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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1118-1119

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wustmann, Markus

Titel/Untertitel:

»Vertrieben, aber nicht aus der Kirche«? Vertreibung und kirchliche Vertriebenenintegration in SBZ und DDR am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1945 bis 1966.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013. 690 S. = Geschichte und Politik in Sachsen, 30. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-86583-770-7.

Rezensent:

Gerhard Lindemann

Mit der Leipziger historischen Dissertation von Markus Wustmann liegt am Beispiel der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens erstmals für den Protestantismus in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der frühen DDR eine gründliche Untersuchung über den Umgang mit Heimatvertriebenen in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor. Vor allem aufgrund der zeitlichen Streuung des breit recherchierten archivalischen Überlieferungsmaterials konzentriert sich W. auf die ersten Nachkriegsjahre bis 1952/53 (30).
In der SBZ und der späteren DDR wurde das Thema Vertreibung weitgehend tabuisiert. Bereits 1953 galten die seit 1945 im offiziellen Sprachgebrauch »Umsiedler« genannten Ostflüchtlinge als vollständig in die Gesellschaft integriert. Selbstorganisationsversuche und die Herausbildung einer eigenständigen öffentlichen Erinnerungskultur wurden verhindert (Kapitel I.1.b).
Im Herbst 1946 befanden sich in Sachsen ca. 450.000 heimatvertriebene Protestanten (15). Sie stammten überwiegend aus den altpreußischen Kirchenprovinzen Schlesien und Ostpreußen. Von dort brachten sie eine sich vom lutherischen Sachsen deutlich unterscheidende Religiosität und Spiritualität mit (98 f.). Das führte vielerorts zu einer deutlichen Vitalisierung des gottesdienstlichen Lebens (538). Die Frage ihrer kirchlichen Integration rückte erst ab 1947/48 in das Blickfeld der sächsischen Kirchenleitung. Dies hing zum einen mit der bisherigen Konzentration auf die innerkirchliche Neuordnung zusammen, zum anderen war bis dahin nicht klar gewesen, wie viele der Flüchtlinge tatsächlich in Sachsen bleiben würden. Zunächst ging es vorrangig um eine diakonische und seelsorgerliche Unterstützung sowie um die Betreuung auf Bahnhöfen und in Flüchtlingslagern (201–208). Eine große Rolle spielten auch Transferleistungen aus den Westzonen (Kirchliches Hilfswerk) und bis zu deren Untersagung seitens der DDR-Regierung 1950 vor allem ausländische westliche Sach- und Lebensmittelspenden (213–216).
Seelsorge, Gottesdienste und Andachten in den Flüchtlingslagern waren bis in das Frühjahr 1947 hinein staatlicherseits weitgehend möglich und auch erwünscht. Ab September 1947 erging deren Verbot in den sächsischen Durchgangs- und Quarantänelagern, ein offenbar in der SBZ einmaliger Vorgang, der überdies gegen die sächsische Landesverfassung verstieß. Ein wesentlicher Grund für diese Maßnahme dürfte in der Konkurrenz der kirchlichen Angebote zu dem von den SED-Lagerleitungen präsentierten politisch-kulturellen Programm zu sehen sein, überdies wollte man damit eine erste kirchliche Kontaktaufnahme mit den Vertriebenen verhindern bzw. verzögern (vgl. Kapitel II.1.d). Insgesamt liegt hiermit ein zusätzlicher Hinweis auf eine restriktivere Kirchenpolitik in Sachsen während der Besatzungszeit vor.
In der Flüchtlingshilfe engagierte sich auch das in Sachsen stark verwurzelte Gustav-Adolf-Werk. Einerseits befanden sich unter den Vertriebenen ehemalige von dem Verein betreute evangelische »Auslandsdeutsche«, zudem wurden Protestanten auch in mehrheitlich katholisch bewohnten Orten in der Oberlausitz angesiedelt. Überdies galten die Flüchtlinge nun als »wandernde Diaspora« (Kapitel II.1.d).
Ungefähr zeitgleich mit der Übernahme des Bischofsamtes durch Hugo Hahn, der als Baltendeutscher und 1938 aus Sachsen ausgewiesener Geistlicher der Bekennenden Kirche für die Probleme und Anliegen der Vertriebenen ein besonderes Gespür gehabt haben dürfte, und als Gewissheit über die Zahl der in Sachsen verbliebenen Flüchtlinge bestand sowie die materielle Nothilfe eingespielt war, erfolgte im Herbst 1947 eine Institutionalisierung der nun Umsiedlerseelsorge genannten landeskirchlichen Vertriebenenarbeit. Pro Kirchenbezirk war seit 1948 ein Pfarrer, zumeist selbst aus den ehemaligen Ostgebieten stammend, beratend und unterstützend »für die Umsiedlerfrage« zuständig, zu­dem wurden »Hilfsfürsorgerinnen« eingestellt und mit dem in der Landeskirche tief verwurzelten und gut vernetzten Bischofswerdaer Pfarrer Rudolf Heinze wurde im Dezember 1947 ein nebenamtlicher Landespfarrer ernannt, der selbst kein Vertriebener war. Die Arbeit stand nun unter der Zielsetzung einer Integration und Beheimatung der Flüchtlinge in den sächsischen Gemeinden. Zugleich sollte den einheimischen Chris­ten deutlich werden, dass die in den Ostgebieten kirchlich Sozialisierten nicht nur im spirituellen Bereich eine Bereicherung darstellten. Ziel war ein »Zusammenwachsen« beider Gruppen.
Zu einer festen Größe sollten meist vierteljährliche Nebengottesdienste nach der altpreußischen Liturgie werden. Diese wurden im Allgemeinen von sogenannten Ostgeistlichen gehalten. Im Unterschied zu Westdeutschland verzichtete man auf eine landsmannschaftliche Aufgliederung. Diese Entscheidung war nicht nur politisch motiviert, sondern hing auch mit dem in Sachsen verfolgten integrativen Ansatz zusammen. Wie auch in anderen deutschen Landeskirchen löste in den 1950er Jahren eine stärkere Fokussierung der Arbeit auf eine Traditionspflege des kulturhistorischen Erbes der Ostkirchen die zuvor notwendige akute Krisenbewältigung mehr und mehr ab (Kapitel II.2). W. kann plausibel machen, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit schließlich zu einem Assimilationsprozess der Vertriebenen in das sächsische Luthertum kam, wenngleich dieser bisweilen mit »einem gewissen inneren Rückzug« einherging (545 f.). Überdurchschnittlich viele Flüchtlinge schlossen sich zudem vor allem zeitweilig einigen Freikirchen und religiösen Sondergemeinschaften oder deren Umfeld an, jedoch handelte es sich dabei innerhalb der Gruppe der Vertriebenen nur um eine Minderheit (Kapitel III.3.b).
Gegenüber den zumeist aus der Altpreußischen Union (APU) stammenden »Ostpfarrern« gab es in der Landeskirche auch Vorbehalte aus konfessionellen Gründen (482). Vermutlich waren sie partiell verbunden mit gewissen antipreußischen Ressentiments. Den »Ostgeistlichen« wurde der Be­such eines »Sonderkurses« auferlegt, der über »die Wichtigkeit des unveränderten lutherischen Bekenntnisses« informierte, allerdings wurde, abweichend von einer bisherigen, nicht nur sächsischen Gepflogenheit, auf Übernahmekolloquia oder -prüfungen verzichtet (483.485), jedoch auf der Verpflichtung der künftigen sächsischen Pfarrer auf Bekenntnis und Ordnung der Landeskirche insistiert (485 f.). Bereits 1946 erfolgte finanziell eine weitgehende Gleichstellung mit den sächsischen Geistlichen (498 f.). Damit wollte man angesichts des Pfarrermangels wohl vor allem eine Abwanderung in die Westzonen verhindern (500). 1947 kam es dann auch zu ersten festen Übernahmen in den sächsischen Pfarrdienst; dieser Vorgang war 1950 und damit eher als in Landeskirchen ähnlicher Größe im Westen weitgehend abgeschlossen (507–511). Auch der Weg in leitende geistliche Ämter war in den beiden Folgejahrzehnten möglich (531). Dennoch gab es eine deutliche Migrationstendenz in die vertrauteren unierten Landeskirchen, vor allem der APU, auch im Bereich der SBZ/DDR (502 f.) – 1955 war unter den dortigen Landeskirchen der sächsische Ostpfarreranteil mit 5,4 Prozent am geringsten (528 f.). Insofern bietet die Studie auch interessante Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen Luthertum und Union in den ersten Nachkriegsjahren.