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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1097–1099

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oliver, Isaac W.

Titel/Untertitel:

Torah Praxis After 70 CE. Reading Matthew and Luke-Acts as Jewish Texts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVI, 524 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 355. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-152723-4.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Bei dieser Arbeit von Isaac W. Oliver handelt es sich um eine von Gabriele Boccaccini (University of Michigan), einem renommierten Kenner des antiken Judentums (»Enoch Seminar«), betreute Dissertation. Sie wurde 2012 angenommen und nunmehr in überarbeiteter Form publiziert.
Die umfangreiche Studie, deren Ober- und Untertitel besser getauscht worden wären, um falsche Lesererwartungen zu vermeiden, scheint wesentlich durch den 2003 (nicht: 2007; so 2, Anm. 4) von A. H. Becker und A. Y. Reed herausgegebenen Aufsatzband »The Ways that Never Parted« inspiriert, der die Auffassung etablieren möchte, dass es in den ersten Jahrhunderten n. Chr. keine definitive Trennung zwischen Juden und Christen gegeben habe. Diese These, deren Reflexion womöglich mehr als eine Fußnote verdient hätte (4, Anm. 8), spiegelt sich in der Terminologie und im Ziel der Arbeit wider, die O. in der Einleitung ausführlich erläutert (1–41). Waren die »Christen« bis ins 4. Jh. Teil des facettenreichen antiken Judentums, müsse eine historische Untersuchung auf die Begriffe »Christ« und »Kirche« verzichten (16 f.). O. spricht stattdessen von »Jewish« bzw. »Gentile followers of Jesus« oder vom »Jesus movement«, einer Bewegung, die innerhalb des »Jewish realm« zu verorten sei (17, vgl. 39). Dieser weit gefasste Begriff von »Judentum« verlangt eine Klärung, wodurch es sich als Einheit erweist. O. erkennt das zentrale Element in der Observanz jener Tora-Gebote, die die »fundamental markers of Jewish identity« seien: Sabbat, Kaschrut und Beschneidung (9).
Damit ist die Basis für O.s Untersuchung von Matthäusevangelium und lukanischem Doppelwerk geschaffen. Weil unwahrscheinlich sei, dass diese Tora-kundigen Bücher von Nichtjuden geschrieben wurden (30 f.), will O. durch Analysen von Mt und Lk/Apg den positiven Nachweis führen, dass ihre Autoren den drei genannten »fundamental markers« des Judentums verpflichtet sind. Da dies im Fall des Mt bereits weitgehend anerkannt sei (23–25), gelte es vor allem zu zeigen, »that the writings of Luke-Acts are just as Jewish as Matthew’s gospel« (32) und nicht etwa das Werk eines »Heidenchristen« (vgl. 445 f.).
Die Einleitung mündet in eine Skizze des sich daraus ergebenden Arbeitsprogramms – Mt und Lk/Apg sollen hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber dem Sabbat (Kapitel 2–7: 45–237), den Speisegeboten (Kapitel 8–11: 241–398) und der Beschneidung (Kapitel 13: 401–438) untersucht werden – und in die Bekanntgabe des Resultats: Lk/Apg »affirm the observance of the Torah to the same degree as the gospel of Matthew« (39; vgl. 442). Die bereits nach jedem Kapitel zusammengefassten Einzelergebnisse werden in der abschließenden »Conclusion« (439–451) nochmals gebündelt und nun auf die Autoren Lukas und »his cousin Matthew« (449) hin zugespitzt: O. ist aufgrund der Fülle der zusammengetragenen Indizien überzeugt, »that both […] were born and raised Jewish«, »both observed the Torah and were of Jewish parentage« (448). Der letzte Absatz der Studie beginnt mit der Feststellung: »Luke the Gentile is dead« (450) – O. ist gewiss, durch seine Arbeit ein forschungsgeschichtliches Phantom zur Strecke gebracht zu haben.
Respektabel ist jedenfalls O.s Anliegen, den beiden Evangelisten historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (35–37) und sie von ideologischen Vorurteilen zu befreien, die er vor allem in der redaktionsgeschichtlichen Erklärung der Evangelien wahrzunehmen glaubt (18–22). So liest man O.s immens fleißige Detailuntersuchungen, auch wegen der breiten Hinzuziehung jüdischer Quellen und der sorgfältigen Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur (vgl. die umfangreichen Register 453–524), nicht ohne Gewinn. In der Summe seiner Textanalysen vermittelt er einen gründlichen Eindruck sowohl von den jüdischen Wurzeln des Matthäus als auch von Lukas’ hoher Wertschätzung der jüdischen Tradition – Punkte, mit denen er freilich kein Neuland betritt.
Diese Erträge überschattet jedoch, was O. für die Stärke seines Buches halten mag: die Leidenschaftlichkeit, mit der er seine Hauptthese vom geborenen jüdischen Autor Lukas verficht. Von Anbeginn an gibt es keinen Zweifel, dass er den Beweis dafür liefern werde. Diese Absicht steuert den Gang der Untersuchung (15), die schnell vertrauten Argumentationsmuster, die vielfachen Wiederholungen der immer gleichen Befunde – alles bewegt sich in einem unentrinnbaren Circulus vitiosus: Die Chance, ein anderer zu sein, hat Lukas nicht. Das färbt zwangsläufig auf die Einzeluntersuchungen ab, in denen die Urteile über Mt oft sicherer ausfallen als die über Lk/Apg. So wird man z. B. gern zustimmen, wenn O. aus Mt 24,20 – die endzeitlichen Bedrängnisse mögen die Betroffenen nicht im Winter oder am Sabbat (diff. Mk 13,18) zur Flucht nötige n– folgert, dass Matthäus die Sabbatweg-Halacha wichtig war (170–183), aber mit erheblicher Skepsis lesen, wenn O. aus der Verwendung des Begriffs »Sabbatweg« in Apg 1,12 (zur Angabe der Entfernung zwischen dem Ölberg und Jerusalem) erschließen möchte, dass Lukas vermutlich »avoided traveling on the Sabbath« (233).
Das Beispiel zeigt, dass O. sein methodologisches Vorgehen (33–36) noch gründlicher hätte bedenken sollen. Zu den Grundsätzen literaturwissenschaftlicher Interpretation, denen sich auch das von O. bevorzugte Verfahren des »composition criticism« (34) stellen muss, gehört, dass die Erzählwelt eines Werkes und die Haltungen ihrer Figuren nicht automatisch die Lebenswelt und die Überzeugungen ihres Autors widerspiegeln (vgl. 189–191). O. muss jedoch solche problematischen Rückschlüsse ziehen, da eine Tora-konforme Praxis speziell des Lukas kaum anders aufgewiesen werden kann. Dieses argumentative Problem lässt sich weder unter Hinweis darauf beseitigen, dass Mt und Lk/Apg Tora-Observanz nirgends ausdrücklich ablehnen (78.113.145 u. v. ö.), noch dadurch, dass ihre positiven Protagonisten durch vorbildliche Tora-Frömmigkeit charakterisiert werden (186.435.443.450). Denn dies ge­schieht nicht, um die Evangelisten als deren Nachahmer zu erweisen, sondern z. B., um die Gewalt, die Jesus usw. von ihren Gegnern erleiden, nach deren eigenen Maßstäben als Unrecht zu entlarven.
Geht es bei Mt und Lk/Apg vor allem um die theologische Reflexion des leidenden Christus, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Tora-Observanz in beiden Werken anders, als O. möchte. Er untersucht sie in Anknüpfung an die »Parting of the Ways«-Debatte als Identitätsmerkmal des antiken Judentums, zu dem auch die »Jesus-Bewegung« zu rechnen sei. Weil er sich bewusst ist, dass sich jüdische Identität nicht auf halachische Fragen reduzieren lässt (8–10), bleibt das unbefriedigend. Der von O. viel zitierte E. P. Sanders hat vorgeschlagen, nicht Einzelelemente, sondern die Struktur von Religionen zu beschreiben, um zu erkennen, was ihrem Selbstverständnis nach von zentraler Bedeutung ist, und, wie bekannt, zwischen Paulus und dem palästinischen Judentum grundsätzliche Unterschiede festgestellt. Die Zentralstellung des Christus prägt nicht minder das theologische Denken des Matthäus und Lukas, was notwendigerweise Konsequenzen für ihre Wahrnehmung der Tora hat. Es erscheint mir daher nicht möglich, doctrinal matters aus einer solchen Untersuchung heraushalten zu wollen (24, anders 395). Dass beide Evangelisten von heidnischen Konvertiten keine Tora-Observanz verlangen (169 u. ö.), wirft schließlich die von O. kaum behandelte Frage auf, warum eine angeblich innerjüdische Bewegung bei der Masse ihrer Mitglieder auf die Wahrung der jüdischen identity markers verzichten kann.
Dass Lukas ein gebürtiger Jude war, ist gewiss möglich, aber aus Lk/Apg nicht im strengen Sinne zu beweisen. O.s These basiert auf einem Eindruck (448), den er bei seiner selektiven Analyse des Doppelwerks gewonnen hat. Sie schließt keineswegs aus, dass Lukas z. B. ein der jüdischen Synagoge nahestehender gebildeter Heide war, wie er in Apg 10 und Lk 7 in freundlichsten Farben porträtiert wird.