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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1127-1130

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Vechtel, Klaus

Titel/Untertitel:

Eschatologie und Freiheit. Zur Frage der postmortalen Vollendung in der Theologie Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars.

Verlag:

Innsbruck u. a.: Tyrolia-Verlag 2014. 347 S. = Innsbrucker theologische Studien, 89. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-7022-3419-5.

Rezensent:

Gunther Wenz

Wohl nie, konstatiert Immanuel Kant gegen Ende seiner Schrift »Träume eines Geistersehers« von 1766, habe »eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, dass mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte« (I. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766], in: Ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Zweiter Band: Vorkritische Schriften II. 1754–1777, Berlin 1912, 315–373, hier: 373).
Nicht nur nach Meinung des sogenannten vorkritischen Kant, sondern auch gemäß dem Urteil des Verfassers der drei Vernunftkritiken und der Religionsschrift von 1793 besteht zu eschatologischer Zukunftshoffnung ein sittliches Recht, ja eine sittliche Pflicht. Zwar habe ein theoretisches Jenseitswissen nicht nur tatsächlich, sondern allein der bloßen Möglichkeit nach als unerschwinglich zu gelten. Doch sei dies kein Schaden. Denn der Mensch bedürfe keiner transzendenten Theorieeinsichten, um über die Grenzen von Selbst und Welt hinaus hoffen zu können und hoffen zu dürfen, da eine Selbst und Welt transzendierende eschatologische Hoffnung samt ihrer Wahrung und Förderung ein Postulat praktischer Vernunft sei. Wer auf dem Wege der Sittlichkeit in selbsttätiger Freiheit konsequent fortschreite, der könne einer definitiven und endgültigen Vollendung gewiss sein, auch wenn sich über postmortale Zustände und transzendente Welten theoretisch beim besten Willen nichts in Erfahrung bringen lasse.
Die Endgültigkeit leibseelischer Vollendung in einem unter den Bedingungen der Sinnlichkeit vollkommen realisierten Reich der Sitte, die Kant aus Gründen praktischer Vernunft postuliert und deren gewisse Erwartung er fordert, ist seinem Urteil zufolge zwar definitiv, nicht aber statisch und starr, sondern als dynamisch, in sich bewegt und in stetigem Fortschreiten begriffen vorzustellen. Gerade unter der Voraussetzung ihrer integren Sinnerfüllung kann von einem Stillstand aktueller Freiheitsgeschichte nicht die Rede sein. Es ist vielmehr zu hoffen, dass diese, ohne im chronologischen Sinne zu iterieren oder eine lineare Prolongation zu finden, nach erfolgtem Endurteil des göttlichen Herzenskünders in dessen ewigem Gedächtnis lebendig erhalten bleibt, und zwar als die Freiheitsgeschichte dessen, dem sie zugehörte und eschatologisch zugehörig bleibt. So ungefähr steht es in Kants Schrift »Das Ende aller Dinge« zu lesen, die mit einer einschlägigen Passage in der Einleitung vorliegender Schrift zitiert wird (13; vgl. I. Kant, Das Ende aller Dinge, in: Ders., Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1999, 62–76, hier: 70).
Hat Kants These ihre theologische Richtigkeit? »Kommt die im Tod erreichte Endgültigkeit der Freiheitsgeschichte einer völligen Erstarrung des menschlichen Lebens gleich? Oder gelangt die menschliche Freiheit so an ihr Ziel, dass sie in einem lebendigen Beziehungsgeschehen mit Gott vollendet wird?« (13) Fragestellungen dieser Art will die Untersuchung von Klaus Vechtel, die im Sommersemester 2013 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Habilitationsschrift angenommen und 2014 mit dem Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung ausgezeichnet wurde, nach eigenem Be­kunden nachgehen. Sie will das aber nicht in Bezug auf Kant tun, dessen kritische Erkenntnistheorie und dessen praktisch-konstruktive Transformation traditioneller Metaphysik, Religionsphilosophie und Theologie keine eingehende Berücksichtigung findet, sondern in Bezug auf die beiden katholischen Eschatologen Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. Ihre Konzeption soll, wie im Exposé wiederholt betont wird, auf die Rolle der menschlichen Freiheit in der eschatologischen Vollendung befragt werden.
Die Arbeit ist in drei Hauptteile gegliedert, deren beiden erste Rahners und v. Balthasars Denken in vierfacher Hinsicht analysieren. In einem ersten Kapitel ist »zu klären, warum beide Autoren als Gesprächspartner für die untersuchte Thematik in Frage kommen. In einem nächsten Schritt wird untersucht, wie beide Autoren menschliche Freiheit im Gegenüber zu Gott bestimmen. Ein drittes Kapitel fragt jeweils im Blick auf die Eschatologie der Autoren, welche Rolle der menschlichen Freiheit im Vollendungsgeschehen zukommt. Schließlich wird in einem vierten Kapitel erörtert, inwieweit die metaphysischen, gnadentheologischen und zeittheoretischen Grundlagen beider Autoren ein Freiheitsverhältnis zwischen Gott und Mensch auch in eschatologischer Vollendung zulassen.« (22) Der dritte und letzte Hauptteil versucht eine systematische Synthese und Sicherung des Ertrags unter Benennung offener Fragen wie derjenigen der Möglichkeit einer eschatologischen Umkehr oder einer realisierten Vermittlung von Zeit und Ewigkeit.
Was Rahner betrifft, so hat er die Frage nach den Bedingungen möglicher eschatologischer Aussagen in seinem berühmten Artikel über die theologischen Prinzipien ihrer Hermeneutik eingehend erörtert, und zwar erkenntlich anders, als dies bei Kant der Fall war. Darauf geht V. nicht näher ein. Es mag deshalb der Hinweis genügen, dass Rahners transzendentale Theologie mit Kants Transzendentalphilosophie nicht sehr viel mehr als den Namen gemein hat. Auch H. U. v. Balthasar wird man kaum einen Kantianer nennen können. Zwar ist für ihn wie für Rahner die Frage nach der Freiheit generell und so auch im eschatologischen Geschehen von grundlegender Bedeutung. Aber beide haben einen durchaus anderen Begriff von Freiheit als Kant. Frei, so Rahners trans­zendentale Anthropologie, ist der »Mensch als Wesen der Transzendenz« (vgl. 30 ff.) unbeschadet seiner gottgewollten Selbständigkeit primär nicht im Kantschen Sinne sittlicher Autonomie, sondern als potentieller »Hörer des Wortes«, dessen Sein in der Welt wesentlich hingeordnet ist auf die gnädige Selbstmitteilung Gottes. »Freiheit als Vermögen der Selbstverfügung ist zugleich immer von Gott verfügte Freiheit und somit durch einen ihr wesentlichen Gottesbezug charakterisiert.« (49) Dies gilt entsprechend auch für v. Balthasar, dessen Verhältnisbestimmung von Selbstbesitz und Transzendenz der Freiheit deren gnadenhaftes Sich-Gegeben-Sein möglicherweise noch stärker akzentuiert als Rahner. Man lese dazu V.s einschlägigen Abschnitt »Die Ermöglichung menschlicher Freiheit in Gott« (176 ff.).
Das Menschengeschöpf ist vom Schöpfer als frei gewollt, aber seine Freiheitsbestimmung realisiert es angemessen nicht in unmittelbarer Selbst-bestimmung, auch nicht primär in der Weise sittlicher Autonomie und Selbstgesetzgebung praktischer Vernunft, sondern durch Wahrnehmung seines Gottgegebenseins und eine entsprechende Realisierung dieser Wahrnehmung in Bezug auf Selbst und Welt. Was folgt daraus hinsichtlich der Eschatologie und welche eschatologischen Ewigkeitsfolgen zeitigt nachgerade die Verfehlung menschlicher Freiheit durch ihren selbstverkehrten Gebrauch in der abgründigen Form des peccatum originale und den Missgestalten der peccata actualia? Gibt es für den homo incurvatus in se ipse, für das selbstverkehrte Subjekt, das sich vom Grund seiner selbst und seiner Welt abgewandt hat, um dem eigenen Abgrund zu verfallen, die Möglichkeit einer Rettung? Die christliche Soteriologie und ihre Erlösungs-, Versöhnungs- und Rechtfertigungslehren bejahen dies unter Verweis auf den ordo salutis, auf Reue und Glaube samt nachfolgenden Werken der Liebe. Aber bleiben soteriologische Möglichkeiten auch unter postmortalen Bedingungen erhalten? Markiert der Tod nicht das definitive Ende aller menschlichen Freiheitsmöglichkeiten? Dies wird ernsthaft niemand bestreiten können. Aber sind damit die Möglichkeiten Gottes erschöpft? Auf diese Frage fokussiert V. seine Analysen der Konzeptionen Rahners und v. Balthasars. Dabei strebt er eine »mittlere Lösung« (vgl. 283 ff.) an.
Nach V. ist zu differenzieren »zwischen der im Tod erreichten Endgültigkeit der menschlichen Freiheitsgeschichte und deren Vollendung, die nicht schlechthin mit der Tatsache des Todes gegeben ist« (266). Der Tod beendet die Geschichte endlicher Freiheit des Menschen definitiv. Mit ihrer jenseitigen Fortsetzung und einem endlosen Weiterlaufen irdischer Zeitlichkeit sei nicht zu rechnen. Zu erwarten sei hingegen eine Verewigung gelebten Lebens und seine Aufhebung in das ewige Leben Gottes im Hegelschen Dreifachsinn der bestimmten Negation, der Bewahrung und der Erhöhung. Denkbar sei unter diesen Voraussetzungen »ein Sich-Auszeitigen bzw. ein Sich-Auswirken dessen, was in der Geschichte des Subjekts an Beziehungen zu Gott und dem Nächsten angelegt war, aber nicht oder nur bruchstückhaft realisiert werden konnte« (267). Damit werde »keine die irdische Geschichte nivellierende Nachgeschichte« (269) behauptet, wohl aber die theologische Möglichkeit eingeräumt, dass Gott ein gelebtes Leben durch dessen Verewigung zu verändern, zu transformieren, vielleicht sogar zu transsubstantiieren vermöge. Letztere Möglichkeit scheint an der göttlichen Anerkennung menschlicher Freiheit ihre Grenze zu finden. Will man die doch wohl häretische Spekulation, wonach die Freilassung des Menschengeschöpfs ein mögliches Scheitern Gottes an seiner Schöpfung impliziere, ebenso vermeiden wie die Annahme einer die geschichtliche Identität zersetzenden soteriologisch-eschatologischen Neukonstitution, wie man sie katholischerseits gerne der evangelischen Lehre unterstellt, dann bleibt offenbar nur eine Doppelaussage, deren Unausgeglichenheit nicht notwendigerweise als sinnwidrige Aporie, sondern als ein Sachverhalt gewertet werden kann, der dem Gehalt der Eschatologie förmlich entspricht.
Die Vorstellung einer Reinkarnation, eines Kreislaufs der Wiedergeburten oder eines Identitätsaustausches kommt unter den Bedingungen christlicher Eschatologie nicht in Frage. Dennoch wird der Mensch nach Maßgabe christlicher Lehre »De novissimis« nicht auf dasjenige festgelegt, was er von sich aus und als derjenige ist, zu dem er sich selbst gemacht hat. Auch und gerade sub specie aeternitatis ist der Mensch von Gott her nicht Gefangener seiner eigenen Lebensgeschichte. Zum theoretischen Ausgleich bringen lassen sich beide Annahmen nicht, obwohl sie gleichermaßen ihre religiös-theologische Richtigkeit haben. Dieses Dilemma lässt sich auch nicht durch die vom christlichen Glauben bekannte Annahme eines descensus Christi ad inferos und die eindrucksvolle trinitarisch-christologisch-eschatologische Deutung beseitigen, die H. U. v. Balthasar der Vorstellung von der Höllenfahrt Christi hat zuteilwerden lassen (vgl. 225 ff.). Zwar verweist der descensus auf ein äußerstes Gnadenangebot und darauf, dass von Gott her gesehen im Tod, ja selbst in der Hölle noch nicht aller Tage Abend ist. Dennoch muss zugleich gesagt werden, dass eine prinzipialisierte Lehre von der Wiederbringung aller abzulehnen ist, weil sie die Differenz von Opfer und Täter und mit ihr die Differenz von Gut und Böse vergleichgültigt, was nicht gut, sondern im Gegenteil böse ist. Es bleiben also offene Fragen. Doch genau dies ist dem eschatologischen Lehrstück gemäß, das seinen Skopus verfehlen würde, wenn es alle Fragen einer theoretischen oder praktischen Lösung zuführen würde. Religion ist durch Theorie und Praxis nicht substituierbar. Das stellt sich gerade in extremis unter Beweis. Unter dieser Prämisse wäre noch einmal auf Kant zurückzukommen, um seine Eschatologie mit derjenigen Rahners, v. Balthasars oder etwa F. D. E. Schleiermachers ins Gespräch zu bringen, für dessen theologisches Gesamtkonzept die dezidierte These einer Nichtsubstituierbarkeit der Religion durch Theorie und Praxis, Metaphysik und Moral kennzeichnend ist.
In seiner »Einladung, Dante zu lesen« (Frankfurt a. M. 42012, hier: 47) hat Kurt Flasch spöttisch angemerkt, H. U. v. Balthasar habe die Torheit in die Welt gesetzt, dass zwar jeder Christ an die Existenz der Hölle glauben müsse, diese aber vielleicht leer sei. In der Tat hatte v. Balthasar in einem »Kleine(n) Diskurs über die Hölle« (Ostfildern 21987, besonders 42 ff.) seine bereits vorher vertretene Auffassung bekräftigt, dass die Wiederbringung aller zwar nicht gelehrt werden dürfe, wohl aber erhofft werden könne, ja solle. Mit dieser Auffassung steht er übrigens nicht allein. Seine These, wonach die Hölle als Abgrund irreversiblen Heilsverlustes zwar eine nicht auszuschließende reale Möglichkeit sei, ohne dass sich über ihre mögliche Realität etwas aussagen ließe, darf im Gegenteil als verbreiteter Konsens nicht nur aktueller katholischer, sondern auch aktueller evangelischer Eschatologie gelten. K. Flasch wird dies wahrscheinlich als Zusatzbeleg für den fortschreitenden Schwach- und Blödsinn christlicher Lehre werten. Man kann aber auch die Auffassung vertreten, dass die vermeintliche Torheit der eschatologischen Weisheit letzter Schluss ist: Denn Eschatologie hat, sofern sie christlich ist, den religiösen Zusammenhang dessen zu behaupten, was sich weder theoretisch noch praktisch einer differenzaufhebenden Synthese zuführen lässt: den in der Absolutheit göttlicher Gerechtigkeit begründeten Gerichtsernst und den in Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes offenbaren Liebeswillen Gottes, der auf universales Heil und auf die ewige Rettung auch und gerade derer ausgerichtet ist, die hoffnungslos der Sünde verfallen sind.