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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1230-1232

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Enno Edzard Popkes [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus, Paulus und die Texte von Qumran. Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Tätweiler.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. X, 519 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 390. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-153212-2.

Rezensent:

Roland Bergmeier

Unter dem genannten Titel hatte die Katholische Akademie Schwerte zu ihrer sechsten Qumran-Tagung (6.–8. November 2009) eingeladen, deren Vorträge nun im Druck vorliegen. Ohne Kennzeichnung im Einzelnen wurden auch zusätzliche Beiträge in die Publikation aufgenommen. Schon die Aufgaben der Tagungskonzeption hatten sich die Herausgeber des Sammelbands miteinander geteilt. Vorwort und Einführung zum Tagungs- bzw. Buchtitel besorgte Frey nach dem Untertitel: Forschungsgeschichtliche und hermeneutische Perspektiven (1–29). Seine vielseitigen Veröffentlichungen zur Thematik finden sich in den Fußnoten der Einführung wieder. »Friedrich Avemarie (1960–2012) zum Gedenken« ist der Band gewidmet, postum erscheint darin auch ein in vielerlei Hinsicht herausragender Aufsatz des Verstorbenen. Schon um dieses Beitrags willen lohnt es sich, nach dem Buch zu greifen.
Der Titelformulierung folgt auch die Gliederung des Bandes: Teil I. Jesus enthält Beiträge von L. Doering: Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte (33–61), von A. L. A. Hogeterp: Jesus’ Eschatology in the Light of the Texts from Qumran (63–80), von U. Schattner-Rieser: Das Aramäische zur Zeit Jesu, »ABBA!« und das Vaterunser. Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim (81–144), von H. Lichtenberger: Mt 18,10 und die Engel in Qumran (145–160). Teil II. Paulus enthält Arbeiten von Ch. Metzenthin: Jüdische Schriftgelehrsamkeit bei Paulus (163–183), von F. Avemarie: Gab es eine vorrabinische Gezera schawa? Schriftauslegung durch lexematische Assoziation in Qumran, bei Paulus und in der frühen rabbinischen Literatur (185–230), von E. E. Popkes: Essenisch-qumranische und paulinische Psalmen-Rezeptionen (231–250). Es folgen Beiträge zur frühjüdischen Schrifthermeneutik , von G. J. Brooke: Weak or Sinful? A Body of Rhetoric – on the Use of Physical Metaphors in Romans 3 and the Hodayot (251–262), von F. Zanella: Das Vokabular für ›Gerechtigkeit‹ in den Qumranschriften und bei Paulus (263–290), von J. H. Newman: Covenant Renewal and Transformational Scripts in the Performance of the Hodayot and 2 Corinthians (291–327). Als Teil III. Qumran-Studien folgen Beiträge von M. Becker: Zwischen Kult, Verein und Eschaton. Zur Diskussion um die Mähler in der yaḥad-Gemeinschaft (331–357), von J.-S. Rey: 4QInstruction and its Relevance for Understanding Early Christian Writings (359–381), von R. Achenbach: 11QMelki-Zedek und der Repräsentant Zions in Jesaja 61 (383–392), von J. H. Charlesworth: םיזִרִ גְּ רהַ־לעַ הכָרָבְּהַ – An Unknown Dead Sea Scroll and Speculations Focused on the Vorlage of Deuteronomy 27:4 (393–414). Den Abschnitt IV. Jesus, Paulus und Qumran repräsentiert H.-W. Kuhns Beitrag: Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde und Bemerkungen zum Projekt »Qumran und Paulus« (417–471). Nicole Rupschus in Zürich und Sophie Tätweiler haben dankenswert vorzügliche Register erstellt (475–519).
Beiträge zur Schriftauslegung durften auch in diesem Sammelband nicht fehlen, wenn das Thema als solches auch schon seit der Frühzeit der Qumran-Forschung die Diskussion bestimmte (6). Metzenthin fragt so nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der Art und Weise, wie alttestamentliche Schriften in den Qumrantexten und in den Paulusbriefen verwendet und interpretiert werden, Popkes speziell nach den beiderseitigen Psalmen-Rezeptionen. In beiden Fällen geht es auch um Abschätzung von Grundzügen ge­meinsamer frühjüdischer Schrifthermeneutik.
Avemaries Untersuchung kommt darum in diesem Kontext prominente Bedeutung zu, und sorgfältiges Achten auf die thematischen Parallelen zwischen seinem und Popkes Beitrag (vgl. z. B. 185/247 mit Anm. 56; 212 f./248; 217/249) gibt gründlichem Studium der Texte eine lohnende Aufgabe. Was die Bedeutung der Qumran-Texte für das Verständnis des Neuen Testaments angeht, fragt nach Freys Einführungstext die neuere Forschung »nach Parallelen und ihrer Auswertung sowie nach dem ›Nutzen‹ oder Wert dieser Parallelen für das Verständnis der neutestamentlichen Texte und nach dem, was sich durch diese Texte in der Sichtweise der Forschung verändert hat oder vielleicht noch ändern könnte« (21). Kuhns Darbietung von Erträgen der Qumran-Forschung für das Verständnis des historischen Jesus (417–449) und der Paulusbriefe (449–471) legt dafür beredtes Zeugnis ab. Ein Beispiel, das aus Freys einleitender Vorgabe merklich herausfällt, betrifft 4QMMT C 27: Kuhn beobachtet, man könne heute theologisch kaum noch überschätzen, dass die achtmal von Paulus benutzte Formulierung ἔργα νόμου nun auch in der antiken jüdischen Literatur vorkomme (459). Die Formulierung bedeute im Kontext des halachischen Lehrbriefs: »Werke der Tora, die getan werden sollen«, halachische Vorschriften also (461). Im paulinischen Kontext bleibt aber nach Kuhn das althergebrachte Verständnis der Wendung gültig: »Werke der Tora«, die jemand getan hat. Im Ergebnis wäre also aus dem Qumranbeleg für das Paulusverständnis nichts zu lernen, Wert oder Nutzen der Parallele hinfällig: Im betreffenden Qumrantext geht es nach Kuhn »um Vorschriften der Tora«, bei Paulus – im Widerspruch zu Röm 2,13 – darum, »dass man nicht gerecht wird durch das Tun der Tora« (461, vgl. auch Rey, 366).
Ein ihm eigenes Gewicht verleiht dem Sammelband die vorläufige Edition eines Deuteronomium-Fragments, das in Dtn 27,4 Garizim anstelle von Ebal liest. An Parallelen einer solchen Lesart führt Charlesworth »four manuscripts« an: Papyrus Giessen 19, Codex Lugdunensis 30 [= Vetus Latina], den Samaritanischen Pen-tateuch und das Fragment »of an Unknown Dead Sea Scroll«. Im Ergebnis neigt der Autor dem Urteil zu: »The best reading, ›on Mount Gerizim,‹ is extant now in Hebrew. Most likely, many scholars will urge that the text and translation of Deut 27:4 be changed in all Bibles« (414). Darüber wird die Fachwelt noch zu diskutieren haben. Das Fragment liest ebenso wie ein solches von Masada und wohl auch Papyrus Giessen 19 nicht nur »Garizim«, sondern toponymisch in einem Wort םיזרגרהב, wie es samaritanischem Ge­brauch eigen ist. Wünschenswert wäre ein redaktionell ergänzender Hinweis auf J. Dušek, Aramaic and Hebrew Inscriptions from Mt. Gerizim and Samaria between Antiochus III and Antiochus IV Epiphanes (speziell 84.90–92), gewesen. Das Werk hat H. Samuel in ThLZ 138 (2013), H. 6, 660 f. besprochen. Der Frage nach der Sprache Jesu auf dem Hintergrund des »Qumran-Aramäischen« wendet sich der Beitrag von Schattner-Rieser zu und führt zu einer gegenüber J. Jeremias, P. Grelot und K. G. Kuhn neuen Rückübersetzung und Rekonstruktion des wahrscheinlichen Urtexts des Vaterunser-Wortlauts (138–144). Die philologische Kommentierung der acht Gliederungspunkte des Gebets, das poetisch ein Meisterwerk sei (133), bietet mit überreicher Materialfülle (zu den verwendeten Abkürzungen s. 107 unten) die Begründung für die jeweils vorgeschlagene Rückübersetzung (107). G. Schelbert weiß sich die Autorin zu Dank verpflichtet, dass er »dem Abba-Problem ein ersehntes und willkommenes Ende gesetzt« hat: Es liegt kein Kosewort vor, Abba bedeutet nichts anderes als »Vater!« (105). Klaus Beyers um­fangreiche semitistische Arbeiten zur Aramaistik insgesamt, zu den aramäischen Texten vom Toten Meer im Besonderen, werden im vorliegenden Beitrag nicht berücksichtigt, nicht seine Erhebungen zur Entwicklung des Aramäischen, nicht seine Beschreibung der sieben unterschiedlichen westaramäischen Dialekte der Zeit Jesu, seine Wörterbuchartikel nicht. Da bleibt also noch viel zu tun, hat doch der Vaterunser-Wortlaut auch eine phonetische Seite.