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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1069–1070

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Edelman, Diana V., and Ehud Ben Zvi [Eds.]

Titel/Untertitel:

Remembering Biblical Figures in the Late Persian and Early Hellenistic Periods. Social Memory and Imagination.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. XXIV, 516 S. Geb. £ 85,00. ISBN 978-0-19-966416-0.

Rezensent:

Beate Ego

Der Band versammelt Beiträge verschiedener Autoren, die zeigen sollen, auf welche Art und Weise konkrete biblische Gestalten in der späten persischen und frühen hellenistischen Zeit als Erinnerungsfiguren dienten. Nach einer generellen Einführung in die Fragestellung und die vorgestellte Methodik (Diana V. Edelman, XI–XXIV) widmet sich zunächst der erste Teil des Werkes den »Ahnen« Abraham (Ehud Ben Zvi, 3–37), Jakob (Raik Heckl, 38–80), Mose als dem königlichen Gesetzgeber (Thomas C. Römer, 82–94), Aaron (Philippe Guillaume, 95–105) und Joshua (E. Axel Knauf, 106–130). Weitere Aufsätze beziehen sich auf verschiedene israelitische und ausländische Könige, wie Saul (Philip R. Davies, 131–141), David (Diana V. Edelman, 141–157), Salomo (Niels Peter Lemche, 158–181), Hiskija als einer Gestalt zwischen Realpolitik und »Hero of Faith« (Bob Becking, 182–199), Sanherib (Russell Hobson, 199–220), Manasseh (Lowell K. Handy, 221–235), Josiah (Joseph Blenkinsopp, 236–256), Nebukadnezar (Jonathan Stökl, 257–269), Nabonid (Carol A. Newsom, 270–282) und Cyros (Lynette Mitchell, 283–293). Nach Beiträgen zu Frauenfiguren wie Tamar (Yairah Amit, 295–305), Ruth (Athalya Brenner, 306–310) und Jezebel (Carey Walsh, 311–333) folgen in einem letzten großen Teil des Werkes Artikel zu verschiedenen Prophetengestalten – so zu Moses (Ehud Ben Zvi, 335–364), Jesaja (Ehud Ben Zvi, 365–383), Jeremia (Mark Leuchter, 384–414) und Ezekiel (Christophe Nihan, 415–449). Ein Aufsatz zur Methodologie von David H. Aaron, »Reflections on a Cognitive Theory of Culture and a Theory of Formalized Language for Late Biblical Studies« (451–474), rundet das Werk ab. Wie in der Einleitung dargelegt, diente die Arbeit von Ehud Ben Zvi zu Abraham als Erinnerungsfigur (»The Memory of Abraham«, 3–37; erstmals publiziert unter demselben Titel in: P. Carstens und N. P. Lemche [Eds.], The Reception and the Rememberance of Abraham, Piscataway, NJ 2011, 13–60) als Beispiel, das den einzelnen Autoren dieses Bandes zur Orientierung für ihre Arbeit dienen sollte. Nach Ehud Ben Zvi kann »social memory« (im Deutschen wohl am besten als »kollektives Gedächtnis« zu übersetzen) umschrieben werden als »the public, integrated, and socially integrative representation of the past that is held, shaped and negotiated within a social group, and which it holds together. Social memory is about the past that is constantly present within the community and about the present of the community that is legitimized by its past« (4). Ein solches Konzept biblischer memory studies unterscheidet sich – wie Diana V. Edelman in dem Vorwort dieses Bandes (XI–XXIV) darlegt, explizit von der herkömmlichen Traditionsgeschichte. Während diese prinzipiell sich auf alles beziehen kann, was in einer Gesellschaft weitergegeben wird, und hier keine Differenzierung des Materials vorgenommen wird, zeichnet sich der Ansatz der memory studies dadurch aus, dass hier – angeregt durch Forschungen aus der Soziologie, der Sozialanthropologie, der Psychologie und Politikwissenschaft – konkret danach gefragt wird, welchen Beitrag die Selektion bestimmter Traditionsinhalte und ihre Aktualisierung auf der Basis konkreter Erfahrungen für die Identität einer Gruppe leistet:
»The selected events are often told as stories and their memorialization is frequently reinforced by commemorative activities, though not always. These remembered events are deemed essential to the core identity of the group and are deliberately told and retold to and within the group to reinforce a sense of membership and belonging. While these memories or their understanding can evolve and change over time, as the historical circumstances and needs of the receiving group change, they still differ from tradition in their function as definers of what is held to be essential of a group’s identity in terms of a shared past as opposed to the known way to do something good to old stories.« (XXI)
Nicht unproblematisch ist freilich der methodische Ansatz des so-cial memory, wie er hier in der Einleitung durch Diana Edelman bzw. in dem »Musteraufsatz« von Ehud Ben Zvi vorgestellt wird. Ehud Ben Zvi konkretisiert den methodischen Ansatz am Beispiel der Abrahamsfigur dahingehend, dass davon ausgegangen werden kann, dass in der besagten Zeit der spätpersischen und frühhelle-nistischen Periode die Abrahamstraditionen der Hebräischen Bibel bereits in schriftlicher Form vorlagen; sie waren von Literati zusammengestellt worden und können gleichzeitig als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses in jener Zeit in Yehud gelten. Abraham wurde zusammen mit Isaak und Jakob als biologischer Ahn des Volkes erinnert. Insbesondere kommt dieser Figur aber eine zentrale Rolle zu, wenn es um den Anspruch auf den Besitz des Landes geht. Weitere wichtige Dimensionen der Abrahamsgestalt sind dessen Beziehung zu den Völkern, seine göttliche Erwählung, sein Gehorsam und seine Versuchung sowie sein Toragehorsam. Diese kurze Zusammenfassung markiert gleich mehrere Probleme des vorliegenden Ansatzes: Um den methodischen Ansatz der Herausgeber an konkreten Beispielen durchführen zu können, bedarf es theoretisch mehrerer Komponenten: die Kenntnis über den Umfang einer be­stimmten Tradition, die in einer bestimmten Epoche vorlag (das Traditum), die Kenntnis von Texten, die eindeutig zeigen, welche Bedeutungsdimension dieses Traditum in der be­sagten Epoche hatte, und schließlich das Wissen um die entsprechenden Trägerkreise und ihre Bedeutung für ihre Gesellschaft generell. In dem Moment, in dem eines dieser Elemente fehlt, läuft dieser methodische Ansatz Gefahr, in einem Zirkelschluss zu enden.
Der Beitrag Ehud Ben Zvis muss sich fragen lassen, aus welchen Quellen die Relevanz der Abrahamstraditionen für die konkret anvisierte Epoche genommen wird. Außerdem müsste erklärt werden, inwiefern gerade die Literati als Träger des kollektiven Ge­dächtnisses für die Bevölkerung von Yehud in Anspruch genommen werden können. Können diese a priori mit dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in Yehud gleichgesetzt werden? Ihre Relevanz für eine soziale Identitätsbildung ist ein Postulat, das mit den Trägerkreisen und den Rezipienten der Traditionen verbunden ist und vor diesem Hintergrund weiterer Untersuchungen bedarf. Ähnliche kritische Rückfragen an diesen methodischen Zugang werden z. B. in dem Beitrag von Niels Peter Lemche gestellt, und vor diesem Hintergrund überrascht es auch wenig, dass die verschiedenen Beiträge ihre Aufgabe nicht alle erwartungsgemäß erfüllen konnten (wie es Diana V. Edelman in ihrer Einleitung moniert, XIII).
Diese methodologischen Anfragen sollen den Wert des gesamten Bandes aber nicht generell infrage stellen. Der methodische Zu­gang des social memory als solchem erscheint mir für die Exegese generell insofern von großer Relevanz zu sein, da hier letztlich nach der existentiellen Bedeutung des Traditum für eine Gesellschaft – oder zumindest Teile einer Gesellschaft – in einer bestimmten Epoche gefragt wird.
Die verschiedenen Aufsätze, die hier nicht im Einzelnen referiert werden können, sind insofern interessant, da sie – je nach Quellenlage mit unterschiedlicher Absicherung – veranschaulichen, welches Potential an Bedeutungsdimensionen ältere biblische Traditionen in der anvisierten Epoche der spätpersischen bzw. frühjüdischen Zeit haben können. So ist den Herausgebern und den Beiträgern für ihre Mühe und den Anstoß für weitere Forschungsarbeiten zu dem weiten Feld »Exegese und kollektives Gedächtnis« zu danken.