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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1130-1132

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gómez, Carlos Miguel

Titel/Untertitel:

Interculturality, Rationality and Dia-logue. In Search for Intercultural Argumentative Criteria for Latin America.

Verlag:

Würzburg: Echter 2012. XIII, 333 S. m. Tab. = Religion in der Moderne, 23. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-03461-0.

Rezensent:

Rudolf von Sinner

Es ist eine anspruchsvolle Herausforderung, einen Beitrag zu interkultureller Verständigung zu leisten, ohne entweder einem völligen Relativismus zu verfallen – und damit einen sinnvollen Dialog für unmöglich zu halten – oder eine bestimmte, eben immer kontextuell entstandene Sicht universal zu setzen und damit den Dialog einseitig zu dominieren. Carlos Miguel Gómez, der an der Universidad del Rosario in Bogotá (Kolumbien) lehrt und forscht, legt mit diesem Buch seine Frankfurter religionsphilosophische Dissertation vor. Es geht ihm darin um nichts weniger als die »Bedingungen der Möglichkeit interkulturellen Dialogs in Lateinamerika« (1). Zwischen rivalisierenden Positionen, die auf »heterogenen Rationalitäten« beruhen, hat interkultureller Dialog zu vermitteln – unter welchen Kriterien aber kann solche Vermittlung auf gerechte Weise geschehen?
Im ersten Teil bearbeitet der Vf. die bestehende Vielfalt und Herausforderungen des Dialogs. Im ersten Kapitel (7–78) wird vertreten, dass interkultureller Dialog eine argumentative Dimension hat, also durch die Angabe von Gründen der Klärung und der Verständigung dient und auf diese Weise Beziehungen zwischen Menschen und deren Traditionen herstellt. Dabei ist sowohl ein kulturalistischer Essentialismus als auch eine Selbstverabsolutierung einer spezifischen Rationalität zu vermeiden. Eine bestimmte Art von Universalisierung wird also nicht ausgeschlossen, sie soll aber »kulturell fair« sein.
Der Vf. will Rationalität nicht als Fähigkeit, sondern als Prinzipien für das Herstellen von Sinn und die Strukturierung der Wirklichkeit sehen, die im interkulturellen Dialog selbst erst zu erarbeiten sind. Das zweite Kapitel (79–139) befasst sich mit »hetero-genic rationalities«. Hierbei greift der Vf. vornehmlich auf die Studien Josef Estermanns über die andine Philosophie bzw. Theologie zurück, der sich wiederum auf Einsichten Raimon Panikkars zu einer »diatopischen Hermeneutik« stützt, in der die Dialogpartner ausgehend von ihren jeweiligen Verortungen ( topoi) in einen Dialog einsteigen, in dem sie sich gegenseitig zu verstehen und voneinander zu lernen suchen, und auf diese Weise eine Form von Gemeinschaft ermöglicht wird. Die andine Rationalität wird dann anhand der Prinzipien der Korrespondenz zwischen verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit (was nicht identisch ist mit Analogie) erläutert, die in gegenseitigem Austausch stehen, der Komplementarität etwa von Tag und Nacht oder Mann und Frau, sowie der Reziprozität in »kosmischer Gerechtigkeit« (also eben nicht in selbstaufopfernder Liebe). In einem dritten Schritt (141–198) entwirft der Vf. eine Theorie interkultureller Vernünftigkeit ( reasonableness). Hierbei geht es darum, die gesuchten normativen Kriterien als »begriffliche Instrumente [zu beschreiben], die benutzt werden können, um ein Urteil über die interkulturelle Vernünftigkeit heterogener Begründungen fällen zu können« (142) – was sind also »gute« Gründe im interkulturellen Dialog? Solche Vernünftigkeit setzt nach dem Vf. gerade keine interkulturelle Vernunfttheorie voraus, wie sie etwa Ram Adhar Mall entwickelt hat. Hier wird nun auch ein Beispiel eingeführt, auf das der Vf. immer wieder zurückgreift: In den 90er Jahren gab es einen Konflikt zwischen zwei Ölfirmen, Oxy und Shell, und den U’wa, einer kolumbianischen indigenen Gemeinschaft. Zentral geht es um die offensichtliche Inkompatibilität von zu erhaltendem »ruira« (»Blut der Mutter Erde«) bzw. zu nutzendem »Erdöl« innerhalb ihrer jeweiligen Rationalität. Daran zeigt sich, dass es um viel mehr als eine einfache Übersetzung geht.
Im zweiten Teil entwickelt der Vf. seinen eigenen Ansatz, den er im Bauen interkultureller chakanas (»Brücken«) sieht. Das Wort stammt aus der Sprache der Quechua und bestimmt zentral Josef Estermanns Arbeiten zu einer andinen Theologie, ist hier aber nicht weiter Gegenstand der Erörterung. Im 4. Kapitel (203–261) wird geklärt, was denn interkulturelle Unterschiede genau ausmacht und inwiefern diese auf unterschiedlichen, Gültigkeit be­hauptenden Ansprüchen (claims) beruhen, die ihrerseits auf be­stimmten Gründen und ganzen Rationalitäten fußen. Es überrascht nicht, dass der Vf. hier auf die Sprechakttheorie und auf Jürgen Habermas’ Diskurstheorie zurückgreift. Diese wird insgesamt positiv aufgenommen, müsse allerdings an den lateinamerikanischen Kontext angepasst werden. So diskutiert und kritisiert der Vf. etwa die bei Habermas zentrale Notwendigkeit der Übersetzung religiöser Anliegen in säkulare Sprache, deren angebliche Neutralität, die mangelnde Anerkennung nicht nur rationaler Begründungen (etwa von Mythen) bzw. die Voraussetzung einer gewissen Einseitigkeit von Kommunikationsformen und -regeln, die nicht als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden dürfen. Unter dem Titel der »Interpellation« wird im fünften Kapitel (263–300) schließlich deutlich gemacht, dass verschiedene Traditionen nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig betreffen, und zwar indem sie sich herausfordern ( challenge), in Anspruch nehmen (demand) und Angebote machen (offer). Die Antwort auf diese Beanspruchung bzw. Positionierung (claim) kann nach dem Vf. unter folgenden sieben Kriterien beurteilt werden: Offenheit, interkulturelle Resonanz, kreative Treue zu einer Tradition, Respekt, Solidarität, Kohärenz und kontextuelle Relevanz. Der Schluss (301–313) fasst nochmals die verschiedenen Argumentationsschritte zusammen und bezeichnet als Ziel des Dialogs nicht die Aufhebung der Diversität, sondern deren »Harmonie«, was an die aus der ökumenischen Diskussion bekannte – und nach wie vor relevante – »versöhnte Verschiedenheit« (Harding Meyer) erinnert. In einem sehr nützlichen Anhang werden die Argumentationskriterien nochmals in Tabellen übersichtlich aufgelistet (315–319).
Ein großer Vorteil dieser Arbeit ist, dass sie nicht bei allgemeinen und sehr vagen Begriffen wie gegenseitiger »Bereicherung« oder »Befruchtung« im interkulturellen Dialog stehen bleibt, sondern den Vorgang des Lernens, des Anderen Verstehens und des gemeinsamen Fortschreitens im Sinne eines mit rationalen Kriterien urteilsfähigen Verfahrens zu entwickeln versucht. Dabei bemüht sich der Vf. stets um terminologische Klarheit und anerkennt die Bedeutung von Argumenten, was in einem oft von »De­ kreten«, d. h. aus einer Machtposition gefällten Entscheiden be­stimmten Kontext m. E. einen hohen emanzipatorischen Wert hat. Man hätte sich noch weitere konkrete Beispiele wirklich unterschiedlicher Verständnisse und heterogener Rationalitäten ge­wünscht, weil in vielem in Lateinamerika doch ein stark »westlich« bestimmtes Denken vorherrscht und auch in unterschiedlichen religiösen Traditionen wirksam ist. Andererseits sind etwa Neu-pfingstler stark von afrikanischen Einflüssen geprägt, die hier nicht zur Sprache kommen (wie überhaupt der Einfluss der evangélicos und dessen Auswirkungen auch auf die Indigenen nicht thematisiert werden). Das Zugrundeliegende »sample« ist also recht eingeschränkt, was der Vf. auch klar zugibt (311). Auch das Gegenüberstellen von »Traditionen« muss relativiert werden, weil die Individuen wohl kaum je oder eine Reinform ihrer Tradition darstellen bzw. vertreten, abgesehen von stark verschiedenen Tendenzen jedenfalls innerhalb bestimmter Traditionen. Würde man all dieses freilich berücksichtigen wollen, wäre ein begrifflicher und methodischer Fortschritt, zumal im Umfang einer Dissertation, nicht möglich. So sollen diese Aspekte hier als Anzeichen dienen, dass mit diesem ausgezeichneten Werk noch viel zu diskutieren und zu reflektieren sein wird. Es sei dem Vf. dafür ausdrücklich gedankt.