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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1211-1213

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jones, F. Stanley

Titel/Untertitel:

The Syriac
Pseudo-Clementines
. An Early Version of the First Christian Novel.

Verlag:

Turnhout: Brepols Publishers 2014. 352 S. m. 3 Abb. = Apocryphes. Collection de poche de l’AELAC, 14. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-2-503-55111-1.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Gebhardt, Joseph Glen: The Syriac Clementine Recognitions and Homilies. The First Complete Translation of the Text. Nashville: Grave Distractions Publications 2014. 174 S. Kart. US$ 19,99. ISBN 978-0-99086853-8.


Der unter dem Namen »(Pseudo-)Klementinen« (PsKl) bekannte erste christliche Roman wurde im 19. Jh. unter dem Einfluss der Tübinger Schule zu einem zentralen Gegenstand der Erforschung der Geschichte des frühen Christentums. Das Werk ist in mehreren Stufen von Ende des 2. bis Anfang des 4. Jh.s entstanden. Erhalten sind zwei Fassungen, die sogenannten »Rekognitionen« (Wiedererkennungen; R) in zehn Büchern und die »Homilien« (Predigten [sc. des Petrus]; H) in 20 Büchern mit drei Einleitungsschriften, ferner mehrere Epitomen beider Texte in verschiedenen Sprachen, die womöglich schon ab dem 4. Jh. große Verbreitung fanden. Mit der Textgestalt von R und H, beide von Bernhard Rehm innerhalb der »Griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte« glänzend ediert, verbinden sich besondere Probleme: R sind vollständig nur in einer lateinischen Übersetzung (L) des Rufin von Aquileia (ca. 407 n. Chr.) erhalten, von H existieren nur zwei späte, miteinander verwandte Handschriften, deren ältere (ca. 11. Jh.) unvollständig ist. Es ist daher ein großer Glücksfall, dass größere Abschnitte aus H (Bücher 10–14) und R (Bücher 1.1–4.1,4) auch in einer frühen syrischen Übersetzung (S) vorliegen. Ihr bedeutends­ter Zeuge ist eine in London aufbewahrte edessenische Handschrift (British Library Additional 12,150), die im Jahr 411 hergestellt wurde.
Außerhalb der engsten Fachzirkel können antike Texte unter den heutigen Bildungsbedingungen durchweg nur in Gestalt neusprachlicher Übersetzungen rezipiert werden. So ist es ebenso erfreulich wie überraschend, dass Ende 2014 fast gleichzeitig zwei vollständige englische Übersetzungen der syrischen Klementinen aus der genannten Londoner Handschrift erschienen sind, und zwar (lt. Notierungen des Versandhändlers Amazon) am 11.12. die von F. Stanley Jones und am 16.12. die von Joseph Glen Gebhardt.
Beide Ausgaben beanspruchen, die vollständige Erstübersetzung der syrischen Texte zu bieten; da sie keinen Bezug aufeinander nehmen, scheinen sie unabhängig voneinander entstanden zu sein. Tatsächlich liegt ihre Schnittmenge in der kompletten Übertragung desselben syrischen Ausgangstextes.
Ein Vergleich von Einzelstellen beider Versionen ergibt, wie zu erwarten steht, eine Fülle von zumeist syntaktischen und stilistischen Differenzen, die sich aus dem Interpretationsspielraum des syrischen Textes ergeben. Mal wird man Gebhardts Übersetzung – sie verzichtet lästigerweise auf die Angabe der Vers-zahlen – bevorzugen (z. B. H 14.9,2; bei J. missverstanden), mal diejenige von Jones (z. B. R 1.72,8; Fehlübersetzung von G., bei J. fehlt die Verszahl). Dem Verständnis des Textes kann es für Nichtkenner des Syrischen durchaus zugutekommen, beide Übersetzungen nebeneinanderzulegen. In schwierigen Fällen wird der Leser zwangsläufig Jones zu Rate ziehen, der, anders als Gebhardt, seinen Text durch Fußnoten erläutert, wenngleich in unterschiedlicher Dichte.
Im Übrigen haben die beiden Ausgaben nicht viel gemeinsam. Gebhardt, den sein Verlag als Philosophen mit aramaistischen Neigungen vorstellt (174), ist in der PsKl-Forschung ein Unbekannter. Nebst einer hilfreichen Landkarte mit dem Reiseweg der Romanfiguren (6) hat er seiner Übersetzung nur eine knapp zweiseitige »Introduc-tion« (4 f.) beigegeben. Sie bietet, neben einer groben Inhaltsangabe des Werkes, wenige oberflächliche Bemerkungen zu dessen Erforschung, mit der er offensichtlich nicht vertraut ist. S ist nicht »ac-cording to the ordinary rules of literary genealogy« als »ancestor« von H und R anzusprechen (4). S als »obscure, unstudied, untranslated and unpublished« zu charakterisieren, zeugt von grober Unkenntnis (5). Die letzte kritische Ausgabe von S hat Wilhelm Frankenberg 1937 samt einer Rückübersetzung ins Griechische vorgelegt.
Die vier von G. ersonnenen Attribute der syrischen Übersetzung erledigen sich auch unter Hinweis auf den zweiten zu besprechenden Autor. Der in Göttingen promovierte Jones, seit 1988 Professor of Religious Studies an der California State University, Long Beach, zählt seit Jahrzehnten zu den besten Kennern der PsKl. Die von ihm vorgelegte Übersetzung ist im Vorfeld einer kritischen Neuausgabe von S entstanden, die im »Corpus Christianorum. Series Apocryphorum« erscheinen und diejenige von Frankenberg ablösen soll.
Einen Ausschnitt seiner Übersetzung hatte J. bereits 1995 in einer Monographie zu R 1.27–71 vorgelegt (»An Ancient Jewish Christian Source on the History of Christianity«); er ist mit einigen Modifikationen in die nun vorgelegte Gesamtausgabe eingegangen. Was die Arbeit von 1995 auszeichnet – dort bietet J. eine Parallelübersetzung von S und L, die einen äußerst bequemen Vergleich beider Versionen ermöglicht –, fehlt leider in der Gesamtübersetzung. Immerhin macht J. hier in Fußnoten auf markante Differenzen zwischen S und L bzw. S und H aufmerksam.
Den Übersetzungsteil (57–338) seines Buches rahmen eine leicht verständliche »Introduction« (14–56) sowie hilfreiche Sach- und Stellenregister (339–352). Die Einleitung skizziert mit Hilfe tabellarischer Übersichten der Inhalt der PsKl (15–37) – zunächst den der sogenannten »Grundschrift« (16-19), danach den der Rezensionen R und H (J. nennt sie, was gewöhnungsbedürftig ist, »Recognitio[n]« bzw. »Klementia«; 14 f.), welche Bearbeitungen der »Grundschrift« darstellen. Mit diesem literarkritischen Modell schließt sich J. an Ergebnisse der älteren Forschung an (z. B. Georg Strecker), die allerdings in vielen Punkten revisionsbedürftig erscheinen.
In den Vorbemerkungen zu S (39–44) geht J. auf zwei forschungsgeschichtlich wichtige Punkte ein: Die in vielen L-Handschriften fehlende Passage R 3.2–11 möchte er nicht, wie meist angenommen, als spätere Interpolation eines Eunomianers verstehen, sondern, wie vor ihm Hans Waitz, auf R selbst zurückführen: Das Stück sei »an important window onto the identity of the Re-cognitionist« (43; vgl. 182 f., Anm. 2), eine These, die u. a. wegen der fehlerhaften Erzählperspektive in 3.7,1 (Klemens als erzählte Figur, nicht als Erzähler) jedenfalls noch gründlicher Diskussion bedarf.
Bemerkenswerte Auffälligkeiten weist die syrische Übersetzung der Bücher H 12 und 13.1–7 auf. Sie erweist sich als gekürzter Mischtext aus H und den hier sehr engen R-Parallelen (40 f.; 291, Anm. 1). J. möchte daraus schließen, dass der syrische Übersetzer in diesem Textbereich R und H nebeneinander verwendet und verschmolzen habe (41), was angesichts seiner Version der Bücher H 11 und 14, die minutiös H folgen, überraschend wäre. So bleibt zu klären, ob nicht S, sondern womöglich bereits deren griechische Vorlage im Bereich der Bücher H 12 und 13 unter dem Einfluss der populären Epitomierung des Klemens-Stoffes stand (vgl. 319, Anm. 28).
Im Übersetzungsteil schenkt J. den Abschnitten R 3.2–11 und H 12 f. entsprechend große Beachtung. R 3.2–11 wird sowohl in der Version von S als auch in der von L übersetzt, um die unterschiedlichen christologischen Akzentuierungen sichtbar zu machen (182–200). Das geschieht leider nicht synoptisch (der L-Text befindet sich in Fußnoten), ist aber trotzdem ein Gewinn, da dieses Stück in der verbreiteten englischen L-Übersetzung von Thomas Smith fehlt. – Im Bereich H 12.1–13.7 (291–319) erläutert J. das Verhältnis des von S gebotenen Mischtextes zu H und R ausführlich in den Fußnoten. Verwirrend ist allerdings die Nummerierung der Verse von S im Haupttext, die, je nach inhaltlicher Nähe, derjenigen von R oder H folgt.
J.s Einleitung beschließen allgemeine Anmerkungen zur Übersetzung (44–47) sowie eine »Annotated Bibliography« (49–56). Letztere weist im ersten Teil Ausgaben und Übersetzungen der PsKl nach, im zweiten, angeblich aus Raumgründen (46), die Sekundärliteratur nur insoweit, als sie von J. selbst stammt oder er daran mitgewirkt hat. Mit dieser extrem subjektiven Auswahl wird ein schiefes Bild von der Erforschung der PsKl erzeugt. Es setzt sich darin fort, dass J. auch in den Fußnoten zu seiner Übersetzung, von wenigen Textausgaben abgesehen, nur auf eigene Arbeiten verweist.
Erschienen ist J.s Übersetzung in der Reihe »Apocryphes«, die von der »Association pour l’Étude de la Littérature Apocryphe Chrétienne« (AELAC, Lausanne) herausgegeben wird. Sie umfasste bisher nur französische Übersetzungen frühchristlicher Apokryphen. Durch die erstmalige Publikation eines englischsprachigen Bandes wird die wichtige Reihe hoffentlich auch dort größere Resonanz finden, wo sie bislang nur wenig Beachtung gefunden hat.
Dass J.s gelehrte Arbeit insgesamt derjenigen G.s, die eine kurioserweise im letzten Moment verhinderte literarische Sensation sein wollte, vorzuziehen ist, versteht sich am Ende von selbst.