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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1061–1062

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Franke, Edith [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Minderheiten und gesellschaftlicher Wandel.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. 252 S. m. 2 Abb. u. 3 Tab. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-10206-3.

Rezensent:

Kai Funkschmidt

Der Titel evoziert religiöse Minderheiten, die einen überproportionalen Einfluss auf zentrale gesellschaftliche Entwicklungen ausübten, etwa den jüdischen Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte, die Bedeutung der Hugenotten für den französischen Republikanismus oder das Wirken der Theosophie in der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Doch die hier versammelten Beiträge behandeln das Titelthema eher lose. Geographisch, zeitlich und thematisch weitgestreut geht es um allgemeine Themen im Zusammenhang religiöser Minderheiten. Der Aspekt des »gesellschaftlichen Wandels« ist als Eingrenzung zu unbestimmt, um einen roten Faden abzugeben. So bietet diese Dokumentation der Gründungstagung des Marburger Zentrums für Interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) im Jahr 2010 einen bunten Strauß aus verschiedenen Blickwinkeln: 18 Aufsätze, Themen aus neun Ländern, elf verschiedene Fachrichtungen, vertreten durch 21 Autoren. Das gender-mainstreaming-geschulte Auge bemerkt: nur acht Frauen. Der zweite Blick zeigt: Alle Autoren sind Lehrstuhlinhaber, die Autorinnen mehrheitlich Doktorandinnen u. Ä. Darin spiegelt sich eine veränderte Hochschullandschaft, in der die Zugangshürden (nicht nur zu Publikationsmöglichkeiten) für Männer niedriger sind als für Frauen. Aus der Zeit gefallen wirkt die nationale Verengung. Die Themen umfassen die halbe Welt, es kommen aber nur deutsche Autoren zu Wort.
Viele Beiträge des Bandes problematisieren das Konzept der »Minderheit« mit seinen gegenwärtigen Konnotationen »schützenswert« und »benachteiligt«. Tatsächlich ist der Begriff nur vordergründig klar. So war die britische Oberschicht eine Minderheit, verband damit aber das Selbstbild der Elite. Und was meint das »mehrheitlich christliche Europa«? Die Wendung könnte sich auf die von der Mehrheit praktizierte Religion, eine historische Kultur mit gegenwärtiger Prägekraft als Herkunftsangabe beziehen, die selbst dann bestünde, wenn die Mehrheit gar nicht mehr dazugehört.
Umgekehrt kann sich eine Mehrheit als bedroht empfinden, wie C. Werner an der iranischen Zwölfer-Shia zeigt. Deren im Vergleich zu den Nachbarländern und zu ihren eigenen Vorgängern restriktive Religionspolitik erkläre sich teils dadurch, dass sie bis zum 16. Jh. eine machtlose Minderheit war und die damit verbundene Unsicherheit auch nach der Machtübernahme bis heute tradierte.
Eine ähnliche Wirkung des historisch-kulturellen Gedächtnisses sieht J. Lauster in den »Minoritätsängsten von Majoritätsre-ligionen in Deutschland«. Das Christentum idealisiert seit dem Neuen Testament die eigenen Anfänge als Minderheit. Zwar er­langte es im 4. Jh. Zugang zur Macht, erlebte aber wenig später seine Auslöschung durch den Islam in seinen Kerngebieten von Nordafrika bis Zentralasien. Mit den kommunistischen Christenverfolgungen im 20. Jh. zeigt sich: Historisch muss das Christentum vor allem den Islam und den Atheismus fürchten. Und genau dies wirke, so Lauster, bis in jüngere kirchliche Stellungnahmen hinein. In ihnen drücke sich ein Absolutheitsanspruch aus und sie zögen »gegen einen religiösen Pluralismus ins Feld«, derweil doch die akademische Theologie Wege zeige, »individuelle Höchstgeltung mit einer relativierenden Außenperspektive auf die eigene Religion zu verbinden.«
J. Hanneders gut lesbarer Beitrag zum »Konzept der religiösen Minderheit im Hinduismus« fragt am Beispiel Indiens nach der transkulturellen Anwendbarkeit des Minderheitsbegriffs. Kann man unter der Denkvoraussetzung der Gleichheit aller Menschen eine kulturelle Realität, der dies fremd ist, überhaupt verstehen? In Indien verbindet sich individuelle »dogmatische« Lehrfreiheit mit einer sozialen Stratifizierung religiöser Gruppen (»Kasten« u. a.), die jeweils völlig unterschiedlich geordnet sein können. In einer Gesellschaft, die Identität als Gruppenzugehörigkeit und Religionszugehörigkeit eher als Orthopraxie denn als persönliches Bekenntnis bestimmt, entstehen leicht multiple religiöse Identitäten. Erst staatliche Maßnahmen (Zensus) brechen diese künstlich auf, was dann eine trügerische Ordnung vorspiegelt. Hanneder bringt eine Fremdheit zur Sprache, die auch für Ökumeniker erhellend sein dürfte, die im indischen Christentum z. B. der Vollmitgliedschaft von Ungetauften in lutherischen Kirchen und innerkirchlichen Kastenordnungen begegnen, die andernorts theologisch undenkbar wären.
Auch T. Noetzels Untersuchung der politischen Aktivität von Religionen zeigt, wie durch die Trennung von religiösen und kulturellen Markern in säkularen Gesellschaften geschehen kann, dass sich eine Mehrheit (der amerikanische Protestantismus) als Minderheit geriert, indem sie zur religiösen Selbstvergewisserung die eigene kulturelle Andersartigkeit betont. Dagegen suchen Ge­mein­schaften wie die deutschen Großkirchen umgekehrt durch Selbstsäkularisierung und die Vermeidung genuin religiöser Argumente am politischen Diskurs teilzunehmen, eine Haltung, die er »ironische Religion« nennt.
S. Fielitz versucht, katholische Sympathien Shakespeares in seinen Stücken nachzuweisen, was ihn mitten in die Religionskonflikte seiner Zeit stellen würde. Nach einer interessanten Zusammenfassung des Forschungsstandes bleiben aber die eigentlichen Textbelege eher schmal. Zahlreiche theologiegeschichtliche Ungenauigkeiten und Anachronismen zeigen zudem, wie notwendig interdisziplinäre Arbeit in Zeiten abnehmender religiöser Grundbildung ist (u. a. wird eine Bezugnahme auf die Lehre von der Auferstehung Jesu als katholisches Moment gedeutet).
Spannend sind W. Schröders Ausführungen zur Entwicklung des »Atheismus«. Die begriffsgeschichtliche (das A privativum im A-theismus als Mangelanzeige) und historische Vorgeschichte (bis ins 17. Jh. belegt kein einziges Dokument die explizite Leugnung der Existenz Gottes) prägen demnach implizit den Atheismusbegriff bis heute.
F. Dambacher/S. Murken beschreiben den deutschen Sektendiskurs durch »Großkirchen, Medien und Politik« als Übertreibung des Gefahrenpotentials einer religiösen Minderheit. Sie skizzieren damit zwar eine reale Wahrnehmungsverzerrung, beziehen sich aber überwiegend auf die Situation und Literatur vor 20 Jahren. Sie bemängeln, dass die Forschungsergebnisse einer »objektiven« und »wertneutralen« (sic!) Religionswissenschaft medial gezielt ignoriert würden.
Diese unkritische Selbstwahrnehmung wird durch U. Kelles methodologische Überlegungen zur »qualitativen Sozialforschung in fundamentalistischen religiösen Milieus« korrigiert. Gerade junge Forscher wollten sich oft inkognito bei Religionsgemeinschaften einschleichen. Dagegen fordert er, die szientistische Fiktion einer neutralen Sozialforschung aufzugeben. Vielmehr sei es notwendig, den betreffenden Gruppen die eigene religiös-weltanschauliche Position darlegen zu können und die daraus resultierende je verschiedene Kommunikationssituation in die Auswertung einzubeziehen.
Ebenfalls lesenswert sind W.-F. Schäufeles Vergleich der Situation der katholischen, reformierten und jüdischen Minderheit in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt und R. Ouaissas Analyse des Aufstiegs islamistischer Bewegungen zu politischen Parteien.