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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1213-1215

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Porter, Stanley E.

Titel/Untertitel:

Constantine Tischendorf. The Life and Work of a 19th Century Bible Hunter. Including Constantine Tischendorf’s When Were Our Gospels Written?

Verlag:

London u. a.: Blooms-bury T & T Clark 2015. 190 S. Kart. £ 16,99. ISBN 978-0-567-65802-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Am 18. Januar 2015 jährte sich zum 200. Mal der Geburtstag Constantin von Tischendorfs. Dieses Jubiläum bietet den äußeren Anlass für das vorliegende Buch von Stanley E. Porter, das Leben und Werk des Leipziger Textkritikers von Neuem in das Blickfeld vor allem eines breiteren englischsprachigen Publikums rücken möchte. Denn die Leistungen Tischendorfs, die im 19. Jh. noch zu beiden Seiten des Atlantik in aller Munde waren, scheinen gegenwärtig wieder mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten.
Einem solchen Vergessen versucht P. auf zweifache Weise zu begegnen. Zum einen zeichnet er die Vita und die umfangreiche Publikationstätigkeit Tischendorfs in einer einfühlsamen biographischen Skizze nach. Zum anderen liefert er einen kommentierten Nachdruck der vielleicht populärsten und am weitesten verbreiteten Schrift Tischendorfs, die das theologische Profil ihres Autors in besonders anschaulicher Weise sichtbar zu machen vermag. Daran orientiert sich dann auch die Zweiteilung des Buches.
Teil 1 beginnt mit einer kurzen Einleitung, die Tischendorf auf der theologischen Szene des 19. Jh.s platziert und in eine Schar klangvoller Namen einreiht. Dass Tischendorf in vielen jüngeren Werken zur Theologiegeschichte des 19. Jh.s dennoch übersehen wird, hat auch mit der engen Fokussierung seiner Forschungen auf Paläographie und Textkritik zu tun. Selbst im curriculum der Leipziger Fakultät bot er regelmäßig nur exegetische Themen an – anders als die Kollegen, die damals durchgängig auch noch die »Theologische Enzyklopädie« lasen.
Sodann beschreibt P. das Leben Tischendorfs und folgt ihm dabei aus dem sächsischen Vogtland bis in den Orient und an die Fürstenhöfe Europas. Diese anschauliche, auf eine umfang- und kenntnisreiche Benutzung der einschlägigen Literatur gestützte Darstellung lässt nicht nur den Lebensweg Tischendorfs, sondern auch ein gutes Stück Kultur- und Theologiegeschichte des 19. Jh.s lebendig werden. Sie geht den großen Stationen und Projekten in dieser ereignisreichen Biographie ebenso nach wie den Details persönlicher Eigenheiten und familiärer Belange. Auch die Kontroversen um die Entfernung des »Codex Sinaiticus« aus dem Kloster sowie die anschließenden Anschuldigungen gegen seinen Entde-cker werden im Lichte der jüngsten Quellen beleuchtet. Namentlich die 2007 publizierten Schenkungsdokumente sprechen Tischendorf dabei vom Vorwurf eines unlauteren Spieles frei. Zwei Punkte wären in diesem Zusammenhang freilich noch differenzierter zu beurteilen. Die Geschichte um den ominösen Papierkorb in der Bibliothek des Katharinenklosters erweist sich als durchaus ambivalent: dass der Inhalt des Korbes verbrannt werden sollte, beruht sicher auf einem Missverständnis (dazu war Pergament viel zu kostbar – und außerdem für das Feuer denkbar ungeeignet); dass es sich dabei jedoch um einen Abfallkorb für Material zur Sekundärverwertung (z. B. für Bucheinbände) handelte, steht angesichts des bereits in Auflösung begriffenen Codex sowie der im Kloster zahlreich belegbaren Weiterverwendung alter Pergamentblätter außer Frage. Was die Schenkung betrifft, so erfolgte der Vorgang zwar rechtlich korrekt, im Ganzen jedoch unter turbulenten Um­ständen, die den Vätern des Klosters schließlich wenig Spielräume ließen. Alles in allem bietet P. in diesem Abschnitt eine informa-tive, packend zu lesende Darstellung eines bemerkenswerten Ge­lehrtenlebens.
Schließlich wird auch das umfangreiche Werk Tischendorfs noch einmal in den Blick genommen. Es umfasst unter dem Stichwort »Paläographie« eine Reihe mustergültiger Texteditionen, unter dem Stichwort »Textual criticism« vor allem die sieben Auflagen der Septuaginta, die 24 Auflagen des Novum Testamentum Graece nach elf selbständigen Drucken zu vier Hauptrezensionen sowie die Beurteilung der kanonischen Evangelien auf der Basis eines neuen, verbreiterten Handschriftenbestandes. Erwähnung verdienen hier sicher auch noch einmal die drei Sammelbände mit apokryphen Evangelien, Apostelgeschichten und Apokalypsen so­wie die beiden unterhaltsamen Berichte seiner orientalischen Reisen, die sich zu ihrer Zeit großer Popularität erfreuten. In einer kurzen Schlussfolgerung resümiert P. das Gesamtbild dieser Persönlichkeit und stellt darin besonders die unbeirrbare Zielstrebigkeit heraus, mit der Tischendorf seine Lebensaufgabe verfolgte.
Teil 2 ist dem Nachdruck von Tischendorfs Schrift »Wann wurden unsere Evangelien verfasst?« vorbehalten, die 1865 zum ersten Mal bei Hinrichs in Leipzig erschien. In den folgenden Jahren erlebte sie insgesamt vier weitere Auflagen und acht Übersetzungen (niederländisch, französisch, englisch, schwedisch, dänisch, russisch, türkisch, italienisch), in einigen Sprachen auch mehrfach. Eine Besonderheit dieser Schrift besteht darin, dass ihr Tischendorf von der dritten Auflage an (die ebenfalls noch 1865 als »Volksausgabe« in Zwickau und Leipzig erschien) einen Bericht über seine Entdeckung des »Codex Sinaiticus« voranstellte. Der vorliegende Nachdruck basiert auf der ersten englischen Übersetzung von J. B. Heard, die 1866 in London erschien und die in der Folge noch we­nigstens fünf weitere Auflagen erlebte.
P. stellt dem Nachdruck eine Einführung voran, die zunächst das theologische Umfeld dieser Schrift beschreibt. Das ist geprägt von der Entwicklung einer historisch-kritischen Exegese seit der Aufklärung, die im 19. Jh. ihren Höhepunkt in den Arbeiten von Schleiermacher, Strauß und Bauer erlebt. Ihnen tritt Tischendorf mit einem apologetischen Programm entgegen. Seine Absicht besteht darin, die Zuverlässigkeit der Evangelien durch den Nachweis zu begründen, dass die Fixierung ihres Textes noch an das Ende des 1. Jh.s, ihre Überlieferung aber bis in die apostolische Zeit zurückreicht. P. zeichnet die Argumentation Tischendorfs detailliert nach, bevor er sein Lesepublikum dann in die Lektüre des kleinen Traktates entlässt. Diese Einführung ist von einer starken Empathie geprägt – aus gutem Grund, wenn man Tischendorfs Einsichten mit den Ergebnissen der modernen Einleitungswissenschaft vergleicht. Spätdatierungen der Evangelien, die bis in die Mitte des 2. Jh.s führen, werden inzwischen kaum noch ernsthaft vertreten. Die Bedeutung der mündlichen Tradition und die Anfänge schriftlicher Sammlungen vermag Tischendorf bereits mit scharfem Blick zu erkennen und in ein plausibles Entwicklungsschema zu bringen.
Allerdings wäre an dieser Stelle auch der apologetische Impetus Tischendorfs noch einmal kritisch zu beleuchten. Die naive Annahme, mit dem höheren Alter der Evangelien auch ihre »Wahrheit« bzw. die Historizität der berichteten Ereignisse belegen zu können, bleibt bereits hinter dem Diskussionsstand der damaligen Zeit zurück. Tischendorf, der sich wie nahezu alle seiner Zeitgenossen zum Kampf gegen Strauß aufgerufen fühlt, verkennt dessen Einsicht in den literarischen Charakter der Evangelien, der von den Datierungsfragen gar nicht berührt wird. Hier wäre Tischendorf auch als Vertreter eines konservativen Luthertums in den Blick zu nehmen, das bei aller philologischen Gelehrsamkeit nach wie vor auch ein gehöriges Maß an biblizistischem Schriftverständnis mit sich herumträgt. In diesem Zusammenhang verdient auch jene Schrift Tischendorfs Interesse, die er nur wenig später mit einem ganz ähnlichen Anliegen verfasst hat: »Die Echtheit unserer Evangelien«, seit 1869 in zwei Auflagen und zwei Übersetzungen er­schienen. Worin genau diese »Echtheit« oder »Authenticity« (so die englische Übersetzung von 1871) besteht – diese Frage würde heute ganz anders als seinerzeit von Tischendorf zu beantworten sein.
Es ist das Verdienst von P.s Buch, nicht nur Constantin von Tischendorf als eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten deutscher Theologie im 19. Jh. wieder in den Blick gerückt, sondern zugleich auch die Debatten dieser Zeit von Neuem präsentiert und aufgerollt zu haben. Dass man dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen kann, liegt in der Natur der Sache. Dem Andenken großer Gelehrter aber ist jedenfalls mehr gedient, wenn man sie immer wieder kritisch befragt, als wenn man sie schlicht auf einem Sockel verstauben lässt.