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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1240-1242

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kirby, Torrance, and Paul G. Stanwood [Eds.]

Titel/Untertitel:

Paul’s Cross and the Culture of Persuasion in England, 1520–1640.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. XIX, 499 S. = Studies in the History of Christian Traditions, 171. Geb. EUR 154,00. ISBN 978-90-04-24227-2.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

In dieser Dokumentation eines internationalen Symposiums an der McGill University, Montreal, über das Thema des Buchtitels werden drei Themen behandelt: Öffentlichkeit, obrigkeitliche Reformation und reformatorische Predigt. Die Mitteilung, dass alle 24 Beiträge in der Zeit vom 16.–18.8.2012 vorgetragen und diskutiert worden seien, macht mich stutzig. Im Lesen sind die Fallstudien, mit ihren verschiedenen Akzenten, gut zu verfolgen und bündeln sich zu einer faszinierenden Geschichte.
Im Jahr 1448 wurde der auf dem Kirchhof der alten St. Paul’s Kathedrale östlich zwischen Chorschiff und Nordseite des Querschiffs gelegene und als Paul’s Cross be­kannte Kanzelbau mit Kreuz auf dem Dach neu errichtet. Auf einem Tafelbild von 1616 ist eine Predigtszene auf dem Kirchhof von St. Paul’s zu sehen (reproduziert neben der Titelseite). Im Norden schlossen sich an den Kirchhof die Gebäude der Drucker und Buchhändler an und gaben eine weitere Begrenzung. Die Akustik wurde in einem virtuellen Versuch überprüft; sie reichte aus, dass 2500 bis 5000 (oder 6000?) Menschen sich um Paul’s Cross auf dem Kirchhof versammeln und die Predigt hören konnten ( John N. Wall, 61–92; zu Internet visuell und akus­tisch siehe 89, Anm. 43: ein großartiges Erlebnis!). Die zweistündigen Predigten begannen sonntags um 10 Uhr, und es wird angenommen, dass der Prediger während der Glockenschläge der Uhr eine Pause machte.
Die Prediger waren ausgesucht, meist vom Londoner Bischof oder vom Dean von St. Paul’s. Die Krone besaß keine Kontrolle über die Predigerauswahl. Die Prediger erhielten ein Honorar. Oft wurde eine Instruktion übermittelt, was das Anliegen der Predigt sein sollte, also eine sogenannte politische Predigt (vgl. die erweiterte Definition, 48–52, mit 115–117). Aber »politisch«: Das war nicht nur die Suprematie der Krone über die Kirche, die Absage an die Papstkirche und das Verbot von papistischen Frömmigkeitsformen, sondern überhaupt das Wohlergehen des Königreiches. Etwas simplifiziert wird es von Historikern und Anglisten formuliert als die Grundüberzeugung von der göttlichen Providenz (vgl. 51), um das Christenvolk zu Sündenbekenntnis und Reue aufzurufen; eine Sorte solcher »Buß«-Predigten werden Jeremiads genannt, weil sie von prophetischen Texten wie Jeremia (oder Hosea) ausgehen (Mary Morrissey, The Paul’s Cross Jeremiad and Other Sermons of Exhortation, 421–438). Vorgaben, die als Ratschläge der etablierten Bischofskirche anzusehen und wovon einige erhalten sind, waren der eine Teil der Aufgabe, die dem Prediger gestellt war. Über den Bibeltext entschied der Prediger selbst, in dessen Auslegung er die Vorgabe einbaute. Ich nenne aus den Beiträgen des Buches vier Beispiele.
John Jewel predigte am 26. November 1559 den »Challenge Sermon«; er legte dar, wie die englische Bischofskirche unter der Suprematie von Königin Elizabeth I. zur wahren »Katholizität« der Urkirche gehört. Als Bibeltext wählte er Joh 4,1: »Prüfet die Geister …«, nahm den radikaleren Rückkehrern aus dem Schweizer Exil diesen Text, der für den einzelnen Prediger und überhaupt für jeden Gläubigen die Urteilsautorität über bibelgemäßes Christentum beweisen sollte, weg und wendete ihn gegen die Papstkirche ( Angela Ranson, The Challenge of Catholicity: John Jewel at Paul’s Cross, 203–221). Am 15. Mai 1547 predigte Dr. Richard Smith den Widerruf seiner bisher vertretenen päpstlichen Überzeugungen über Frömmigkeit und wählte als Predigttext Ps 116,11: »Alle Menschen sind Lügner.« Das löste natürlich Debatten über seine Wahrhaftigkeit aus (vgl. John King, Paul’s Cross and the Implementation of Pro-testant Reforms, 143–149). Am Beginn der evangelischen Reform unter Edward VI. hat Hugh Latimer am Mittwoch, dem 18. Januar 1548, gepredigt: The Sermon on the Ploughers (Lk 8,4–8 in Verbindung mit Lk 9,62) und die Aufgabe der Geistlichkeit im Gegensatz zum Bischof von Rom erläutert (Jason Zuidema, ›Lords‹ and ›Laborours‹: Hugh Latimer’s Homiletic Hermeneutics, 175–186). Am 10. November 1605, am Sonntag nach der Aufdeckung der Pulververschwörung, predigt William Barlow zum Predigttext Ps 18,50 (»Great Deliuerances giueth he vnto his King …«) und bezieht die ganze Bevölkerung mit ein (Anne James, Preaching the Good News: William Barlow Narrates the Fall of Essex and the Gunpowder Plot, 345–360).
Predigtanalysen finden sich in vielen der Beiträge. Auf Jewel, Latimer und Barlow war schon hingewiesen worden; erwähnt seien vor allem John Donne (J. Wall zu Virtual Paul’s Cross und Kathleen O’Leary, Sermon, Salvation, Space: John Donne’s Performative Mode and the Politics of Accomodation, 411–420) und die Analyse von Jeanne Shami, The Love-sick Spouse: John Stoughton’s 1624 Paul’s Cross Sermon in Context (389–409). Bei John Donne wird herausgearbeitet, dass im evangelischen Christsein das Wort gegen Bilder steht, weil Gottes Wort durchs Ohr und nicht durch die Augen ins Herz dringt (415 f.). Darüber hinaus wird allgemeiner gesagt, dass in der zweiten Generation der Reformation unter Elizabeth I. Konformität mit der etablierten Kirche nicht ohne Überredung des Gewissens des Einzelnen möglich sein darf (217). Teilweise ist der Übergang von sacramental culture zu culture of persuasion, wie es die Herausgeber in ihrer Einleitung formulieren (3), auf die humanistische Christusfrömmigkeit eines Erasmus von Rotterdam zurückzuführen, wie Torrance Kirby, Public Conversion: Richard Smyth’s ›Retraction‹ at Paul’s Cross in 1547 (161–173) ausführt. Ebenso wirksam sei des Erasmus Ecclesiastes-Kommentar von 1535 gewesen, der dem Predigen die Rhetorik injizierte (vgl. Susan Wabuda, Lost at Paul’s Cross: Unrecorded Sermons, 439–451, dort 440 und 446).
Die Herausgeber beschreiben ihr Neuland so: Der Beitrag der Hauptfiguren der protestantischen Reformation sei »their relation to audiences, and their reliance upon devices of rhetoric and argument to shape religious identity. The dynamic of stage and audience at Paul’s Cross promoted an emerging sense of religious identity shaped by the instruments of exegesis, argumentation, and ex­hortation. It is through such a dynamic that the sense of an emerg-ing ›public‹ open to persuasion begins to take hold and to redefine religious identity« (3). Leider versucht nur ein Beitrag neben den Historikern und Anglisten die theologischen Dimensionen der Predigten anzusprechen ( W. Bradford Littlejohn, Bancroft versus Penry: Conscience and Authority in Elizabethan Polemics, 327–342).
Mit Paul’s Cross ist Öffentlichkeit gegeben. Der Ort ist mitten in London; nachweislich kam die Hörerschaft aus allen Gesellschaftsschichten. Paul’s Cross war der Ort verschiedener politischer und kirchenpolitischer Proklamationen. Luthers Bücher wurden dort von Bischof John Fisher 1521 verbrannt, Bilder symbolisch vernichtet (1547). Eine Anzahl von Predigten war kurz nach dem Sprachereignis in den Buchläden um den Kirchhof gedruckt zu kaufen. Mit der Metapher »Echo« kann die Öffentlichkeit beschrieben werden ( Thomas Dabbs, Paul’s Cross and the Dramatic Echoes of Early-Elizabethan Print, 223–244). Die meisten Beiträge stellen die Frage nach Wortlaut und Druck der Predigten; ebenso wird der Nachhall der Predigten untersucht.
Alles ist aus den Quellen erarbeitet. Die Bibliographie verzeichnet die benutzten Handschriften (453–455); die Auswahl der Originaldrucke umfasst 177 Einträge (455–466). Das Register ist zwar differenziert, aber ich finde nicht alles, was mich interessiert, z. B. gehen die biblischen Bücher im Alphabet unter und eine Rubrik »Predigttexte« wäre nützlich gewesen.
Das Titelthema deckt eine neue geschichtliche Perspektive auf. Vorgänger sind die Sammlung der Paul’s Cross Predigten 1534–1642 von Millar MacLure (1958; ein revidiertes Register 1989), und zwei von Patrick Collison betreute Arbeiten: Susan Warbuda, Preaching during the English Reformation (2002), und Mary Morrissey, Politics and the Paul’s Cross Sermons, 1558–1642 (2011). Auf dem Kontinent und vor allem in Deutschland bewegte sich die Reformation durch die Flugschriften seit 1518, in England dagegen in der Predigtgeschichte, wo die theologischen Reformationshistoriker noch viel lernen können.