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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1075–1078

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schulte, Christoph

Titel/Untertitel:

Zimzum. Gott und Weltursprung.

Verlag:

Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2014. 501 S. m. Abb. Geb. EUR 35,00. ISBN 978-3-633-54263-5.

Rezensent:

Elke Morlok

In seinem Werk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen bemerkte Gershom Scholem, der Begründer der modernen Erforschung der jüdischen Mystik, zur Idee des Zimzum (Rückzug oder Selbstbeschränkung Gottes vor der Schöpfung): »Eine Geschichte dieser Idee von Luria bis auf unsere Tage wäre eine der faszinierendsten Darstellungen originell jüdischen, mystischen Denkens.« Christoph Schulte ist dieser Aufforderung in seiner umfassenden Arbeit nachgekommen und präsentiert dem Leser die faszinie-rende Geschichte, Entwicklung und Transformation dieser mystischen Konzeption in verschiedenen Epochen, Kontexten und Kulturen bis in unsere heutige Zeit. Dabei unterscheidet er in der Rezeption und Tradition dieser Idee zwischen direkter und indirekter, persönlicher und unpersönlicher, originalsprachlicher und übersetzter Überlieferung und stellt diese in den jeweiligen ge­schichtlichen, religionsgeschichtlichen, religiösen und kulturellen Kontext der jüdischen und christlichen Autoren, Literaten, Philosophen und Künstler.
Nach einer eingehenden Darstellung der Lebensgeschichte des Begründers der lurianischen Kabbala in Safed, Isaak Luria (1534–1572), beschreibt S. die Verschriftlichung und Verbreitung dieses »Mythos« bei den Hauptschülern Lurias in deren unterschied-lichen Ausprägungen der Idee. Dabei wird bei der Übersetzung der zentralen Passagen der Schüler Chajim Vital, Joseph Ibn Tabul, Israel Sarug und Moshe Jonah deutlich, wie Lurias Nachfolger differente Interpretationen des Gedankens vornahmen (real, metaphorisch, symbolisch) und wie komplex die Überlieferungsgeschichte der Werke bis zur Drucklegung der Schriften verlief und diese Vorstellung der Selbstbeschränkung Gottes vor oder bei der Schöpfung auch Einzug hielt bei christlichen Kabbalisten, Philosophen und Literaten in Europa. Besonders die Weiterführung der Idee bei Vital, der als Hauptschüler Lurias gilt, wird eingehend be­leuchtet, da sie die am weitesten verbreitete Version des Systems darstellte und auch Einfluss auf Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) nahm.
Im zweiten Kapitel zeichnet S. die Entwicklung dieser Denkfigur von der esoterischen Überlieferung innerhalb der kabbalistischen Strömungen bis zur exoterischen Verbreitung in Europa in der ersten Hälfte des 17. Jh.s nach. Sabbatai Sheftel Horowitzs graphische Darstellung in seinem Werk Shefa Tal (Fülle des Taus), Mena­chem Asaria Fanos allegorisches und metaphorisches Verständnis des Vorgangs im Sinne der vom Neuplatonismus geprägten italienischen Renaissance, Joseph Salomo Demegidos sprachtheoretische Überlegungen zum Zimzum, Naftali Bacharachs Ausführungen zum Malbush (Gewand) Gottes, Abraham Cohen de Herreras Zimzumim als auch Isaac Aboab de Fonsecas Bestärkung der metaphorischen Interpretation werden hier eingehend erklärt und auch für den nichtwissenschaftlichen Leser anschaulich dargestellt.
Im dritten Kapitel folgt nun der Übergang zur christlichen Kabbala im 17. und 18. Jh., die Übersetzung und Adaption der Gedankenwelt Lurias, wie sie sich vor allem in den zwei Bänden von Chris­tian Knorr von Rosenroths Kabbala Denudata (1677) vollzog, und deren fruchtbare Rezeptionsgeschichte aufgezeigt wird. Die Übertragung der Idee aus dem Hebräischen in die lateinische Sprache stellt den entscheidenden Schritt zur Adaption und Transformation des Gedankens in der weiteren geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas dar und findet in S.s Buch einen zentralen Platz. Auch wird besonders auf die Wirkungsgeschichte in Cambridge bei Henry More, Anne Conway, Joseph Raphson und Isaac Newton eingegangen, bevor mit Georg Wachters Der Spinozismus im Jüdenthumb (1699) ein öffentlicher Angriff gegen Spinoza, die Kabbala (mit besonderem Augenmerk auf Zimzum) und das Judentum im Allgemeinen mit dem Vorwurf des Atheismus beleuchtet wird. In dem Hallenser Philosophieprofessor und Theologen Johann Franz Budde (1667–1729) und Johann Jacob Bruckner (1696–1770) fanden die lurianischen Ideen einflussreiche Advokaten, die die Kabbala vom Vorwurf des Atheismus freizusprechen suchten. Friedrich Oetingers Adaption der Idee im Pietismus und Clemens Brentanos lyrische Wendung des Motivs bilden den Abschluss des dritten Kapitels, bevor sich S. in Kapitel 4 den Sabbatianern und Anti-Sabbatianern zuwendet.
Nach einer Einführung zu Sabbatai Zwi (1626–1676), dessen Propagandisten Nathan von Gaza (1643–1680) und einer historischen und geistesgeschichtlichen Verortung derselben erläutert S. die Weiterentwicklung der messianischen Komponenten bei Glückel von Hameln, Abraham Miguel Cardosos und Nechemia Chajon, welcher sich vor allem mit der Willkürlichkeit des Zimzum und dem Schöpfungswillen bzw. Vitalkraft in seinem Werk (»Macht für Gott«, 1713) auseinandersetzte. Die weitere Entwicklung des Zimzum in Livorno bei Joseph Ergas und Emmanuel Chai Ricchi und deren Ringen um eine metaphorisch-symbolische bzw. literarische-theistische Lesung der Idee Lurias schließen sich an. Moshe Chajim Luzzattos philosophische Erweiterung der lurianischen Kabbala in Richtung Spinoza und Leibniz wird danach erläutert. Vornehmlich die Frage nach der göttlichen Providenz und die teleologische Ausrichtung des Zimzum im Hinblick auf den Tikkun (Vollendung/Errettung/Erlösung) werden von Luzzatto diskutiert, welche dann in der Epoche der nachfolgenden Chassidim begeis­tert rezipiert wurden.
Die anthropologische und anthropomorphe Wendung findet nun im Chassidismus, im fünften Kapitel, statt, da nun die Idee der Selbstverschränkung auch auf den Menschen übertragen wird, indem er in einer Art Imitatio Dei sich selbst beschränkt oder gar »vernichtet«, um in der Praxis des Devekut (Anhaftung an Gott) eine individuelle Erlösung herbeizuführen. Vor allem Dov Beer von Mesritschs Auslegung der »Selbstvernichtung vor Gott« und Salomon Maimons Darstellung von dessen Hofhaltung kommen hier zur Sprache in einer Korrespondenz zwischen dem göttlichen Zimzum für Israel und dem menschlichen Zimzum als Selbstrücknahme und Entkleidung der Körperlichkeit der Zaddikim (Gerechte). Schneor Salman von Ljadi übertrug nun diese Möglichkeit von den wenigen Zaddikim auf die vielen und stellte die Devekut als Orthopraxie ins Zentrum seiner Lehre. Sein Zweig des Chassidismus, der Lubawitscher Chassidismus, gilt als populärste Strömung innerhalb dieser Entwicklung und stellt mit der »Chabad«-Bewegung eine der größten religiösen Gruppierungen des Judentums heute dar. Besondere Beachtung findet in diesem Kapitel vor allem Nachman von Bratslav und dessen Antwort auf die zunehmende jüdische Aufklärung (Haskala) in Osteuropa durch eine Interpretation des Zimzum als menschliche Erfahrung und die religiöse Haltung der Emuna (Glaube) als Gegenstück zur Vernunft. Der Gefahr eines ontologischen und ideologischen Atheismus, der sich aus der Struktur der Schöpfung generiert, stellt Nachman das Gebet als Überbrückung der Trennung zwischen Welt und Ejn Sof (Unendlichkeit), Beter und Gott gegenüber.
Kapitel sechs bietet eine eingehende Analyse der Idee im deutschen Idealismus und der Romantik, vor allem bei Friedrich Heinrich Jacobi, F. W. J. Schelling und Franz Joseph Molitor. Besonders die Behandlung von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 als auch der Entwürfe zu Die Weltalter von 1811, 1813 und 1813/14 zeigen die Weiterentwicklung der Vorstellung von der Kontraktion Gottes und seiner Expansion als dynamische Spannung auf, bei der vornehmlich der Akt der Selbstdifferenzierung des Absoluten und das Verhältnis von Gott und Natur bzw. Grund und Existenz auch in Hinblick auf Zeit und Trinität eingehend besprochen werden. Auch die Deduktion des Zimzum bei Molitor als »fortgesetzte Selbstnegation« Gottes und Negierung der unendlichen Positivität des Schöpfers in diesem Akt als creatio ex nihilo (Schöpfung aus Nichts) und creatio continua (fortwährende Schöpfung) werden hier ausführlich thematisiert und kontextualisiert.
Im siebenten Kapitel stellt S. das Phänomen in der Gedankenwelt der Haskala und der Wissenschaft des Judentums dar. Neben Isaak Satanow als dem ersten Druckleger von Vitals Ez Chajim (Baum des Lebens) 1782 in Koretz und Salomon Maimons Verneinung des Zimzum als creatio ex nihilo, Peter Beers Gesamtdarstellung der jüdischen Religionsgeschichte von 1822/23 und Adolphe Francks sowie Adolf Jellineks Verdiensten um die kabbalistische Literatur findet hier zum ersten Mal Isaak Misses mit seiner Darstellung und kritische Beleuchtung der jüdischen Geheimlehre (1862) Gehör, auf dessen Überblicksdarstellung zur Rezeption des Zimzum bereits Scholem in der Fußnote zum eingangs erwähnten Zitat hingewiesen hat, was aber bisher in der Forschung noch nicht aufgegriffen wurde. Die detaillierte Darstellung Misses’ der weiteren Rezeption vom ersten Zimzum als Akt ad intra und dem zweiten als einem Geschehen ad extra verdient besondere Aufmerksamkeit, wie auch Mordechai Teitelbaums Erörterung der Geschichte des Zimzum im Zusammenhang der Chabad-Bewegung in seinem Der Rabh von Ladi und sein Leben, Werke und System sowie die Geschichte der Sekte Chabad von 1910.
Das achte Kapitel zum 20. Jh. konzentriert sich vor allem auf die Rezeption und Darstellung der Idee bei Franz Rosenzweig, Ger-shom Scholem, Else Lasker-Schüler, Jehuda Ashlag, Hans Jonas’ Gottesbegriff nach Auschwitz, Isaac Bashevis Singer und den künstlerischen Darstellungen bei Barnett Newman sowie der Verwendung derselben als Trope bei Harold Bloom. Auch weitere, überaus interessante Verwendungen und Umsetzungen des Begriffs bei Ulla Berkéwicz, dem Maler und Objektkünstler Christoph Loos und dem prominenten Künstler der Gegenwart Anselm Kiefer stellt S. überaus anschaulich und auch für den Laien verständlich dar.
Seine abschließende Erörterung der Anthropologisierung des Zimzum in Hinblick auf eine Korrespondenz von göttlicher und menschlicher Selbstbeschränkung auch im Sinne von Marc Alain Quaknins »hebräischer Meditation«, Jürgen Moltmanns ökologischer Schöpfungslehre, Karl Barths Gedanken zum Völkerrecht oder Hans Jonas’ »ökologischem Imperativ« eröffnen das Feld für weitere Forschung auch in Hinblick auf soziologische, psychologische, politische oder kulturwissenschaftliche Untersuchungen.
Der Verdienst S.s liegt vor allem darin, dass hebräische und lateinische Quellen und deren komplexe Rezeptionsgeschichte zum ersten Mal im Überblick mit Übersetzung der relevanten Texte vorliegen und somit auch einem breiten Publikum zugänglich ge­macht werden. Der größte Wert des Buches liegt sicherlich in der Präsentation der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Die akribische Darstellung der unterschiedlichen Entwicklungen und Transformationen dieser faszinierenden Idee sowie die Erörterung und Kontextualisierung derselben im Spannungsfeld von creatio ex nihilo, Atheismus, Pantheismus und Raum-Zeit-Debatte machen dieses Buch zu einer kostbaren Lektüre nicht nur für Forscher und Studierende der jüdischen Mystik, sondern auch für Literaten, Künstler, Politologen, Sozialwissenschaftler, Psychologen und ganz allgemein Interessierte, die sich von der Idee der Selbstverschränkung Gottes und auch des Menschen faszinieren lassen, wie dies seit 400 Jahren geschieht.