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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1155-1157

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Boehme, Katja [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Wer ist der Mensch?«. Anthropologie im interreligiösen Lernen und Lehren.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme Verlag 2013. 283 S. m. Abb. = Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen, 4. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-86596-463-2.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Unter den Bedingungen von Globalisierung und fortschreitender religiös-weltanschaulicher Pluralisierung in mitunter ambivalenter politischer Manifestation gewinnen interkulturelle und interreligiöse Verständigung zunehmend an Bedeutung. Die Vermittlung der dafür erforderlichen Kompetenzen ist eine zentrale gesellschaftliche Bildungsaufgabe, die insbesondere den wertbezogenen Schulfächern, d. i. dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht und dem Alternativfach Ethik/Philosophie zukommt.
Der vorliegende Band dokumentiert ein bundesweit einmaliges Studienprojekt, welches aus dem skizzierten Befund die entsprechenden Konsequenzen zieht, indem es die seit Längerem von den Kirchen und den Ländern für die Lehrerbildung geforderte »Dialog- und Diskurskompetenz« (236) erstmals 2011 hochschuldidaktisch konsequent in ein interreligiöses »Begegnungslernen« um­setzte unter Leitung der Herausgeberin Katja Boehme, Professorin für Katholische Theologie/Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dazu wurde das in der EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht »Identität und Verständigung« (1994) als zukunftsweisend empfohlene Modell der »Kooperierenden Fächergruppe« in den Hochschulbereich übertragen. Beteiligt waren die Studienfächer Evangelische, Katholische und Islamische Theologie/Religionspädagogik, Philosophie/Ethik sowie Jüdische Religionslehre der Pädagogischen Hochschulen in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. In einer (1) Vorbereitungsphase wurden sechs reguläre Lehrveranstaltungen der beteiligten Fächer zu einem identischen Thema fächerverbindend vernetzt, jedoch so, dass »jedes der beteiligten Fächer seiner eigenen Hermeneutik und Methodik folgen und seine eigenen inhaltlichen Schwerpunkte setzen konnte« (244). An einem gemeinsamen Projekttag präsentierten sich die Studie renden in einer (2) Forumphase gegenseitig charakteristische Themenaspekte aus der Perspektive ihres jeweiligen Faches und diskutierten in einer (3) Austausch- und Diskussionsphase in gemischten Gruppen weitergehende inhaltliche Fragen. Im Rahmen einer (4) Reflexionsphase wurde abschließend eine Evaluation mittels Fragebogen durchgeführt. Das gewählte Thema »Wer ist der Mensch?« ist in mehrfacher Hinsicht für die Eröffnung eines interreligiösen Begegnungslernens prädestiniert, denn mit ihm sind nicht nur die anthropologischen Grundlagen jedes Bildungsprozesses thematisch, sondern ebenso auch der irreduzibel selbstreferentielle Charakter allen anthropologischen Fragens, dessen letztlich hermeneutisch zu verstehende Antworten nur in der Vermittlung von selbstreflexiver »Identität« und diskursiver »Verständigung« gewonnen werden können.
Die Reihe der theologischen Perspektiven (Teil I des Bandes), deren Autoren zumeist auch an der Durchführung des Projektes beteiligt waren, eröffnet Daniel Krochmalnik, indem er, ausgehend vom vierfachen Schriftsinn, einem »Markenzeichen jüdischer Hermeneutik« (22), die vierfache Dimension biblischer Anthropologie lautmotivisch erschließt: »Adam« meine sowohl den einzelnen Menschen (historischer Sinn), die Menschheit (allegorischer Sinn) wie die Menschlichkeit (tropologischer Sinn) und schließlich (anagogischer Sinn) »die anthropomorphe Urform Gottes in der Schöpfung« (26). Die »Position« des Menschen werde (Gen 1,26–28) durch eine dreifache konstitutive Relationalität (31 f.) als Beziehung des Menschen zu Gott (homo religiosus), zum Mitmenschen (homo sociologicus) und zur Welt (homo faber). In katholischer Akzentuierung sieht Katja Boehme auf dem Boden eines trinitätstheologisch fundierten Inkarnationsbegriffs mit dieser konstitutiven Relationalität des Menschen gleichursprünglich seine Subsistenz als den ontologisch zu verstehenden »Selbststand« (63) des Menschen als Person gegeben, dessen Gabecharakter sich in existenzieller Geschichtlichkeit realisiere. Von diesem dogmatischen Weg zu einer theologischen Anthropologie unterscheidet Boehme einen gleichberechtigten, an philosophische und humanwissenschaft-liche Einsichten anknüpfenden, fundamentaltheologischen Zu­gang, der gleichermaßen zu den genannten Dimensionen menschlichen Personseins führe. Demgegenüber lehnt Martin Hailer »in evangelischer Wahrnehmung« (75) eine fundamentaltheologische Anthropologie (W. Pannenberg) ebenso wie die gängige schöpfungszentrierte Anthropologie (W. Härle) aufgrund ihrer Wesens­prätentionen ab und plädiert für eine ethisch ausgerichtete Neuverortung theologischer Anthropologie, der es »aus dem Blickwinkel der Geschichte Gottes mit dem Menschen« darum zu tun sein müsse, »das vor Gott richtige Menschsein«, d. i. »Exzentrizität, Responsivität und eschatologische Ausrichtung des Menschen als theologisch Entscheidendes« (88) zu entfalten.
Als »verbindenden Nenner« (101) islamischer Anthropologie sehen Amina Boumaaiz, Bernd Feininger und Jörg Imran Schröter die Barmherzigkeit Gottes als Schöpfer und die daraus resultierende zwischenmenschliche Solidarität an. Die »Diastase zwischen Gott und Mensch nach islamischer Vorstellung« (111) markiere eine Differenz zu dem christlich geprägten Begriff der Gottebenbildlichkeit; der »hohe Rang« (104) des ganzheitlich, auch in seiner Ambivalenz begriffenen Menschen bestehe in seiner Fähigkeit zu natürlicher Gotteserkenntnis (114), seiner ethischen Verantwortlichkeit und Rechenschaft vor Gott (117) sowie in seiner Willensfreiheit, der »Rechtleitung Gottes« (122) orthopraktisch zu entsprechen.
Die Beiträge in Teil 2 des Bandes sind durch eine vergleichende Perspektive gekennzeichnet. So versteht Hans-Bernhard Petermann, als Philosoph am Projekt beteiligt, die Frage nach dem Menschsein als eine interdisziplinär aufzunehmende »kriteriologische Grundfrage« (150). Mithilfe angeleiteter Deutungen einschlägiger Texte erarbeitet er elementare Kriterien, mit denen anthropologische Positionen »kritisch geprüft werden können auf ihre Konsistenz, Stimmigkeit und Orientierungskraft für menschliche Lebensgestaltung« (151), so das Verständnis des Menschen als Kultur-, Freiheits- und Moralwesen sowie der Mensch in seiner Abgründigkeit, Exzentrizität und Fragilität, die zur offenen Frage nach einer für den Menschen im Letzten konstitutiven Relationalität (J. Butler) führe (182). Diese konstitutive Relationalität zwischen Mensch und Gott und das damit verbundene Personsein des Menschen sieht der Religionswissenschaftler Bertram Schmitz – bei allen Differenzen im Einzelnen (191–209) – als entscheidendes Kohärenzmerkmal der abrahamitischen Religionen an im Unterschied etwa zum klassischen Hinduismus und Buddhismus. Dass es in der Frage nach dem Beginn des Personseins trotz dieses grundsätzlichen Konsenses zu differenten Positionen der Religionen in bioethischen Fragen kommen kann, zeigt der abschließende Beitrag von Michael Schrom.
Teil 3 des Bandes enthält neben didaktisch-konzeptionellen Überlegungen zur Kooperierenden Fächergruppe (Katja Boehme) einen Überblick über andere Angebote interreligiöser Kompetenzbildung an theologischen Fakultäten und Hochschulen (Julian Miotk) sowie eine Teilevaluation des Projekts. Deren Ergebnisse zeigen insgesamt eine hohe Befürwortung dieses Studienangebots (87 %), insbesondere im Blick auf eine signifikante Vergewisserung der eigenen religiös-weltanschaulichen Identität und der Wahrnehmung von Verschiedenheit als Bereicherung (262–265). Dass allerdings 85 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Thematisierung der Wahrheitsfrage verneinten, weist auf mögliche systematische Defizite in der Anlage dieses Studienprojektes hin, die sich auch in der Struktur des dokumentierenden Bandes widerspiegeln: Während die theologischen Beiträge (Teil 1) in ihrer je eigenen Positionalität verbleiben und kaum Querverweise enthalten, legen erst die philosophische bzw. die religionswissenschaftliche Außenperspektive (Teil 2) vergleichend mögliche inhaltliche Kontroversen offen. Die produktive Wahrnehmung positioneller Differenzen, auch und gerade differenter Wahrheitsansprüche, ist als Differenzkompetenz jedoch grundlegende Voraussetzung jedes gelingenden interreligiösen Dialogs. Unbeschadet dieser Kritik bleibt das im vorliegenden Band dokumentierte und zwischenzeitlich fortgesetzte Studienprojekt aber ein innovativer Weg zur Vermittlung von »Identität« und interreligiöser und interkultureller »Verständigung«.