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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1237-1239

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hall, H. Ashley

Titel/Untertitel:

Philip Melanchthon and the Cappadocians. A Reception of Greek Patristic Sources in the Sixteenth Century.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 272 S. m. 1 Abb. = Refo500 Academic Studies, 16. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-55067-0.

Rezensent:

Markus Wriedt

Nicht zuletzt aufgrund der magistralen Sammelbände von Irena Backus (dies.: The Reception of the Church Fathers in the West. From the Carolingians to the Maurists. Leiden u. a. 1997, 2 vols.) und ihrer nimmermüden Publikationstätigkeit zu Themen der humanistischen und frühneuzeitlichen Wiederentdeckung der Spätantike ist die Rezeptionsgeschichtsforschung über die Aufnahme und Weitergabe altkirchlicher Autoritäten in Spätmittelalter und Re­formationszeit ein wenig vom äußeren Rande wieder ins Blickfeld auch der theologischen Kirchengeschichte geraten. Zu einer in­haltlichen Würdigung der Rezeptionsvorgänge kommt es freilich nur dann, wenn die forschenden Autoren sich gleichermaßen kompetent im Bereich der Patristik wie der jeweiligen Rezeptionsepoche auskennen, was angesichts der ausdifferenzierten Forschung zunehmend schwierig wird. Soweit digitale Vätersammlungen, wie etwa das Augustinus-Lexikon oder Texteditionen vorzugsweise aus den klassischen Editionsreihen CSEL, CChr, MPL und MPG vorliegen, kann der Textbefund leichter erfasst werden. Freilich ist dieses Vorgehen mit mannigfaltigen Problemen behaftet. Neben einer immer noch sehr in den Anfängen befindlichen Aufarbeitung der den Rezipienten des 15. und 16. Jh.s tatsächlich zur Verfügung gestanden habenden Textkorpora sind es auch weitergehende Fragen im Blick auf die Fragen zur Intentionalität der Rezeptionsvorgänge. Hinzu kommt die Frage nach einer trennscharfen Charakteristik von Übernahme, Anklang, Paraphrase und Parallele sowie der damit verbundenen Würdigung eines Einflusses der altkirchlichen Aussagen auf das spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Œuvre. Damit in Verbindung treten Probleme der Konstruktion von Bedeutung und Randerscheinungen. Eine besondere Note erhalten diese Forschungen, wenn aus ihnen normative Feststellungen im Blick auf die konfessionelle Lehrentwicklung abgeleitet werden.
Aus der Zahl der in den letzten Jahren veröffentlichten Werke ragt methodisch reflektiert und gründlich erschlossen die Untersuchung von Harold Ashley Hall zur Aufnahme des Erbes der griechischen Kirchenväter, näherhin der drei sogenannten »großen« Kappadozier Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, heraus. Die in jahrelanger Arbeit in engstem Kontakt mit den Zentren der modernen Melanchthonforschung entstandene Dissertation wurde schlussendlich an der Fordham University (New York) unter Anleitung von Josef Lienhard und unter Beiziehung des gegenwärtig wohl wichtigsten US-amerikanischen Melanchthon-Forschers, Timothy Wengert, graduiert. Während das Thema der Kirchenväterrezeption beim Praeceptor Germaniae durch die grundlegende Studie von Pierre Fraenkel sowie auf sie gestützt in zahlreichen, weitere Details erschließenden Aufsätzen weitergeführt worden ist, wobei von Melanchthon her das Erbe der Patristik wahrgenommen wurde, hat sich H. entschlossen, einen nur kleinen Ausschnitt, nämlich die Aufnahme der drei kappadokischen Theologen, zu analysieren. Freilich bleibt er der traditionellen Blickrichtung zunächst treu: Auch er untersucht zunächst die Wiederentdeckung der patristischen Autorität und wendet sich so­-dann näherhin Melanchthon zu, den er zwischen »Reformation und Humanismus«, vertreten durch deren bekannteste Exponenten Luther und Erasmus, einordnet. Diese m. E. hochproblematische Differenzierung spielt freilich im weiteren Verlauf der Untersuchung keine Rolle, wenn nämlich die historische Methode der Aufnahme patristischer Autoritäten in das theologische Gesamtkonzept Melanchthons eingefügt wird. In diesem Unterabschnitt wird erkennbar, dass eine sorgfältige Distinktion zwischen Humanismus und Reformation gar nicht möglich und auch nicht nötig ist. Melanchthon erweist sich in der Verwendung seines humanis-tischen Werkzeugs als genuin im Verbund der Wittenberger Re­formationstheologen arbeitender Hochschullehrer.
In der modernen Historiographie wird eine Unterscheidung zwischen Humanismus und Reformation immer noch postuliert. Dabei konstruieren einige Forscher das unklar bestimmte Phänomen des Humanismus als vormoderne Form einer zur Säkulari-sation drängenden Geisteshaltung. Insofern sich dieser engen kirchlichen Bindungen verweigert, lassen sich Elemente zu einem überkonfessionellen ›Gegenstück‹, zumindest aber einer unbelas­teten, von jeglicher lehrmäßigen, schulischen oder parteilichen Kontamination freien, das reine Christentum repräsentierenden Alternative erkennen. Zu ihnen verhält sich die herausbildende konfessionelle Systemkonkurrenz antagonistisch. Allein (sic!) dem Humanismus eigne, so die immer wieder vertretene Meinung, die Potenz einer die dogmatischen Lehrgegensätze synthetisch überwindenden Aussagenkultur, die im weiteren Verlauf der Geschichte zu religiöser Pluralität und Toleranz geleitet habe. Der gesamte weitere Verlauf der Untersuchung von H. widerspricht dieser theoretischen Konstruktion und ist insofern hoch zu begrüßen.
Ausgehend von der Analyse spezifischer Wortgruppen und se­mantischer inhaltlicher Bezüge vermag H. das Erbe der griechischen Theologen bei Melanchthon nachzuweisen. In insgesamt drei großen Konfliktfeldern, dem Streit mit den radikal-reformerischen Kräften, dem Streit mit der römisch-kurialen Theologie und ihrer Verwendung in den innerlutherischen Auseinandersetzungen, arbeitet H. sorgfältig heraus, in welcher Weise das patristische Erbe von Melanchthon fruchtbar gemacht wurde. Neben einer sorgfältigen Relektüre der einschlägigen Quellen kristallisiert sich bei der intensiven Lektüre eine kleine, erste Typologie des Väterbeweises in der reformatorischen Theologie Philipp Melanchthons heraus. Auch wenn im Großen und Ganzen keine grundstürzenden neuen Thesen oder Revisionen alter Thesen geboten werden, bewegt sich die Arbeit auf methodisch gesichertem Grund und vermag en détail die vorherrschenden, älteren Thesen zu stützen. Neben der Identifikation der griechischen Zitate auf dem album amicorum, das Lukas Cranach d. J. einem Porträt von Melanchthon im Jahre 1559 hinzufügte, ist es vor allem
»Melanchthon’s desire to discern sciptores puriores and affirmation of the neces-sary unity of Academy and Church (which) were the two main principles that attracted him to the works of the Cappadocian Fathers. These highly educated individuals, each a master of the Greek rhetorical and philosophical tradition, turned their hands to promoting the union of classical learning and Christian Scripture. Their sermons are models of rhetorical form, their theological writ­ings are rich in literary allusions, and their biblical exegesis reveals a profound commitment to using the best that classical literary skills can offer in order to explore the divine mysteries.« (20)
Wichtig für die weitere Forschung ist der fast nebenbei gelieferte Hinweis, dass sich in Melanchthons Kirchenväterexegese gleichermaßen persönliches Anliegen und eine hochprofessionelle Wissenschaftsmethode miteinander verbinden. Im Kontext der frühmodernen Universitätsentwicklung und vor dem Hintergrund der zunehmenden Professionalisierungstendenzen innerhalb der Wissenschaften ist das ein Aspekt, den es weiter zu verfolgen lohnt.
Der Anhang der Untersuchung ist für Spezialisten und fachlich interessierte Leser ein Gewinn, weil zahlreiches, bisher unbekanntes oder schwer zugängliches Material nunmehr geordnet und leicht zugänglich präsentiert wird. Insgesamt eine flüssig lesbare, gute Detailstudie, die nach analogen Untersuchungen, vor allem aber einer zunächst für Melanchthon, sodann auch für ganze Re­formatorengruppen zutreffenden, synthetischen Überblicksdarstellung verlangt.