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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1079–1080

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Wolff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 292 S. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 15. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-525-56943-6.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

In seiner Arbeit verfolgt Eberhard Wolff, der an der Universität Basel Kulturanthropologie unterrichtet, die Spuren jüdischer Ärzte im deutschen Sprachraum im Jahrhundert zwischen 1750 und 1850. Untersucht wird, ob und inwieweit im öffentlichen Wirken dieser Ärzte ihr (unter Umständen neuzeitlich gewandeltes) Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Nach einleitenden Ausführungen zur neueren Erforschung der kulturellen Wandlungsprozesse in der jüdischen Moderne und zu den entsprechenden Theoriekonzepten (»Assimilation«, »Akkulturation«, »jüdische Subkultur«, »hybride Identitäten«) folgt zunächst eine Analyse unterschiedlicher Ärztebiographien von Berliner Juden im untersuchten Zeitraum. Anschließend geht es um einen Streit zwischen dem Göttinger christlichen Medizinprofessor Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822) und seinem jüdischen Schüler, dem Arzt Joseph Jacob Gumbrecht (1772–1838), der zu den ersten jüdischen Privatdozenten auf deutschem Boden gehörte (109).
Inhalt der Auseinandersetzungen, die im Herbst des Jahres 1800 ausbrachen, waren Theorie und Praxis der Geburtshilfe. Auf diesem Spezialgebiet beider Ärzte befürwortete Osiander die verfügbaren medizinischen Techniken seiner Zeit, vor allem die »Zangenoperation«, während sein jüngerer Kollege dafür eintrat, die Geburt nach Möglichkeit dem Lauf der Natur zu überlassen (115). Abgesehen davon, dass Osiander sich in seinen öffentlichen Äußerungen in diesem Streit zu unfairen judenfeindlichen Polemiken hinreißen ließ, kann die Darstellung in diesem Kapitel aber nicht zeigen, inwieweit die Kontroverse bei Gumbrecht zur Herausbildung von Konturen einer neuzeitlich-jüdischen Identität führte. Sein Plädoyer für eine »Entbindungs wissenschaft« und gegen Osianders »Entbindungskunst« und auch seine Betonung der Bedeutung »praktischer Übungen« für die Studenten und angehenden Ärzte scheint nicht auf seine Lektüre und die Verarbeitung von Quellen der jüdischen Traditionsliteratur zurückzuführen zu sein.
Näher heran an im engeren Sinne »jüdische Themen« führen die Ausführungen im anschließenden Hauptkapitel des Bandes, die zunächst den Streit um den Scheintod und die Beerdigungsfristen im späten 18. Jh., sodann den Wandel des organisierten jüdischen Krankenbesuchswesens (Bikkur Cholim) und schließlich die öf­fentliche Auseinandersetzung um die Beschneidung in den Jahren 1830–1850 zum Gegenstand haben. In allen drei Fällen stand der Erhalt und die Fortführung etablierter und religionsrechtlich (halachisch) sanktionierter jüdischer Bräuche unter den Bedingungen der Moderne auf dem Spiel. Einleitend beschreibt der Vf. die »Scheintodfurcht« als »Ausdruck der verdrängten Irrationalitäten im damals säkularisierteren Umgang mit dem Tod« (169), die dem jüdischen Gebot, einen verstorbenen Juden nach Möglichkeit noch am Sterbetag zu beerdigen, in die Quere kam. Dieses Gesetz leitet der Talmud nach dem Schlussverfahren »a minore ad majus« aus Dtn 21,23 ab (166): Wenn bereits »der Gehenkte« nicht über Nacht am Galgen hängen bleiben, sondern alsbald bestattet werden soll, so hat diese Vorschrift auch für jeden unbescholtenen Bürger zu gelten. Bei der Umsetzung dieser Norm im späten 18. Jh. handelte es sich um einen echten Interessenkonflikt zwischen traditionell-rabbinischen und modern-naturwissenschaftlichen Deutungsansprüchen im Hinblick auf das Verständnis des Sterbeprozesses und die Feststellung des menschlichen Todes; langfristig war eine Enthalachisierung/Entrabbinisierung und »Medikalisierung« des Diskurses die Folge. Nebenbei bemerkt haben halachische Diskussionen zur Frage der Bestimmung des Todes (Gehirntod), die an die damaligen Debatten anschließen, in den vergangenen Jahrzehnten im orthodoxen Judentum, vor allem in den USA, zu einer wahren Flut von Publikationen geführt, in denen es darum geht, religionsrechtliche Interpretationen zu finden, die observanten Juden die Transplantation von Organen und somit die Rettung von Menschenleben erlauben.
In anderer Weise aktuell sind die Ausführungen zur medizinischen Beschneidungsdebatte, die – anders als die Auseinandersetzung um die Entscheidung des Kölner Landgerichts vom Juni 2012, das die Beschneidung von minderjährigen Knaben ganz verboten hatte, sofern sie nicht aus medizinischen Gründen geboten war – hauptsächlich die von der Tradition vorgesehenen Details des Eingriffs zum Inhalt hatte. Die Reformer griffen hier besonders das im herkömmlichen Ritual vorgesehene Einreißen des inneren Lappens der nach der eigentlichen Beschneidung verbliebenen Vorhaut (hebr. »Peria«) sowie das Aussaugen der Wunde (hebr. »Meziza«) durch den Beschneider (Mohel) an, das sie für »nutzlos, ekelhaft und gefährlich […] für Beschneider und Kind« hielten (217). Besonders interessant sind hier die Argumentationsgänge der teilweise nicht nur medizinisch, sondern auch rabbinisch gebildeten Reformer, wenn sie etwa geltend machten, diese Einzelheiten des Rituals seien »lediglich talmudischen Ursprungs«, sie gingen also nicht auf die Bibel zurück, und die Meziza sei im Talmud nur »medizinisch und nicht rituell motiviert gewesen« (212), weshalb sie aufgrund neuerer hygienischer Erkenntnisse abzuschaffen sei. Andere Reformvorschläge liefen darauf hinaus, die Beschneidung auf einen späteren Lebensabschnitt des Kindes zu verschieben (215). Hier wie an anderer Stelle wird das Motiv wirksam, »das Judentum in diesen fraglichen Bereichen durch Uminterpretation kompatibel für die moderne Welt zu machen« (220).
Leider unterlässt es der Vf. an vielen Stellen, die Argumentationsstrategie der Reformer und ihrer orthodoxen Gegner, die vor allem in der (auch sonst auffällig vernachlässigten) zeitgenössischen Responsenliteratur ihren Niederschlag gefunden hat, genauer nachzuzeichnen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die religionsgesetzlichen Quellentexte (Talmud und halachische Kodizes), die von den involvierten medizinischen und rabbinischen Gelehrten ja in durchaus unterschiedlicher Art und Weise zur Geltung gebracht wurden. Gänzlich unverständlich ist das Fehlen von Registern, vor allem eines Namens- und eines Ortsregisters. Beides hätte das Buch zu einem nützlichen Werkzeug für die Weiterarbeit gemacht. Abgesehen von den angezeigten Mängeln ist diese in einem angenehmen und gut lesbaren Stil geschriebene Studie aber ein weiterer Beleg für die These, dass die Arbeit am Themenfeld »Juden/Judentum und Medizin«, zumal wenn sie – wie im hier vorliegenden Fall – interdisziplinär (historisch, medizingeschichtlich, volkskundlich/kulturwissenschaftlich) betrieben wird, aufregende und häufig auch für aktuelle Debatten relevante Erkenntnisse verspricht.