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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1137-1140

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scruton, Roger

Titel/Untertitel:

The Soul of the World.

Verlag:

Princeton u. a.: Princeton University Press 2014. VIII, 205 S. Lw. US$ 27,95. ISBN 978-0-691-16157-0.

Rezensent:

Matthias Heesch

Religion ist wieder in der Diskussion. Sie ist ein anthropologisches Phänomen, zu dem sich kontroverse Stellungnahmen ergeben: Sei es, dass sie als ebenso beharrlicher wie destruktiver Rest vormodernen Wirklichkeitsbegreifens zurückgewiesen wird, sei es, dass man, auch oder gerade nach dem vermeintlichen Unplausibelwerden inhaltlich bestimmten Glaubens, meint, doch auf Religion im Sinne eines diffus-positiven Bezogenseins auf die Gesamtheit des Wirklichen nicht verzichten zu wollen oder zu können. Umso drängender wird freilich die Frage, wie Religion dann ihre Plausibilität gewinnt, ohne die ja auch ein funktionelles Religionsverständnis nicht auskommt.
Der Vorschlag, den das nachfolgend zu besprechende Buch zu dieser Diskussion beisteuert, lautet: Religion hat zur Bedingung ihrer Wirksamkeit die mit ihr verbundenen Wahrheitsansprüche. Die funktionelle Frage kann also nur religionsphilosophisch oder theologisch beantwortet werden. Da Roger Scruton aber keine (im engeren Sinne) dogmatische Abhandlung vorlegen will, wählt er einen phänomenologischen Ansatz, der Aspekte einer Theologie der Religionen hat. Zwar ist es evident, dass Religion als etwas, das, zumindest in gewissen geschichtlichen Stadien, mit der menschlichen Natur verbunden ist, dementsprechend auch als Naturphänomen verstanden werden kann (25 f. mit positiver Bezugnahme auf D. Hume u. a.). Andererseits: Zu den Voraussetzungen von Wissenschaften aller Art gehört die Annahme, dass das menschliche Bewusstsein auf Wirklichkeit bezogen ist. Deswegen ist die These tendenziell widersprüchlich, dass das für einen bestimmten Bereich von Überzeugungen – den, der durch die Naturwissenschaften hervorgebracht wird – gilt, während es für andere Aspekte des Wirklichkeitsbegreifens, z. B., die Religion, schlechterdings ausgeschlossen sein soll (7 u. ö.). Gerade die Tatsache, dass Religion zum Gegenstand aus der Sache begründeter anthropologischer Forschung werden kann, verträgt sich kaum mit der pauschalen Annahme ihrer Irrelevanz (9).
Mit solchen Argumenten begründet der Vf. die Unausweichlichkeit der Frage nach Religion im Rahmen einer sachgerecht argumentierenden Anthropologie. Die erkenntnistheoretische Richtung, in der die Frage nach Wahrheitsansprüchen von Religion beantwortbar sein könnte, bleibt aber noch zu klären. Mit Bezug auf Hume und Kant wird zunächst festgestellt, dass die Wahrheitsfähigkeit von Religion weder psychologisch noch kosmologisch objektiv gesichert werden kann (24). Gerade die Kategorie des Objektiven hat aber ihre Grenzen: Denn existentielle Erfahrungen lassen sich nicht in objektive Begriffe umsetzen, ohne dass das spezifisch Individuelle als Zentralaspekt dabei verlorengeht (31, be­zugnehmend auf Th. Nagel). Die objektive Wissenschaft kann also kein zureichendes Konzept des Subjektiven erarbeiten. Da ein solches aber eine wesentliche Voraussetzung des Verstehens ist (33 u. ö., der Begriff Verstehen erscheint im englischen Text immer deutsch), ist davon auszugehen, dass objektive Wissenschaft exis­tentielle Voraussetzungen hat, die sie nicht selber schafft, sondern in Anspruch nehmen muss. Hierfür beruft sich der Vf. auf Lebensphilosophie und Phänomenologie, insbesondere auf W. Dilthey und E. Husserl (32 f. u. ö.). Zu diesen Voraussetzungen gehört vor allem auch die Dialogfähigkeit des Menschen, die darauf beruht, dass die spezifische Perspektive der ersten Person (also die Subjektivität) dialogisch von den im Gespräch verbundenen Subjekten (Personen) einander gegenseitig zugeschrieben wird (48 u. ö.).
Die eigentliche argumentative Vorgehensweise des Buches be­steht nun darin, diese Grundüberzeugung an verschiedenen Phänomenen durchzuführen und zu illustrieren. Im Falle der Musik gilt etwa, dass zwar den Tönen einer Melodie der »ontologische Primat« zukommt. Dennoch ist die Musik als intersubjektiv gegebenes und dialogisch zu erörterndes Sinngebilde (im Unterschied zu den physikalisch messbaren Tönen, aus denen sie sich aufbaut) nicht illusionär, sondern vielmehr eine Gegenständlichkeit eigener Art (grundlegend 39 u. ö., breit ausgeführt 140–174). Die Intentionalität des Menschen, also seine Fähigkeit, erkennend, wollend und – vor allem – interagierend sich auf Gegenstände zu beziehen, ist zwar einerseits das Ergebnis von Gehirnprozessen (51–75), andererseits hat sie aber die Eigenschaft, sich in ihren objektivierenden und kommunizierenden Leistungen Sphären eigenen Gepräges und eigener Gültigkeitstypen aufzubauen (71–75), wobei die handlungsleitende Zuschreibung von Subjektivität an ein Gegenüber die Grundlage für die Entstehung von Ebenen intersubjektiver Realitäten jenseits des Phänomenzusammenhangs Natur ist (75). Diese Realitäten, z. B. gegenseitige Verpflichtungen, existieren einerseits objektiv (78 u. ö., vgl. den Zusammenhang 76–95), andererseits bleibt in ihnen der Bezug auf Individualität als Grundlage der Möglichkeit, einander Subjektivität zuzuschreiben, erhalten (103–106).
Indirekt kommt es so zur kulturellen Objektivierung des Subjektiven, woraus aus der Perspektive des Buches folgt, dass die Einwände einer naturwissenschaftlich begründeten Anthropologie gegen ein wissenschaftliches Ernstnehmen existentieller Erfahrungen ins Leere laufen. Ein zentrales Phänomen, auf das für die Begründung dieser Einsicht verwiesen wird, ist das menschliche Gesicht. Es ist einerseits eine objektiv-anatomische Eigenart der Gattung Mensch, andererseits ist der Gesichtsausdruck ein wesentliches Medium des Dialogs zwischen Menschen und damit, gerade in dieser über das Materielle hinausgehenden Dimension, eine Grundlage von Intersubjektivität (112 f. u. ö.). Auch andere nichtmaterielle Phänomene, etwa die Schönheit einer Landschaft, werden im kommunikativen Austausch als Objektivitäten erfahrbar, denen man kaum gerecht würde, wenn man sie als rein subjektive Phänomene begriffe (138 f. u. ö.). Der in solchen Evidenzen sich begründende zentrale Gedanke ist, dass kulturelle Phänomene, unbeschadet dessen, dass man sie als Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen verstehen kann und muss, die ihrerseits eine natürliche Grundlage haben, gleichwohl eigene erkenntnistheoretische Normen verlangen und in deren Rahmen objektiv sind. Das gilt einschließlich dessen, dass Urteile, die sich auf kulturelle Phänomene beziehen, wahr oder falsch sein können. Letzteres nicht nur in dem banalen Sinne, dass etwa ein musikgeschichtlicher Zusammenhang richtig oder falsch beurteilt werden kann, sondern auch unter dem weit anspruchsvolleren Aspekt, dass wertende Urteile wahr oder falsch sein können. Das illustriert der Vf. anhand der Ablehnung der modernen Unterhaltungsmusik durch den Philosophen und Musikwissenschaftler Th. W. Adorno: Obwohl, anders als Adorno es gesehen hat, nach Auffassung des Vf.s eine Unterhaltungsmusik, die einem verbreiteten und konstruktiven Daseinsgefühl Ausdruck gibt, durchaus einen gewissen Wert hat, fehlt der industriell gefertigten Unterhaltungskunst, je kommerzieller sie orientiert ist, desto mehr, jener existentielle Anspruch (der Vf. spricht von meaning: Bedeutung, 152–164), den man im Rahmen der in dem Buch entwickelten Kategorien als Wahrheit oder Bedeutung bezeichnen könnte (150–152 u. ö.).
Der Vf. hat mit dieser gedanklichen Entwicklung nun den Punkt erreicht, wo er die zentrale These des Buchs, dass Religion – unbeschadet dessen, dass das, was die Humanwissenschaften über sie gesagt haben, durchaus zutrifft (jedenfalls wo es nicht antireligiösen Ressentiments entspringt) – eine Wahrheitsfähigkeit eigener Art hat, als begründbar ansehen kann. Denn die Wahrheitsansprüche, die die Religionen erheben, verdanken sich der Besinnung auf das Selbst- und Gemeinschaftserleben, die in Beziehung zu anderen Schichten der Realität stehen und diesen an Objektivität nicht nachstehen.
Die Dimensionen religiöser Erfahrung und damit die Themen religiöser Lehrbildung ergeben sich aus Struktur und Inhalt elementarer Selbst- und Gemeinschaftserfahrung und sind mithin alles andere als beliebig (175–198). Wie der Vf. an Gedichten klarmacht, stellen sich diese Themen und gedanklichen Aufgaben auch außerhalb unmittelbar religiöser und theologischer Denkzusammenhänge (178 f.). Der eigentlich religiöse Zusammenhang ergibt sich daraus, dass Personen die ihnen zuteilwerdenden Lebensmöglichkeiten auf existentieller Ebene – die eben nicht als illusionär verstanden werden darf, sondern vielmehr ihre eigene Objektivität hat – als etwas ihnen von Person zu Person Zugedachtes erfahren. Hier ergibt sich der Gedanke eines Schöpfergottes, der somit keine Konstruktion ist, sondern Konsequenz und Ausdruck existentieller Erfahrung (191). Aus dieser Erfahrung folgen dann auch Überzeugungen über das Aufgehen der endlichen Person in der Gemeinschaft mit Gott (197 f.) als ewiges Leben und gewinnen Handlungen ihre Plausibilität, die die Gottesbeziehung unter dem Gesichtspunkt der Sündenvergebung darstellen (179–184, mit Bezug auf R. Girard).
Der Vf. versteht seine Überlegungen zunächst einmal als eine Art Phänomenologie der Religion. Aber der im abschließenden 8. Kapitel (175–178) noch einmal zusammengefasste Gesamtduktus des Werkes zielt darauf ab, die wesentlichen Überzeugungen des christlichen Glaubens in den Zusammenhang einer philosophischen Argumentation einzustellen und so sich der These Hegels, Schleiermachers, in gewisser Weise auch schon altkirchlicher Autoren wie Justin, indirekt anzuschließen, dass die christliche Religion die Essenz der Religion insgesamt enthalte und daher die vorangehenden bzw. gleichzeitigen Religionen nicht falsifiziere, sondern wesentlich – angesichts der vorsichtigen Argumentationsweise des Vf.s vielleicht besser: unter manchen Aspekten – überbiete. Insofern ist das Werk, trotz seiner weitgehend philosophischen Argumentationsweise, durchaus eine (implizite) Theologie der Religion bzw. der Religionen.
Als solche ist das Gebotene durchaus plausibel. Das gilt gerade auch in der Auseinandersetzung mit den Wahrheitsansprüchen einer naturwissenschaftlich begründeten Weltanschauung. Das Buch zeigt auf nachvollziehbare Weise, dass die gegenüber der Naturwissenschaft jederzeit in Anspruch genommenen existentiellen Reservate, wenn sie denn mehr sein sollen als eine gelegentliche Entlastung von den Anstrengungen des Lebens in einer wissenschaftlich-technisch geprägten Welt, der Reflexion auf die Wahrheit des Existentiellen bedürfen. Der Vf. unterbreitet Vorschläge, wie diese Reflexion aussehen könnte.
Dieser prinzipiell positiven Würdigung des Werkes stehen zwei Einwände gegenüber, von denen der erste der gewichtigere ist: 1. Die Argumentation weist eine relativ geringe Trennschärfe auf, wo religiöse etwa gegenüber ästhetischen Phänomenen und Bedeutungsansprüchen zu differenzieren wären. Die Frage nach dem »Wesen der Religion« (mit Schleiermacher zu sprechen) wird aufgelöst in die – gewiss nicht überflüssige, aber die spezielle Thematik einer Religionsphänomenologie in theologischer Absicht nicht erschöpfende – Frage nach dem Wesen existentieller und kultureller Wahrheits- und Bedeutungsansprüche im Allgemeinen.
2. Die vom Vf. gebotenen Argumentationen sind nicht wirklich neu, sondern entstammen der lebensphilosophischen, phänomenologischen und existenzphilosophischen Theorieüberlieferung. Das ist, zumal sich das Werk mit den herangezogenen Autoren zwar knapp, aber durchaus fundiert beschäftigt, als solches gewiss kein Nachteil. Aber: Trotz ihrer Bekanntheit haben in den Bestand philosophischer Klassiker eingerückte Autoren wie Dilthey oder Husserl die philosophische Diskussion nicht dauerhaft bestimmen können, wie z. B. die gegenwärtige Bedeutung naturalistischer Spielarten der analytischen Philosophie deutlich macht. Warum ist das so? Hier hätte man sich ein näheres Eingehen auf mögliche Einwände gegen die im Buch aufgenommene Theorietradition ge­wünscht.
Als auf religionsphilosophisch-theologische Gegenwartsfragen hin orientierte Erinnerung an wichtige Überlieferungen auf den Gebieten der Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie stellt dieses Buch einen beachtlichen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um Religion dar. Seine volle argumentative Kraft dürfte es aber erst im Kontext einer weiteren Auseinandersetzung mit naturalis­tischen und agnostizistischen Tendenzen der Gegenwart und mit deren philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begründungen gewinnen.