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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1110–1112

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Buchna, Kristian

Titel/Untertitel:

Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2014. 613 S. = Historische Grundlagen der Moderne, 11: Historische Demokratieforschung. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-8487-1230-4.

Rezensent:

Martin Greschat

Beide großen Kirchen nahmen in der Zusammenbruchgesellschaft nicht nur ihre traditionellen pastoralen Aufgaben wahr, sondern ebenso vielfältige soziale, wirtschaftliche und nicht zuletzt politische, weil es keinen Staat gab. Sie wirkten auch als Ansprechpartner der Besatzungsmächte und verfügten schließlich, anders als sämtliche anderen Organisationen und Institutionen in Deutschland, durch den Vatikan bzw. die Genfer Ökumene über internationale Kontakte. Das bedeutete zweierlei: Einerseits profitierte die von der CDU/CSU gebildete Regierung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik von der geistigen und moralischen Nähe, Begleitung und Unterstützung der Kirchen. Doch andererseits waren die Politiker bestrebt, die von den Kirchen besetzten sozialen und politischen Positionen als ihre eigenen Aufgabenbereiche zurückzugewinnen. Da es sich hierbei keineswegs nur um Fragen der Macht handelte, sondern um Gewissensfragen und Themen tiefer religiöser Überzeugung, vollzog sich ein ausgesprochen komplexer und komplizierter Ablösungsprozess von der kirchlich-theologischen Dominanz hin zu einem begrenzten Primat der Politik. Diese Entwicklung lässt sich bis in die Mitte der 50er Jahre des 20. Jh.s verfolgen. Davon handelt die vorliegende Untersuchung.
Es liegt auf der Hand, dass sich ein solcher Prozess nur interkonfessionell beschreiben lässt, also im Blick auf die beiden großen Konfessionen. Geschickt konzentriert sich Kristian Buchna dabei auf die Verbindungsstellen beider Kirchen zu Regierung und Parlament in Bonn. Hier galt es einerseits, die jeweiligen kirchlich-konfessionellen Positionen zur Sprache und möglichst auch zur Durchsetzung zu bringen. Hier musste aber auch den politischen Realitäten Rechnung getragen werden. Schließlich zeigte sich bald, dass die beiden Bevollmächtigten ihrer Kirche, also der Katholik Wilhelm Böhler und der Protestant Hermann Kunst, keineswegs nur kirchliche Funktionäre waren, sondern über beträchtliche, freilich konfessionsspezifisch begrenzte Freiräume der persönlichen Gestaltung verfügten.
Die Untersuchung dieser Vorgänge ist in fünf Teile gegliedert. Nach der Einleitung und Skizzierung des Forschungsstands (17–36) folgt in einem ersten großen Kapitel die ausführliche, materialgesättigte Beschreibung der Situation in Westdeutschland mitsamt den darin angelegten Weichenstellungen (37–229). Besonderes Gewicht kommt dabei der Person und Position Wilhelm Böhlers zu (76–194): Geprägt von jenem rheinischen Katholizismus, dem Bismarcks Kulturkampf das Gefühl der dauerhaften Bedrohung hinterlassen hatte, wirkte Böhler seit den Anfängen der Weimarer Republik so unermüdlich wie intensiv für die Durchsetzung der sozialen und kulturellen Überzeugungen seiner Kirche. Unverkennbar dachte und handelte Böhler als Integralist. Die Lehren und Ausprägungen des Katholizismus vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil bildeten für ihn unbedingte Forderungen an die Gesellschaft. Dabei war Böhler kirchlich hervorragend vernetzt und gleichzeitig ein vorzüglicher Organisator. Bereits in den Jahren der Weimarer Republik sprach man – bewundernd oder irritiert – vom »System Böhler«, wobei kirchliche Informationen und Weisungen mit der Demonstration von Massen der Gläubigen koordiniert wurden. Zu Kardinal Frings, dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz, unterhielt Böhler als Berater enge Beziehungen. Weniger schätzte Adenauer die ihm immer wieder vorgetragenen kirchlichen Auffassungen. Wesentlich für die hier behandelte Thematik resultiert daraus zweierlei: Zum einen gab es auf der protestantischen Seite niemanden, der auch nur entfernt in der Lage gewesen wäre, die Anfangsjahre der Bundesrepublik im Blick auf die kirchlichen katholischen Belange so zu begleiten, wie Wilhelm Böhler. Zum andern: Die in der Sekundärliteratur häufig geäußerte Meinung, dass sich in der Nachkriegszeit eine deutliche Annäherung der Konfessionen vollzogen habe, geht an der Wirklichkeit vorbei (220–229). Dagegen sprechen nicht nur die Überzeugungen und Aktionen Böhlers, sondern ebenso die päpstlichen Weisungen mitsamt den Stellungnahmen von Frings, die sich alle gegen ökumenische Bemühungen richteten.
Das zweite Kapitel behandelt die Gründung der Bonner kirchlichen Verbindungsstellen sowie deren leitende Persönlichkeiten, hier nun vor allem Hermann Kunst (230–347). Informativ und weitgehend neu ist vor allem die Darlegung seiner positiven Einstellung zu Hitler und zum Nationalsozialismus, die sich allerdings im Verlauf des Weltkriegs wandelte. Eine wichtige Rolle spielte Kunst neben seiner offiziellen Tätigkeit beim Transfer kirchlicher und staatlicher Gelder in die DDR. In der Bundesrepublik nahm er »als zunehmend unabhängig agierender Bevollmächtigter des Rates der EKD sowie als Evangelischer Militärbischof seit Ende der 1950er Jahre eine an Einfluss kaum zu überbietende Position innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland« ein (308).
Es folgt ein Abschnitt über das Wirken der kirchlichen Verbindungsstellen (348–394). Nachdrücklich bemühte sich Böhler weiter um die Durchsetzung der katholischen Leitgedanken in der CDU/ CSU und warnte vor der »Gefahr des Interkonfessionalismus« (370). Kunst dagegen unterhielt Kontakte zu sämtlichen Parteien. Faktisch gelang beiden jedoch immer wieder eine pragmatische Ko­operation. Hierbei wendet sich B. erneut gegen die Behauptung, deshalb habe in diesen Jahren in der Bundesrepublik eine Entkonfessionalisierung stattgefunden. Eher vom Gegenteil kann man sprechen, wenn man etwa auf die öffentlichen Verlautbarungen zum »Ochsenfurter Zwischenfall« oder die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel blickt. Allerdings lässt sich an diesem Beispiel auch erkennen, dass die in Bonn diskutierten Themen nicht automatisch diejenigen der evangelischen kirchlichen Basis waren. Auf die Anfrage der EKD bei den Landeskirchen nach den Auswirkungen des Mariendogmas in den Ge­meinden lauteten die Antworten einigermaßen ernüchternd, dass es dazu im Grunde nichts zu berichten gebe. Geklagt wurde allerdings über die gezielte katholische Personalpolitik und vor allem über das rigide Verhalten des Katholizismus bei konfessionsverschiedenen Ehen.
Die beiden folgenden Kapitel ziehen die bis dahin gewonnenen Einsichten chronologisch aus (395–451; 452–522). Einmal mehr werden Böhlers Konzentration auf die CDU/CSU und umgekehrt die Äquidistanz von Kunst zu allen Parteien belegt. Unverkennbar wuchsen seit der Mitte der 50er Jahre für beide die Schwierigkeiten, kirchliche Interessen zu vermitteln. Die Macht der Kirchen war kaum gewachsen, offenbar jedoch das Selbstbewusstsein der Politiker und die Sensibilität in der Öffentlichkeit für »Machtansprüche« der Kirchen, die zunehmend als unangemessen angesehen wurde n– z. B. im Blick auf die vor allem von der katholischen Seite proklamierten Relativierung der zivilen Trauung. Eine gewichtige Rolle spielte insgesamt der Proporz in der Personalpolitik. Das konnte, etwa bei der Frage der Konfession des Botschafters beim Vatikan, zu grotesken Verrenkungen führen. Aber solche Fragen bewegten unverkennbar noch Teile der Öffentlichkeit. Kunst wirkte in der Personalpolitik intensiv im Sinn seiner Kirche (473–479). Wie sich mit diesem Faktum seine mehrfach geäußerten Behauptungen vereinbaren lassen, es sei ihm niemals um »Konfessionsarithmetik« gegangen (478), wird leider nicht weiter erörtert.
Das knappe Resümee hebt noch einmal auf die Bedeutung des konfessionellen Faktors in der Bundesrepublik in der Zeit Ade-nauers ab (523–533). Handelte es sich deshalb um ein »klerikales Jahrzehnt«? B. versieht diese Überschrift, wie ich denke zu Recht, mit einem Fragezeichen. Sicherlich gab es vor allem von katholischer Seite manche Vorstöße in diese Richtung. Aber der interkonfessionelle Charakter der CDU/CSU und nicht zuletzt Konrad Adenauers Ablehnung des Klerikalismus belegen die klare Grenze solcher Intentionen. Das Fragezeichen in der Überschrift erscheint mir jedenfalls im positiven Sinn kennzeichnend für die gesamte Be­handlung des Themas. B. berichtet sehr ausführlich und stets quellennah. Er argumentiert differenziert und urteilt betont zu­rückhaltend. Auch insofern überzeugt diese Darstellung zur Ge­schichte der Bundesrepublik in den 50er Jahren des 20. Jh.s. Man kann dem Buch nur viele aufgeschlossene Leser wünschen.