Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1124–1125

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frauenknecht, Heike, Leube, Frieder, Rommel, Birgit, Vollmer, Karola, u. Petra Waschner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformationen. Hintergründe – Motive – Wirkungen

Verlag:

Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag 2014. 208 S. m. Abb. u. DVD = Grundlagen und Praxis evangelischer Erwachsenenbildung. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-7639-5400-1.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kirchenamt der EKD [Hrsg.]: Perspektiven 2017 –Ein Lesebuch. Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus 2013. 146 S. m. Abb. Kart. EUR 9,90. ISBN 978-3-86921-118-3.
Bosse-Huber, Petra, Fornerod, Serge, Gundlach, Thies, u. Gottfried W. Locher [Hrsg.]: 500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich. Zürich: Theologischer Verlag Zürich; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 385 S. m. Abb. Kart. EUR 22,80. ISBN 978-3-290-17765-2 (TVZ); 978-3-374-03916-6.
Petri, Dieter, u. Jörg Thierfelder: Grundkurs Martin Luther und die Reformation. Materialien für Schule und Gemeinde. Stuttgart: Calwer Verlag 2015. 238 S. m. Abb. u. Ktn. = Calwer Materialien. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-7668-4284-8.
Diestelmann, Jürgen: Am Grabe Luthers. Nachdenkliche und kritische Gedanken zum Reformationsjubiläum 2017. Berlin: Pro Business 2013. 41 S. m. Abb. Kart. EUR 8,00. ISBN 978-3-86386-433-0.
Eckert, Siegfried: 2017, Zweitausendsiebzehn. Reformation statt Reförmchen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. 271 S. m. Abb. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-08515-9.


In Anlehnung an die Überlieferung, dass Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll, wird die evangelische Kirche am 31. Oktober 2017 feiern, dass sie auf 500 Jahre eigene Geschichte zurückblicken kann. Die entsprechenden Vorbereitungen laufen national und international seit Jahren und verdichten sich mit dem Herannahen des Reformationsjubiläums 2017 gerade auch nochmals in den deutschsprachigen Landeskirchen. Dabei werden unterschiedliche Akzente, Sichtweisen und Zugänge deutlich, die sich auch in entsprechenden Veröffentlichungen niederschlagen. Diese Veröffentlichungen sind schon der literarischen Form nach unterschiedlich, so wie sich kirchenleitende Stellen, akademische Theologien und evangelische Gemeinden unterschiedlich artikulieren. Allerdings sprechen diese Akteure wiederum weder intern mit einer Stimme noch sind sie klar gegeneinander abgegrenzt, so sehr auch wesentliche Differenzen wahrzunehmen sind. Vielmehr sind sachliche Überkreuzungen und personale Übereinstimmungen, subkutane Distanzierungen und institutionelle Ausbalancierungen in Rechnung zu stellen. Hinzu kommen in der Diskussion noch Positionen eines Protestantismus, der über seine kirchlich und akademisch institutionalisierte Gestalt hinaus kulturell und politisch aktiv ist und an der gedächtniskulturellen Gestaltung des Reformationsjubiläums 2017 interessiert ist; schließlich ist seit 1990 deutlich geworden, wie viel gesellschaftliche Prägekraft und Gestaltungswille ein politischer Protestantismus in Deutschland noch freisetzen kann. Auch ökumenische Interessen und Perspektiven werden gegenwärtig eingespielt und gegensätzlich diskutiert, wie die Kontroversen über den EKD-Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« aus dem Jahr 2014 zeigen. Dies alles erschwert einen Überblick, macht ihn aber zugleich immer sinnvoller. Er kann hier nicht geleistet werden. Doch einige Profilierungen erscheinen möglich, die für eine gewisse »Botanisierung« des Feldes hilfreich sein könnten.
Die Sicht der kirchenleitenden Stellen und der von ihr dafür in ihrer Fachkompetenz herangezogenen Theologinnen und Theologen lässt sich gut in den beiden »kirchenoffiziellen« Publikationen »Perspektiven 2017 – Ein Lesebuch« und »500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderungen« wahrnehmen. Besonders in der ersten Publikation finden sich Voten, Verlautbarungen und An­regungen aus der EKD-Synode, der VELKD-Generalsynode, der UEK-Vollkonferenz sowie aus einzelnen Landeskirchen. Durchgängig wird in diesen Voten und Verlautbarungen eine Musealisierung der eigenen historischen Bedeutsamkeit zugunsten des aktuellen Auftrags vermieden, den Kern der reformatorischen Botschaft neu zu formulieren. Was diese Neuformulierung in positiver Hinsicht ge­nau aussagen soll, ist verständlicherweise schwierig(er) zu fassen. Deutlich wird in den versammelten Beiträgen namhafter Theo-loginnen und Theologen in den beiden Publikationen, dass sich Um­formungen reformatorischer Theologie in der Neuzeit und (Spät-)Moderne durchaus bewährt haben. Stichworte wie »Gewissensreligion«, »Freiheitsverständnis« und »Person und Werk« rufen inzwischen selbst wiederum klassische Debatten um entsprechende (Re-)Konstruktionen ins Gedächtnis. Auch die Neuaufbrüche der »Lutherrenaissance«, der »Dialektischen Theologie« und das Wiedererwachen bestimmter Vermittlungstheologien in unserer Gegenwart sind hier zu nennen. Dies schließt durchaus eine Selbstkritik reformatorischer Theologie ein, die immer wieder nach dem Bleibenden ihres Ursprungs fragt. Zur Klärung dieser Frage sind dafür auch die römisch-katholischen, anglikanischen und evangelisch-freikirchlichen Beiträge in dem Sammelband »500 Jahre Reforma-tion. Bedeutung und Herausforderungen« hilfreich und interessant.
Was in den Landeskirchen als evangelisch vermittelbar gelten kann, zeigen indirekt die beiden Publikationen »Reformationen. Hintergründe – Motive – Wirkungen« und »Grundkurs Martin Luther und die Reformation. Materialien für Schule und Gemeinde«. In beiden Fällen handelt es sich um Praxismaterialien und -konzepte evangelischer Erwachsenenbildung, die von akademisch ausgewiesenen wie kirchlich tätigen Theologinnen und Theologen verantwortet werden. Didaktische Hinweise mit genauen Ablaufplänen, zahlreiche (Bild-)Materialien und Anregungen sowie theologische Programmtexte gliedern diese Veröffentlichungen. Sie sind grundsätzlich für Kirchengemeinden und Bildungswerke, Volkshochschulen und überkonfessionelle Bildungsträger verwendbar. »Reformationen. Hintergründe – Motive – Wirkungen« bietet fünf Kurseinheiten – von der Reformationszeit als Umbruch über die Theologie der Reformation, den Gottesdienst der Reformation hin zum Thema von Reformation und Kultur sowie Reformation und globale Ökumene. Als Kern dieses fünfteiligen Abendkurses wird theologisch die Rechtfertigungslehre identifiziert. Der Kurs ist auf eine eher wortbetonte und an religiöser Gegenständlichkeit orientierte Gemeindefrömmigkeit ausgerichtet. Der Bereich »Reformation und Kultur« hätte noch andere Möglichkeiten geboten, und dass es zwischen der Reformation und der Gegenwart eine legitime Weiterentwicklung des Protestantismus gibt, steht nicht gerade im Vordergrund. Der Sprung der letzten Einheit in die Gegenwart, und zwar in die Globalität der Ökumene, ist offenbar dem entsprechenden Themenjahr 2016 der »Lutherdekade« geschuldet. Dass der Protestantismus gerade aufgrund der Konzentration auf das wiederentdeckte Evangelium zur Selbstzurücknahme des Kirchlichen zugunsten einer dynamischen Weltfrömmigkeit findet, wird m. E. nicht immer deutlich. Inhaltlich ähnlich ausgerichtet, aber komplizierter aufgebaut ist der »Grundkurs Martin Luther und die Reformation. Materialien für Schule und Gemeinde«. In 23 Einheiten werden ausgehend von Luthers Leben die Hauptpunkte seiner Lehre und Geschichte erzählt – bis hin zu Einheiten, die sich mit den entstehenden Landeskirchen, dem Lutherbild im Wandel der Zeiten und dem Verhältnis Luthers zu den Juden beschäftigen. Dieser Kurs ist vor allem für Schülerinnen und Schüler entwickelt und zielt auf eine theologiegeschichtliche und gegenwartssensible Kompetenz. Interessant und ge­w innbringend ist die methodische Reflexion über »Bilder in der evangelischen Tradition«, in der das Klischee vom bilderfeind-lichen Protestantismus eingeklammert wird. Grundsätzlich fällt der »schulmäßige« Zug des Kurses mit gediegener Textpräsentation auf. Ob dieser Kurs in dieser Form im Gemeindeleben, das eben nicht mehr nur aus dem Wort lebt, einsetzbar ist, hängt vermutlich von den geschichtlichen Prägungen und praktizierten Frömmigkeitsmustern der jeweiligen Gemeinde ab.
Dass der Protestantismus keineswegs als Geschichte so erzählt werden muss, dass alles gleichsam am Anfang und Ursprung hängt, zeigt der reich bebilderte und flüssig geschriebene Band »500 Jahre Protestantismus. Eine Reise von den Anfängen bis in die Gegenwart« von Katharina Kunter (vgl. die Rezension in ThLZ 137 [2012], 823). Hier wird in sechs Kapiteln deutlich, dass und wie sich der Protestantismus von seinen Ursprüngen an verändert hat, in­dem er zu einer europäischen, aufgeklärten und globalen Ge­schichte geworden ist. Wie radikal, vielfältig und alternativ, aber auch erschreckend abwegig (etwa in der Zeit des Nationalsozialismus) der Protestantismus sein kann, wird hier eindrücklich deutlich, indem das Ursprungsjahrhundert der Reformation nicht breiter dargestellt wird als das, was sich danach daraus entwickelte. Es entsteht so ein facettenreiches Bild des Protestantismus.
Aus der Perspektive des theologisch reflektierten Gemeindepfarramtes äußern sich die Publikationen »Am Grabe Luthers. Nachdenkliche und kritische Gedanken zum Reformationsjubiläum 2017« von Jürgen Diestelmann und »2017. Reformation statt Reförmchen« von Siegfried Eckert. Beide sind kritisch, in Ton und Ausrichtung aber grundverschieden. Der inzwischen im Ruhestand befindliche Diestelmann plädiert in seiner kurzen, aber sehr urteilsfreudigen Schrift für einen Wiedergewinn der lutherischen Orthodoxie. Darunter versteht er besonders ein »apostolisches Schriftverständnis«, wonach die Bibel seit den Tagen der Apostel unverändert als das Wort Gottes gegolten habe. Diestelmann grenzt sich dezidiert von der Aufklärung ab und möchte der »im­mer dreister hervortretenden Gottlosigkeit« (40) so offensiv begegnen. Mit diesem m. E. nicht unbedingt in der Mitte der lutherischen Volkskirche beheimateten Konzept, von dem man auch gern wüsste, worin es besonders lutherisch und plausibel sein soll, hat Eckert nichts zu tun. Als aktiver Gemeindepfarrer und rheinischer Synodaler sieht er das Problem eher darin, dass die EKD mit der »Kirche der Freiheit« von oben nach unten versucht, betriebswirtschaftlich zu agieren – und dabei genau das verspielt, was sie in Wahrheit am Leben erhält, nämlich das Engagement der »normalen« Menschen vor Ort, die – bildlich gesprochen – eher in lokalen Lagerfeuern als in globalen Leuchttürmen denken. Eckert wirbt angesichts des Reformationsjubiläums 2017 für eine Stärkung des Protestantismus von unten. Statt Spar- und Reformprozessen, bei denen die Gemeinden als letztlich entscheidende Trägerkreise des Protestantismus zu Verlierern werden, votiert Eckert für eine »entschleunigte« und glaubwürdige, solide und ökumenische Kirche, die im Pfarramt – und nicht im immer mehr aufgewerteten, gleichwohl kostengünstigeren Ehrenamt – ihren Schlüsselberuf hat. Dieser Schlüsselberuf hängt für Eckert wesentlich mit der akademischen Bildung des Pfarrnachwuchses zusammen. Auch und vor allem dafür ist seines Erachtens die Reformation eingetreten, und Eckert möchte an dieser protestantischen Erfolgsgeschichte festhalten, dass Bildung und Religion zusammengehören.
Es ist schwierig, auch nur ein vorläufiges Fazit zu ziehen. Zum einen ist unklar, wie repräsentativ gegenwärtig diese sich publizis­tisch niederschlagenden Voten und Äußerungen sind. Zum anderen dürften gewichtige Veröffentlichungen, Auseinandersetzungen und Debatten, die in Zukunft eine Einordnung des Reformationsjubiläums 2017 erlauben werden, noch ausstehen. Doch drei Einsichten, die untereinander nicht spannungsfrei sind, liegen m. E. nahe. Erstens treten akademische Theologien und tendenziell auch kirchenleitende Stellen mit einem Problembewusstsein auf, das viel Verständnis für – besonders: moderate – Transformationsprozesse des Protestantischen aufbietet. Zweitens gibt es offenbar in bestimmten Kreisen der Gemeindefrömmigkeit einen Hang, die Ursprünge der eigenen Tradition mit einem gegenständlichen, worthaften und institutionalisierten Verständnis des Protestantismus zu verbinden und sichern zu wollen. Und drittens kann ein gegenwartsaktuelles Verständnis des Protestantismus nur dann gewonnen werden, wenn seine heilsame Selbstrelativierung zu­gunsten einer dynamischen Weltfrömmigkeit neu artikuliert wird, und zwar so, dass zentrale Phänomene unserer Lebenswelt protestantisch gleichsam nachbuchstabiert werden. Das schließt eine Selbstkritik und Rekonstruktionsarbeit ein, die sich an Leitbegriffen wie »Freiheit«, »Gewissen«, »Anerkennung«, »Person und Werk«, »Kreativität« usw. orientieren dürfte.