die Erlösung setzt die Bedingungsordnung von Verdienst und Lohn mitnichten außer Kraft, sondern bietet die entscheidenden Hilfen zu ihrer Erfüllung (167.198). Dieser Variante des christlichen Verständnisses von Heil und Erlösung mit seinem »synergic view of nature and grace« (228) entspricht passgenau ein Verständnis der Kirche als der Lehrmeisterin, welche dem Menschen, der durch sein ihm wesenseigenes Streben nach Glückseligkeit immer schon für diese empfänglich ist, die göttliche Heilswahrheit so verkündet, dass ihre Autorität den Glauben zu erwirken vermag. Dieser Autoritätsglaube an die Inhalte der kirchlichen Lehrverkündigung ist seinerseits die Disposition für die heiligmachende Gnade. Und nun kommt die Kirche als Heilsanstalt ins Spiel: Sie ist das Geflecht der sakramentalen Kanäle, durch welche in den disponierten Menschen die Gnade einfließt. Die Gnade wiederum formt den Glauben derart, dass er in der Liebe verdienstliche gute Werke (auch opera supererogatoria: 201 f.) tut. Selbstverständlich hilft auch hierbei immer wieder die Gnade, die im Gebet erfleht und erworben wird (212). Über diesem Kampffeld, auf dem der Christ sich mit Gottes Gnadenhilfe sein Heil erkämpft und erarbeitet, leuchten ihm die Möglichkeiten der Mystik. In diesem Hooker-Bild sind die reformatorischen bzw. protestantischen Züge minimal – Peinlichkeiten wie die Reduktion der Sakramente von sieben auf zwei mildert M. nach Möglichkeit (133–138). Aber die eigentlich problematische Stelle in diesem ganzen Entwurf liegt natürlich anderswo, nämlich in der Frage, welches die »Kirche« ist, die im Zentrum dieses ganzen Welt­entwurfs steht. Für Thomas, den großen Meister, war es als Mendikanten natürlich die Papstkirche. An diesem neuralgischen Punkt musste Hooker Farbe bekennen, und mit ihm muss es sein Interpret. An die Stelle des Papsttums und der von ihm aus sich in die Breite und Tiefe entfaltenden Universalkirche setzt Hooker eine Glie-derung der empirischen Kirche nach Reichen (kingdoms) bzw. Ge­meinwesen (commonwealths): Die Eine Kirche subsistiert in solchen politisch-nationalen Gliederungen; oberhalb ihrer hat sie keine sichtbar-organisatorische Gestalt. In einem kingdom/commonwealth wiederum kann es nur eine Kirche geben, die ihrerseits dessen geis­tig-geistliche Einheit ist. Gerade die Sakramente vermag Hooker als zentrale Faktoren einer nationalreligiösen Gesamtintegration zu würdigen (154). Hooker beraubt also das Kirchenbild des Aquinaten seiner Spitze und gibt der Kirche stattdessen ihren geschichtlichen Rückhalt in der Nation, welcher sie im symbiotischen Verhältnis die ihr lebensnotwendigen geistig-geistlichen Kräfte mitteilt. Wohin aber soll sich eine solche Kirche wenden, wenn Nation und Staat sich im unaufhaltsam fortschreitenden Prozess des »disestablishment« aus der Symbiose mit ihr herausziehen?
John Henry Newman hat diese Problemkonstellation frühzeitig erkannt und ist zur Papstkirche übergetreten – für einen Anglikanismus, der sich von M.s ganz und gar anglokatholisch gedeutetem Hooker die Leitlinien seines Selbstverständnisses vorgeben lässt, ist das wohl die nächstliegende Option.