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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1151-1152

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meisert, Stefan

Titel/Untertitel:

Ethik, die sich einmischt. Eine Untersuchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 399 S. = Studien zur theologischen Ethik, 140. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7278-1751-9 (Academic Press Fribourg); 978-3-541-34193-9 (Verlag Herder).

Rezensent:

Walter Dietz

Stefan Meisert, katholischer Pfarrer im Schwarzwald, legt ein gut lesbares, sehr quellengetreues und einfühlsames Buch über die Ethik Spaemanns vor, die er in enzyklopädischer Bandbreite ins Visier nimmt. Spaemann hat Glück, denn M. begegnet ihm mit fundamentalem Wohlwollen, nicht mit einer Hermeneutik des Verdachts (denkbar z. B. im Blick auf seine Positionierung im lehramtlich befestigten Glauben der katholischen Kirche). So wird diese Begegnung nicht vorweg zu einer »Vergegnung« (M. Buber).
Der Däne S. Kierkegaard setzte den prägnanten, aber dunklen und visionären, schrägen und schwer verständlichen Satz in sein Tagebuch: »Alles Unheil wird letztlich von den Naturwissenschaften kommen.« (DSKE 4,69) Im Blick auf die unabwägbaren (Rest?-)Risiken z. B. der angewandten Atomphysik könnte man hier an Technikfolgen denken. Gemeint ist aber vielmehr, dass sich der Mensch durch die geistige Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Paradigmas in falscher Weise verobjektiviert, mithin geistig zu zerrinnen und zu veräußerlichen droht, wodurch ihm der Grundsinn seines eigenen Personseins abhanden kommt. Menschenwürde würde dann zu einer Leerformel. Vor allem in Figuren wie D. Parfit, P. Singer und D. Hoerster begegnet eine utilitaristische Denkweise, die Spaemann für grundfalsch hält, weil sie nicht von einer unableitbaren und unveräußerlichen Würde des Menschen ausgeht, sondern eben rein utilitaristisch argumentiert. M. zeigt, wie sich für Spaemann damit die Gefahr menschenverachtender Folgen dieses Ansatzes verbindet, z. B. in der Tötung Neugeborener oder Behinderter.
Während nun fast alle Studenten den Namen P. Singer kennen, ist R. Spaemann weithin unbekannt. Das Buch von M. könnte dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben. Dass Spaemann eine naturrechtliche Argumentation (vgl. Thomas von Aquin, Leibniz, Hegel) für vertretbar hält, macht ihn unzeitgemäß – gerade angesichts theologischer Berührungsängste gegenüber der Naturrechtsproblematik, nicht nur evangelischerseits. M. geht es zum einen darum, in einem enzyklopädischen Durchgang die Argumentationsfelder abzuschreiten, in denen Spaemann – nicht selten als »eine sehr streitbare Person« (369) – präsent ist, die aber nicht an Streitlust, sondern an Wahrheitsliebe orientiert ist, wobei sie von der Unbeliebigkeit der Wahrheit des Menschseins selber ausgeht (369). Anthropologie ist keine Geschmackssache, die sich im pluralen Weltverständnis dissoziieren ließe.
Zum andern stellt M. die Frage der Zuordnung des Argumentationstypus’ von Spaemann: deontologisch oder konsequenzialistisch? Trotz der Ablehnung des Utilitarismus zeige sich bei ihm ein Mischtypus beider, d. h. der konsequenzialistische Ansatz werde nicht abgelehnt, sondern durchaus angewandt (367). Der Handelnde soll auf die absehbaren Folgen seines Tuns blicken, d. h.: Nicht allein die Reinheit seiner Gesinnung zählt (gegen Kant). Allerdings muss die Reichweite der Verantwortung sinnvoll begrenzt werden. Wenngleich unkalkulierbare Folgen nicht berücksichtigt werden können, darf die Bewertung der Handlung die absehbaren Handlungsfolgen nicht außer Acht lassen. Der Schlüsselgedanke Spaemanns (im Anschluss an Thomas von Aquin) wird von M. klar herausgestellt, dass es nämlich »in sich schlechte« Handlungen (intrinsice malum) gibt, die durch keine teleologische Einbindung gut werden können. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht.
Von innen heraus hat menschliches Handeln »Grenzen« wahrzunehmen (so der Titel des wichtigen Aufsatzbandes von 2001), und zwar nicht als irrationale Tabus, sondern als fundamentale Grenzen gegenüber zweckrationaler Logik (310). M. stellt ausführlich Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus dar. Dabei wird deutlich, wie Spaemann die Logik des Utilitarismus als in sich begrenzt dechiffriert. Dies betrifft insbesondere die Debatte um den Personbegriff (John Locke, 209 f., weiterentwickelt bei Parfit, Singer, Hoerster u. a.), dessen Kritik M. treffend nachzeichnet. Für Spaemann gibt es einen unüberbrückbaren kategorialen Gegensatz zwischen »etwas« und »jemand« (203 ff.; kein Übergang vom Es zum Ich). Personalität wird nicht verliehen (z. B. durch einen Anerkennungs- oder Abstimmungsprozess), so Spaemanns These, sondern ist dem Menschen als Menschen zu eigen (203); sie bezeichnet einen Status und kein Attribut.
Sehr ausführlich wird auch die – scheinbar schon ›abgehakte‹ und abständige – Debatte um den § 218 StGB referiert (318–326). Noch aktueller ist freilich die Diskussion um Euthanasie und as-sistierten Selbstmord (326–331); »Lieblingsfeinde« sind hier P. Singer und D. Parfit, Verbündete u. a. W. Beierwaltes und W. Pannenberg (331). Im Blick auf Spaemanns Ablehnung der Todesstrafe rekurriert M. – theologisch interessant – auf den Sühnecharakter der Strafe, den Spaemann nicht an da s ius talionis bindet (337).
Im Blick auf die friedliche Nutzung der Kernenergie zeigt M. die konsequenzialistische Argumentationsweise Spaemanns auf (352). Deren unzeitgemäße, scharfe Ablehnung wird im Blick auf Rest-risiko und Endlagerproblematik ausführlich referiert (346–352). Spannend, wie früh und hellsichtig Spaemann sich hierzu schon um 1979 (vor Tschernobyl!) positionieren konnte. Dies leitet über zur Ökologischen Ethik (inkl. Tierschutz), die den »Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich« ins Zentrum rückt (351). Im Blick auf Spaemanns pädagogische Konzeption stellt M. seinen Gegensatz gegen das Emanzipationsideal der 68er Bewegung heraus, wobei er allerdings den Vergleich mit der Kulturrevolution von 1933 ff. für unglücklich hält (356 f.). Für den Ethikunterricht gilt nach Spaemann, dass er nicht von Heilsgeschichte und Offenbarung ausgehen, aber andererseits auch nicht agnostisch den Gottesgedanken ausblenden sollte, der für die abendländische Tradition eben unverzichtbar ist. Gott dürfe im Ethikunterricht nicht »zu einer verzichtbaren ethischen Hypothese« verkommen (361).
Neben der Reflexion auf Grenzen und Fundamentalprämissen menschlichen Handelns – dies arbeitet M. schön heraus – bietet Spaemann Reflexionen auf das Naturrecht (193–199), das Wesen von Versprechen und Verzeihen (218–222) sowie das Wohlwollen, das sich als Liebe konkretisiert (141 ff.), worin sich ein zentraler Gedanke der Spaemannschen Anthropologie und seines Eudaimoniekonzeptes findet.
Alles in allem: Spaemann kommt in diesem Buch recht gut weg. M.s Kritik betrifft meist eher den Feinschliff als das Grundsätzliche. Herkunft und Rezeptionsgeschichte seiner Denkfiguren werden nur angerissen (Ausnahmen bilden die Ausführungen zu Spaemanns Auseinandersetzung mit de Bonald, 41–56, und Fénelon, 57–74), nicht in der Tiefe erörtert. – In formaler Gestalt ist das Buch sehr bescheiden und unaufwändig. Für die zweite Auflage wären ggf. Register nachzutragen – es fehlen Sach- und Personenregister. Das Literaturverzeichnis ist fleißig, aber etwas unübersichtlich. Die Manuskriptgestaltung ist erfreulich gewissenhaft, die Gliederung übersichtlich und detailliert.
Die Bandbreite der abgeschrittenen Themen und die geleisteten Erschließungen sind sehr eindrucksvoll. Den Titel »Ethik, die sich einmischt« (ein Spaemann-Zitat) finde ich nicht wirklich glücklich; denn als eine (gesellschaftspolitisch und staatlich) unausschließbare Fragehaltung ist Ethik ja immer schon präsent – in politischen, juristischen und gesellschaftlichen Diskursen, die sie vorweg bestimmt, wenngleich oft nur implizit. – Für alle, die nicht zuerst die kritische Konfrontation mit Spaemann, sondern das em­pathische Mitgehen schätzen, zweifellos ein gut brauchbares und wertvolles Buch.